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Beim Großvater

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Lara genoss die Ausflüge zu ihrem Großvater. Er wohnte weit außerhalb der kleinen Stadt in einem hübschen Fachwerkhäuschen mit schwarz lackierten Balken. Entlang der Balken umrahmten gelbe Streifen die weiß verputzten Mauerstücke. An den Ecken waren bunte Schnitzereien an den Balken angebracht. Über der Haustür stand in ungelenken Lettern etwas, das Lara nicht entziffern konnte. Das Haus war aus dem 17. Jahrhundert oder so. Also schon ziemlich alt. Peter und sie hatten deshalb schon öfter vermutet, dass es darin spuken müsste. Bis jetzt hatten sie aber keinen Geist entdecken können.

Peter saß neben ihr im Auto. Die Weihnachtsferien hatten angefangen und er durfte heute mal wieder mit ihr mitfahren. Der Wagen bog in eine verwunschene kleine Straße ein, die von der breiten Landstraße rechtwinklig abzweigte. Laras Mutter drosselte die Geschwindigkeit. Über den holprigen und dazu auch noch verschneiten Weg konnte man nur im Schritttempo fahren. Sie fluchte leise vor sich hin, weil ihr Vater immer noch so weit draußen und dazu auch noch ohne richtige Straße wohnte.

Sie war in diesem Haus aufgewachsen, mochte es aber nicht besonders. Im Winter war es darin früher immer bitter kalt gewesen, da ihr Vater ständig vergaß, Holz zu machen. Eine Zentralheizung gab es damals noch nicht. Sie wurde erst später installiert. Ein Glück, ansonsten hätte sie ihre Tochter hier keine Stunde gelassen. Zumindest nicht im Winter.

Vorne sah man endlich das kleine Häuschen. Tannen standen ringsherum und trugen schwer an ihren Schneekappen. Manche Äste sahen bedrohlich überladen aus. Lara schaute aus dem Autofenster. Zwischen dem Geäst sah sie plötzlich zwei Gestalten. Ganz in schwarz gekleidet mit großen Kapuzen. Irgendwie kamen sie ihr bekannt vor. Die hatte sie doch schon mal gesehen! Lara zuckte zusammen. Sie erkannte sie wieder. Für einen kurzen Moment blickte sie zu Peter. Als sie den Kopf wieder drehte und nach draußen schaute, waren die Gestalten verschwunden. Ein Schauder lief ihr über den Rücken.

Das Auto kam vor dem Haus zum Stehen. Der Großvater öffnete die Haustür. Man sah ihm die Freude über die Ankunft seiner Besucher an. Für seine 75 Jahre hatte er sich gut gehalten. Er war immer noch ziemlich drahtig, ging aber schon etwas gebückt.

„Hallo!“ rief er den Ankommenden zu, noch ehe sie richtig ausgestiegen waren. Die Mutter begrüßte ihren Vater mit einer kurzen Umarmung, musste aber gleich weiter und übergab die beiden Kinder für den Rest des Tages ihrem Vater. „Ich bin um 18.00 Uhr wieder da. Benehmt Euch! Und viel Spaß!“

Schon saß sie wieder in ihrem Auto, das hier ziemlich deplatziert aussah. Langsam ruckelte sie leise fluchend wieder der Landstraße entgegen und verschwand hinter einer Biegung.

Lara strahlte. Sie war gern bei ihrem Großvater. Die beiden Gestalten hatte sie da schon wieder vergessen. Auch Peter freute sich. Er liebte es, durch den Wald zu streunen und allerlei Abenteuer zu erleben. Hier draußen merkte er von seinem Asthma nicht viel. Die Luft war rein und klar.

„Na, dann kommt mal herein, Ihr zwei beide. Ich hab schon mal eine heiße Schokolade fertig gemacht.“

Die beiden folgten dem alten Mann ins Wohnzimmer. Das war ziemlich klein, wie alles in diesem Haus. Die Decken waren ungewöhnlich niedrig. Der Großvater hatte erzählt, das sei so, weil die Leute früher kleiner waren und man kleine Räume außerdem besser heizen konnte. Er ging in die Küche und holte die dampfende Schokolade. Lara schaute sich um. Es sah alles noch aus wie immer. Darüber war sie sehr froh. Zu Hause räumte ihre Mutter ständig alles um. Sie liebte es, die Wände neu zu streichen, neue Gardinen aufzuhängen und die Möbel zu verstellen, wenn sie nicht gerade neue kaufen wollte, was zum Glück aus Geldmangel nur selten ging. Hier dagegen stand alles an seinem Platz, dort, wo es schon immer gestanden hatte.

„Na, erzählt mal, was habt Ihr denn in der letzten Zeit so erlebt?“ fragte der Großvater, während er die dampfende Schokolade vor den Kindern auf einen kleinen Holztisch stellte.

„Oh, wir waren im Museum“, erzählte Lara.

„Ja, und da haben wir einen Knonk getroffen“, legte Peter nach in Erwartung einer typischen Erwachsenenreaktion ob einer solchen Aussage.

Der Großvater zuckte zusammen. Er räusperte sich. „Einen Knonk“, wiederholte er ungläubig. „Seid Ihr sicher?“

Damit hatten die beiden Kinder nicht gerechnet.

„Wo ist er denn jetzt?“ fuhr der Großvater fort.

Peter und Lara schauten verdutzt. Einmal, weil der Großvater offensichtlich keine Anstalten machte, das Ganze für einen Kinderscherz zu halten, und zum anderen, weil der Knonk eben noch im Auto neben ihnen gesessen hatte, jetzt aber verschwunden war. Dann klopfte es. Der Großvater stand auf und ging in den Flur. Er öffnete die Tür und sah niemanden.

„Hallo!“

Er schaute nach unten. Und da stand er, der Knonk. Als dieser den Großvater erkannte, wechselten Freude und Ehrfurcht kontinuierlich auf seinem Gesicht ab. Die Königin hatte also mal wieder Recht gehabt. „Folge denen, die dich erkennen und Du wirst jemanden finden, der Dir helfen kann“, hatte sie gesagt. Und da stand dieser jemand schon vor ihm.

„Äh“, stieß der Großvater ziemlich verdutzt hervor. Dann fing er sich wieder und fügte hinzu: „Komm doch herein. Lange nicht mehr gesehen, was?“

Der Knonk schlüpfte ins Haus und schüttelte sich die Kälte aus den Gliedern. Schnell fand er seine Fassung wieder.

„Kalt ist es hier“, sagte er mit einem vorwurfsvollen Gesichtsaudruck.

„Komm, hier herein bitte, ins Wohnzimmer. Da ist es warm. Möchtest Du einen Kaffee?“

Der Knonk strahlte. Er liebte Kaffee. Leider gab es den in Coloranien nicht. Das letzte Mal, dass er einen Kaffee getrunken hatte… Ja, wann war das denn? Es musste eine Ewigkeit her sein. Der Großvater verschwand wieder in der Küche und der Knonk setzte sich neben Lara auf das helle Sofa.

„Wo warst Du denn?“ flüsterte sie vorwurfsvoll.

„Man wird ja wohl mal müssen dürfen. Das ganze Geschaukel in dieser Blechkiste, die ihr Auto nennt… Das geht ganz schön auf die Blase.“

„Ja, aber Du kannst doch auch im Bad auf die Toilette gehen“, erwiderte Peter mit gedämpfter Stimme.

Der Knonk schaute entnervt.

„So“, sagte der Großvater, als er zurück war, „jetzt erzählt mal alle der Reihe nach.“

Die Kinder schauten den Großvater ungläubig an. „Du kannst ihn sehen?“ fragte Lara.

„Ja, klar.“

„Aha.“ Peter staunte.

„Also, ich muss schon sagen, Du hast Dich ganz schön verändert, Raffael.“ Der Knonk schaute den Großvater prüfend an. „Alt bist Du geworden.“ Knonks waren in Coloranien für ihre Ehrlichkeit bekannt.

„Ja“, erwiderte dieser lachend, „jünger werd ich nicht mehr. Du siehst aus wie immer. Aber jetzt sag mal, warum bist Du in unsere Welt gekommen?“

Die Kinder schauten immer verwirrter zwischen den beiden hin und her. Es wirkte irgendwie grotesk, dass sich ein Erwachsener mit so etwas wie einem Knonk unterhielt.

Jetzt schaute der Knonk sehr ernst. „Die Weiße Königin schickt mich. Unsere Welt ist in Gefahr. Wir brauchen Deine Hilfe.“

Der Großvater strich sich nachdenklich über den weißen Bart. Er hatte nicht gedacht, dass er noch einmal jemanden aus Coloranien treffen würde, nach all dem, was damals passiert war.

„Äh, hallo“, unterbrach Lara die beiden, „könntet Ihr uns bitte mal einweihen?“ Die Kinder schauten die beiden fragend an.

„Ach so, ja natürlich“, hob der Großvater an, „also, vor langer Zeit, als ich ungefähr in Eurem Alter war, habe ich festgestellt, dass ich über eine bestimmte Gabe verfüge, die nur sehr Wenigen gegeben ist. Ich bin ein so genannter Sehender. Das sind Menschen, die zwischen Palidonien – das ist unsere Welt – und Coloranien – das ist die Welt, aus der der Knonk kommt – hin und her wechseln können.“

„Wie jetzt?“ warf Peter irritiert ein.

„Ja, äh… wie soll ich das jetzt erklären?“ Der Großvater schaute sich fragend um. „Was hat der Knonk Euch denn schon alles erzählt?“

„Fast nichts“, erwiderte Lara mit vorwurfsvollem Blick in Richtung Knonk. Peter nickte zustimmend.

Der Knonk wollte gerade schon wieder anfangen zu schimpfen, da hob der Großvater beschwichtigend seine Hand. „Mhm, also es ist so. Die Welt ist ein bisschen komplizierter, als man das in der Schule so lernt. Genau genommen gibt es nicht nur eine Welt, sondern viele. Und manche dieser Welten sind eng miteinander verbunden, während andere rein gar nichts miteinander zu tun haben. Es hat sich nun so ergeben, dass gerade unsere Welt und Coloranien besonders eng zusammenhängen, und zwar über die Farben. Die allermeisten Lebewesen in unserer Welt ahnen nichts von dieser Verbindung. Sie hat für ihr Leben keine Bedeutung. Es gibt aber Lebewesen, die zwischen beiden Welten hin- und herwechseln können. Diese Wesen werden Sehende genannt. Sehende stammen entweder von Sehenden ab – wie du Lara – und haben die Fähigkeiten geerbt oder es müssen einige Faktoren zusammenkommen – wie es bei Dir, Peter, offenbar der Fall ist. Man muss im Frühling oder Sommer geboren sein, idealer Weise im Mai oder August, und zwar auf einen Sonntag nach 18:00 Uhr…“

„Das ist wissenschaftlich widerlegt worden – das mit dem 18:00 Uhr“, warf der Knonk mit ernster Miene ein.

„Ja, gut“, fuhr der Großvater fort, „aber zumindest stimmen die anderen Punkte.“ Er schaute den Knonk fragend an. Der nickte bedeutungsschwer. Dann fuhr der Großvater fort. „Daneben gibt es wohl noch eine Reihe weiterer Aspekte, die aber jetzt zu weit führen würden. Auf alle Fälle sind solche Lebewesen – übrigens nicht nur Menschen, das können alle möglichen Geschöpfe sein – in der Lage, zwischen den Welten zu wechseln.“

„Einfach so?“ fragte Peter.

„Nein“, erwiderte der Großvater. „Nicht einfach so. Man muss schon ein Tor haben. Aber Sehende erkennen eben als einzige diese Tore und können sie aktivieren.“

„Und was sind das für Tore?“, Lara war ganz elektrisiert.

„Gemälde, meine Kleine, Gemälde.“

„Jedes Gemälde ist also ein Tor?“ Peter war verwirrt. Er atmete wieder schwer. Das Ganze war doch etwas zu aufregend für ihn. Verstohlen nahm er sein Asthmaspray aus der Hosentasche und setzte es sich an den Mund. Zwei Pumpstöße später war es wieder in der Hosentasche verschwunden.

„Nein, nicht jedes Gemälde. Nur ganz bestimmte, nämlich solche, die mit besonderen Pigmenten gemalt worden sind“, erklärte der Großvater.

„Was sind Pigmente?“ fragte Peter, nachdem er wieder zu Luft gekommen war.

„Farbpulver. Nur solche Bilder, die mit aktorisierter Farbe gemalt worden sind, können als Tore dienen…“

„Aktorisiert?“ Lara schwirrte langsam der Kopf.

„Das Aktorisieren ist eine bestimmte Zauberform“, warf der Knonk ein.

„Aha.“ Peter schüttelte ungläubig den Kopf.

Sonst waren es doch immer die Kinder, die den Erwachsenen wilde, erfundene Geschichten erzählten. Im Moment kam es ihm vor, als wäre es andersherum.

Der Großvater räusperte sich. „Vor vielen tausend Jahren hat Helis diese Form der Magie erfunden. Helis hat die sieben Farben des Regenbogens eingefangen und in Farbpulver gebannt. Ein Gemälde muss alle sieben Farben enthalten, damit es ein Tor wird. Außerdem heißt es, dass eine der sieben Farben viel stärker ist als die anderen und eine besondere Wirkung hat, weil Helis bei seiner Verzauberung den Zauberstab ein wenig zu heftig geschwungen hat. Aber das ist wohl eher eine Legende. Naja, Helis blieb das einzige Wesen in ganz Coloranien, das diese Zauberkunst beherrschte. Deshalb ist aktorisiertes Farbpulver so selten. Es stammt alles aus den sieben Farbpulverfässchen, die Helis damals verzaubert hat. Da Helis vor langer Zeit verschwunden und diese Art von Zauber somit verloren ist, wird das von Helis verzauberte Farbpulver das einzige bleiben, mit dem man Tore malen kann. Es wurde im Kristallpalast unter größten Sicherheitsmaßnahmen aufbewahrt.“

„Es wurde?“, warf Peter ein.

„Äh, ja, also… “, druckste der Großvater plötzlich herum.

„Du musst uns helfen“, warf der Knonk bestimmt ein. Er war schließlich nicht hierher geschickt worden, um Kindern eine Nachhilfestunde in Weltentheorie und Zauberkunst zu geben. Er durfte keine Zeit verlieren.

Der Großvater schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, mein alter Freund. Dafür bin ich wohl ein bisschen zu alt.“

Der Knonk blickte ihn entsetzt an. Seine Stimmung wurde schon wieder schlechter. „Das ist noch nicht alles, Raffael“, beeilte er sich zu sagen. „Die Große Prophezeiung hat sich entfaltet.“

„Wann?“ Jetzt schaute der Großvater entsetzt.

Lara und Peter blickten immer verwirrter zwischen dem Knonk und dem Großvater hin und her.

„Welche Prophezeiung denn?“ fragte Lara.

Der Großvater starrte nun sehr ernst ins Leere. Dann ließ er sich in seinem Ohrensessel nach hinten fallen und schnaufte leise. „Was sagt sie denn?“

Der Knonk kramte in seiner Hosentasche. Er konnte sich lange Texte nicht merken, also hatte er, da er geahnt hatte, dass es wichtig sein könnte, den Text der Prophezeiung auf einen kleinen Zettel übertragen. Er räusperte sich: „Also, ich zitiere: ‚Die Zeit ist gekommen. Nun entscheidet sich, ob die farbige Welt steht oder fällt und mit ihr beide Welten. Es liegt in aller Kreaturen Hand, dies zu bewirken, sei es zum Bösen oder zum Guten.’ Das ist alles.“

Lara wurde ungeduldig. „Hallo! Wovon sprecht Ihr?“

Der Großvater sah die beiden Kinder an. „Als Helis verschwand vor vielen Jahren, schickte das Sfanx-Orakel eine Prophezeiung an den Kristallpalast der Weißen Königin. Diese Prophezeiung war in einer gläsernen Rose eingelassen und nicht lesbar. Sie würde sich erst offenbaren, wenn die Zeit gekommen sei, so ließ das Orakel verlautbaren. Helis Verschwinden hat offenbar irgendetwas in Gang gesetzt, was die Grundfesten von Coloranien eines Tages erschüttern könnte. Wie es aussieht, ist dieser Tag nun gekommen. Und es scheint, als könne das Unheil nur abgewendet werden, wenn Kreaturen aus beiden Welten zusammenarbeiten.“

„Genau, und deshalb brauchen wir Dich. Wer sonst könnte uns denn bitte schön helfen?“ Der Knonk schaute den Großvater auffordernd an. Dieser schüttelte den Kopf.

„Tut mir leid, mein alter Freund, aber der Preis, den ich das letzte Mal zahlen musste, war zu hoch.“ Traurig starrte der Großvater auf den Boden.

„Wovon sprichst Du?“ Lara schaute ihn an.

Der Großvater schloss die Augen für einen Moment. Dann erwiderte er den Blick seiner Enkelin. „Du musst es ja irgendwann erfahren…“ Er setzte sich in seinem Sessel auf. „Vor einigen Jahren, als Du etwa zwei Jahre alt warst, schickte die Weiße Königin schon einmal den Knonk in unsere Welt.“ Der Knonk nickte wieder bedeutungsschwer. „Sie rief alle Sehenden zusammen. Dein Vater…“, der Großvater stockte.

„Was war mit meinem Vater?“ fragte Lara.

„Dein Vater…“, setzte der Großvater wieder an, „also, wie sich herausstellte, war Dein Vater auch ein Sehender. Er begleitete mich also zu dieser Zusammenkunft. Alle Sehenden waren der Bitte der Königin gefolgt und so trafen wir uns alle zum ersten Mal an einem geheimen Ort. Wir waren insgesamt sieben Sehende.“

„Mehr nicht?“ fragte Peter ungläubig.

„Nein, es gibt nur sehr wenige von uns.“

„Na, das ist aber dann komisch, dass jetzt schon drei hier zusammensitzen“, entgegnete Peter da.

„Naja, so komisch ist das gar nicht. Weißt Du, Peter, Sehende scheinen sich irgendwie anzuziehen, wie Magneten“, erklärte der Großvater und fuhr dann fort: „Nun, wir trafen uns also alle an diesem Ort. Die Weiße Königin berichtete, dass immer mehr Arquatusdrachen verschwinden würden.“

„Ar…was?“ Lara schaute fragend. Der Knonk verdrehte zum wiederholten Male die Augen.

„Arquatusdrachen“, wiederholte der Großvater. „Arquatusdrachen sind ganz besondere Drachen. Diese Drachen sind auf eine spezielle Weise mit Coloranien verbunden. Wenn sie verschwinden, ist das kein gutes Zeichen. Die Weiße Königin sorgte sich so sehr, dass sie die sieben aktorisierten Farben nicht mehr in Coloranien verwahren wollte. Sie hatte sie mitgebracht, damit wir Sehende sie in Palidonien verstecken konnten. Sie war gerade dabei, Deinem Vater die siebte Farbe zu reichen, da wurden wir plötzlich angegriffen…“

„Angegriffen?“ Peter verzog das Gesicht.

„Ja, völlig unvermittelt flogen Feuerbälle in unsere Mitte. Mit knapper Not konnte die Weiße Königin gerettet werden. Vor Schreck ließ ich die aktorisierte Farbe, die die Königin mir anvertraut hatte, stehen und rannte um mein Leben. Dein Vater lief dicht hinter mir aus dem Versammlungsgebäude. Ich lief, was das Zeug hielt. Als ich mich endlich umdrehte, sah ich Deinen Vater nicht mehr. Auch die anderen Sehenden waren mir nicht weiter gefolgt. Dafür hörte ich ein lautes Gekreische über meinem Kopf. Riesige Vögel, bunt wie Kanarienvögel mit einem langen Hals kreisten da und gaben laute Krähenschreie von sich. Sie mussten die anderen Sehenden gepackt und verschleppt haben. Ich rief nach Deinem Vater und suchte ihn tagelang. Doch ich fand ihn nicht. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Weißt Du, Lara, es gibt nicht nur gute Kreaturen in Coloranien. Es gibt auch sehr gefährliche. Und wenn man nicht aufpasst…“ Der Großvater stockte wieder. Er war jetzt ganz blass und sackte in seinem Sessel zusammen. Der Knonk nickte traurig.

Das war also damals geschehen. „Hast Du das Mama jemals erzählt?“ flüsterte Lara fragend mit stockender Stimme.

Der Großvater sah sie an und schüttelte den Kopf. „Das habe ich bis jetzt noch nie jemandem in dieser Welt erzählt. Deine Mutter hätte mich für verrückt erklärt. Sie glaubt, Dein Vater wäre beim Schwimmen im Meer verunglückt und vom Wasser fortgerissen worden.“

Lara blickte traurig zum Fenster. Dann war ihr Vater ja vielleicht tatsächlich noch am Leben, irgendwo in Coloranien. Und vielleicht könnte sie ihn dort dann auch noch finden…

Sie schaute hinaus. Da erschrak sie. Zwei dunkle Gestalten lugten durch das Fenster. Tiefe Falten durchfurchten ihr graues Antlitz, stechende Augen blickten sie direkt an. Lara zuckte zusammen.

„Was ist?“ Der Knonk drehte sich zum Fenster und sah sie auch. Instinktiv duckte er sich weg und rief laut: „Oh nein, Schattenspäher.“

Der Großvater sprang vom Sessel hoch. Seine 75 Jahre merkte man ihm gar nicht an. Er griff nach einem Gegenstand, der auf dem kleinen Tisch neben seinem Sessel lag und machte einen Satz zum Fenster, riss es auf und hielt den Gegenstand hoch. Die Kreaturen verzogen das Gesicht und lösten sich augenblicklich in Rauch auf.

Peter und Lara schauten ganz verdattert zum Fenster. Lara erkannte, dass es sich bei dem Gegenstand um einen kleinen Spiegel mit einem reich verzierten Griff handelte. Der Großvater sah die fragenden Kinderaugen.

„Das waren Schattenspäher“, erklärte er.

„Und wozu der Spiegel?“ fragte Lara.

„Diese Kreaturen ertragen es nicht, ihre eigene Boshaftigkeit im Spiegel zu sehen. Deshalb verschwinden sie, wenn sie in einen blicken müssen.“

„Das heißt, sie sind noch irgendwo da draußen?“ Peter gruselte es jetzt sehr.

„Ja“, antwortete der Knonk.

„Und was wird jetzt?“ Lara hatte das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weg glitt. Vor zwei Tagen war sie noch davon überzeugt gewesen, dass alles, was sie in Märchenbüchern las, bloße Erfindung war. Ein paar fixe Ideen, die sich irgendjemand irgendwann einmal ausgedacht hatte. Doch jetzt saß sie neben einem Knonk, erfuhr, dass ihr Vater ein Sehender und vor langer Zeit in einer Welt namens Coloranien verschwunden war, und musste sich vor Schattenspähern in Acht nehmen.

„Jetzt raff Dich auf und hilf uns!“ rief der Knonk da in die Stille nach dem Schreck und schaute den Großvater auffordernd an.

Da nickte dieser langsam. „Ich werde mitkommen.“

„Sag ich doch, das Schicksal hat mich schon aus gutem Grund zu Dir geführt.“ Der Knonk sah entgegen seines Naturells äußerst zufrieden aus.

„Naja“, warf Lara da ein, „genaugenommen hat es Dich zu mir geführt.“

„Was soll das denn jetzt!?“ Der Knonk schaute sie ernst an.

Der Großvater schüttelte den Kopf. „Nein, meine Kleine, das ist nichts für Dich.“

Da fing der Knonk plötzlich an rumzudrucksen. „Naja, wahrscheinlich hat sie recht.“

Der Großvater sah ihn böse an. „Nein, das geht nicht!“ rief er mit fester Stimme.

Es gefiel dem Knonk auch nicht, auf die Hilfe eines Kindes angewiesen zu sein. Aber irgendwie ahnte er, dass in dem kleinen Mädchen viel mehr steckte, als man auf den ersten Blick sehen konnte. Und so sagte er: „Ich denke, sie muss mitkommen.“

„Aber ohne Peter geht das nicht!“ warf Lara da ein. Peter schaute verdutzt. Das Atmen fiel ihm sichtlich schwerer. Er verzog das Gesicht.

Doch wenn Lara sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte man es da nicht mehr so leicht herausbekommen.

Der Großvater blickte sehr unglücklich drein. Doch auch er ahnte, dass der Knonk recht hatte.

„Na gut. Aber, mein lieber Knonk, versprich mir, dass Du mir helfen wirst, gut auf die beiden aufzupassen.“

„Beide?“ Peter fühlte sich ein wenig überrumpelt und schaute ängstlich.

Und dann fügte der alte Mann hinzu: „Dann schauen wir doch mal, ob ich das Tor noch habe.“

Schnaufend erhob er sich von seinem Sessel und stapfte in Richtung Treppe. Die anderen schauten ihm nach, ohne sich zu bewegen. Am Treppenabsatz, der sich direkt an das offene Wohnzimmer anschloss, drehte er sich um. „Na, was ist denn. Seid Ihr festgewachsen? Los geht’s!“ Er machte eine auffordernde Handbewegung. Da standen auch die anderen auf. Der Knonk hopste mit einem lauten Platsch vom Sofa auf den Holzboden. Sie stiegen die beiden Treppen, die unter jedem Schritt laut knarrten, hinauf bis ganz unters Dach. Der Großvater öffnete die Tür zur Dachkammer.

‚Hier bin ich ja noch nie gewesen’, dachte Lara. Es war ziemlich dunkel.

„Ach, Mist“, schimpfte der Großvater leise. „Wir brauchen eine Taschenlampe. Hier oben haben wir ja nie elektrisches Licht einbauen lassen.“ Er drehte sich um, und lief die Treppe wieder schnellen Schrittes herunter. Unten hörte man noch zwei weitere „Mist!“. Dann kam er wieder herauf. Diesmal etwas lauter schnaufend. In der Hand hatte er eine dicke Kerze.

„Ich hab vergessen, Batterien zu kaufen. Die Taschenlampe geht deshalb auch nicht“, grummelte er entschuldigend vor sich hin. Er drängelte sich an den drei anderen vorbei und ging voran in den dunklen Speicherraum.

Es roch muffig, nach Staub und Spinnweben. Das Kerzenlicht gab den Blick frei auf ein ziemliches Durcheinander. In der hinteren rechten Ecke befand sich eine große Kommode. Darauf stand ein Spiegel, der schon blind geworden war. Daneben lehnte ein zerlegtes Bettgestell an der Wand. Links stand ein großer schwarzer Schrank. Wahrscheinlich ein alter Wohnzimmerschrank. Auf der der Tür gegenüberliegenden Seite entdeckte Lara eine große Staffelei. Auf ihr stand irgendein Gemälde. Man konnte es aber nicht erkennen, es war von einem gelblichen Tuch vollständig bedeckt. Der Großvater steuerte auf die Staffelei zu.

Sieben Farben

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