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Whereat the withered flower, all content,

Died as they die whose days are innocent;

While he who questioned why the flower fell

Caught hold of God and saved his soul from Hell.

The Answer

Cameron

Verstohlen werfe ich Crys einen Seitenblick zu, als die Ampel gerade auf Rot schaltet. Ihr Kopf ist kaum merklich geneigt, und die offenen Haare verdecken die Sicht auf ihre Züge. Langsam wandern meine Augen tiefer. Ihr Kleid ist überraschend kurz. Nicht, dass mir der Anblick nicht gefallen würde.

»Du siehst mich an«, stellt Crys fest und wendet sich mir zu. Ihre Haare wellen sich über die Schultern. Zu gern würde ich mein Gesicht in ihrer Mähne vergraben und den Duft einatmen. Ihre Augen sind müde, trotzdem geht mir ein elektrischer Stoß durch Mark und Bein. Was ich für Crys empfinde, macht einen Idioten aus mir. Ich kann nur noch an sie denken. Das Gefühl ist neu. Ungewohnt. Zum ersten Mal seit langer Zeit bin ich verwundbar. Aber verdammt, ich liebe es so sehr.

»Sollte ich nicht?«, frage ich. Es wird Grün, ich gebe Gas. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sie mit den Schultern zuckt.

»Wo fahren wir überhaupt hin?« Ihre Stimme ist höflich, wie zuvor in der Küche – bis auf den Moment, als sie mich angeschrien hat.

»Ins Kino.« Wenigstens für diesen Abend will ich das Gefühl haben, wir wären zwei normale Teenager bei einem Date.

»Habe nicht gewusst, dass irgendwo auf der Welt noch Filme produziert werden. Wenn man von den ganzen kriegsverherrlichenden Streifen mal absieht.«

»Es gibt auch keine neugedrehten Filme mehr. Aber dieser wird für dich neu sein, da bin ich mir sicher.«

Wir sind an unserem Ziel angekommen, ein unscheinbares, kleines Kino, dessen Lichter die ganze Straße erleuchten. Ein paar Autos stehen vor der Tür, und ausgedrückte Zigaretten liegen auf dem Gehsteig herum.

Ich parke und ziehe den Autoschlüssel ab. Eigentlich gehört der Wagen Helena, aber sie hat Hausarrest. Schon wieder. Carter hat sie angeschrien, ihr den Schlüssel weggenommen und mir ausgehändigt. Ich bin mir sicher, sie ignoriert Carters nächtliche Ausgangssperre mit voller Absicht. Wie ich heute Abend.

Crys beugt sich vor, ihre Haare sind länger geworden in den letzten Monaten. Wie das ganze wunderbare Chaos, das sie eben ist, verändert sie sich stetig. Nur ich fühle mich, als wäre die Zeit für mich schon lange stehen geblieben. Das Einzige, was sich immer mal ändert, sind meine Kämpfe. Doch es bleiben Kämpfe. Immer, an jedem Tag meines Lebens, muss ich mich wehren. Und das ist verdammt nochmal mühsam.

»Ich war noch nie im Kino«, sagt sie und schnallt sich ab. »Dort, wo ich herkomme, gibt es so was nicht. Gab. Es gab so was nicht«, korrigiert sie sich. Sie seufzt leise und steigt aus, ihr Kleid ist etwas zerknittert.

Ich halte noch einen Moment inne und schüttle den Kopf. Am liebsten würde ich sie berühren, sie in meine Arme schließen und ihr versichern, dass alles gut werden wird. Dass ihr Leben jetzt erst richtig anfängt und dass sie nie, nie wieder einen Gedanken an ihr altes Leben vor und ihr Leiden in der Anstalt verschwenden muss. Ich will ihre Haare zurückstreichen und ihr ins Ohr flüstern, dass ich sie jeden Tag vermisse, auch wenn ich da bin. Weil es nicht mehr so ist, wie es zuvor war. Wie es im Wald war.

Aber kann es jemals wieder so sein?

Ich bin kein guter Mensch. Ich bin schlecht, und ich lüge. Ich lüge zu viel. Und das ist unverzeihlich. Dabei will ich gut sein. Nicht mal für die Welt. Auf die kann ich verzichten, weil sie mir alles genommen hat. Aber für Crys wäre ich gerne anständig. Ehrlich. Weil sie so jemanden verdient.

»Komm.« Nach dem Aussteigen reiche ich ihr die Hand. Etwas zögernd nimmt sie sie, und ich öffne ihr die Tür zum Kino. Das Licht ist unglaublich gelb, Zigarettenrauch steht dick in der Luft. Die Tapete rollt sich in den oberen Ecken von der Wand ab und ist ein wenig ausgeblichen, es sind nicht viele Leute hier. Ein paar Typen in unserem Alter stehen rauchend in einer Ecke und pfeifen, als Crys an ihnen vorbeigeht. Sie grinsen wie dämliche Vollidioten. Als ihr Blick auf mich fällt und ich finster zurückstarre, widmen sie sich schnellstens wieder ihren Zigaretten. Schützend lege ich einen Arm um Crys.

Sie sieht mich verwundert an. Ihre Augen glänzen, dieses Hellgrün lässt mich für einen Moment alles vergessen. Alle anderen Frauen sind nicht wichtig, Vivien ist nicht wichtig. Genauso wenig wie das, was ich tue und die Gefahren, die es mit sich bringt. Carter hat recht, Crys lenkt mich ab. Und wie.

»Zwei Mal bitte«, sage ich zu der Kartenverkäuferin, und sie schiebt mir die Karten entgegen, bevor sie das Geld nimmt, das ich ihr hinlege.

»Möchtest du Popcorn?«, frage ich Crys.

»Ich … weiß nicht?«

»Sag bloß, du hast noch nie Popcorn probiert?«

Sie zieht eine Augenbraue in die Höhe und sieht mich abschätzend an, wie sie es im Wald so oft getan hat. Sie öffnet den Mund, um mit Sicherheit einen sarkastischen Kommentar zu machen, doch ich komme ihr zuvor.

»Dann auch noch zwei Mal Popcorn bitte.« Eine Tüte reiche ich Crys, die an ihr schnuppernd wartet, bis ich gezahlt habe.

»Riecht lecker.«

»So wie ich?«, frage ich, ohne nachzudenken. Sie wirft mir einen kurzen Blick zu, ehe sie sich ein Popcorn in den Mund steckt, und sofort bereue ich, dass ich meine Klappe nicht gehalten habe.

»Komm, suchen wir unsere Plätze«, lenke ich von meiner Peinlichkeit ab und lege erneut den Arm um Crys, um den hungrigen Blicken der Typen etwas entgegenzusetzen. Ich kann nicht anders, als ein warnendes Knurren von mir zu geben.

»Was haben die denn so gestarrt?« Crys wirft einen Blick zurück, bevor wir den dunklen, kleinen Saal betreten.

»Ich sehe einfach zu gut aus. Man kann mir nicht widerstehen«, scherze ich, während ich mich auf meinen Platz fallen lasse.

»Klar doch.« Crys setzt sich neben mich.

»Du weißt es echt nicht, oder?« Wir sind noch allein im Saal, es ist finster. Ich kann Crys’ Gesichtszüge nur schwer erkennen, aber ihre Pupillen blitzen sogar in der Dunkelheit, als sie sich zu mir wendet, um mich anzusehen.

»Was?« Gerne würde ich sie für ihre süße Unwissenheit küssen und ihr klarmachen, welche Wirkung sie auf mich hat. Auch wenn sie mir wahrscheinlich nicht glauben würde.

»Du bist hübsch.« Ich schließe kurz die Augen. Was rede ich da? Carter will, dass ich mich von ihr fernhalte. Damit ich fokussiert bleibe. Aber wie soll ich mich von ihr abwenden, wenn ich sie eigentlich nur an mich ziehen will? »Verdammt, Crys, du … du bist wirklich schön. Und dieses Kleid …« Meine Stimme wird rau. »Es scheint nicht nur mir zu gefallen, wie du darin aussiehst.« Sondern auch den Idioten draußen. Es kostet all meine Willenskraft, meinen Blick nicht zu ihren schlanken Beinen wandern zu lassen. Oder zu ihrem Knie, das fast mein linkes berührt, als ich meine Knöchel nachlässig überkreuze.

Einen Moment ist es still, dann lacht Crys leise. Ich sehe, wie sie den Kopf schüttelt und den Blick abwendet. »Red’ keinen Quatsch.«

Langsam atme ich ein und hebe zögernd eine Hand, um ihr eine Haarsträhne über die Schulter zu streichen.

»Ich finde dich aber wunderschön. Weil du du bist und ich nicht genug von diesen Lippen kriegen kann.« Scheiße, konzentrier dich. »Das ist die Wahrheit. Du strahlst. Du hast nie damit aufgehört, auch nicht, als uns all diese schrecklichen Dinge passiert sind.«

»Auch Sternschnuppen erleuchten den Nachthimmel, Cam. Dabei sterben sie einfach nur gerade«, erwidert sie bitter und sieht nach vorne, ohne nochmal ein Wort zu sagen.

Nachdem ich eineinhalb Stunden eine Liebeskomödie über mich ergehen lasse, von der ich dachte, dass sie Crys aufheitern könnte, und bei der sie trotzdem kein einziges Mal gelacht hat, halte ich es nicht mehr aus. Als wir aus dem Kino gehen, nehme ich ihre Hand in meine. Erleichtert atme ich aus, als sie ihre Finger nicht wegzieht.

»Hat er dir gefallen?«, frage ich und streiche mit dem Daumen über ihren Handrücken. Ich halte Crys die Tür auf, damit sie auf den Beifahrersitz gleiten kann.

»Von mir aus könnte ich jeden Tag Popcorn essen.« Sie leckt sich über die Lippen, ehe sie sich räuspert. »Der Film war … nett. Danke, dass du mich eingeladen hast.« Sorgsam streicht sie ihr Kleid zurecht, ich schließe die Tür und setze mich selbst hinter das Lenkrad.

Ich spiele mit dem Autoschlüssel, aber irgendwie kann ich mich nicht dazu bringen, wieder zurückzufahren. Und vielleicht Carter zu begegnen, der früher oder später von meinem Regelverstoß Wind bekommen wird.

»Möchtest du nach Hause?«

Crys atmet einmal laut ein, den Blick starr nach vorne gerichtet. »Nein. Und du?«

Ich schüttle den Kopf und lege den Schlüssel auf das Armaturenbrett. Ich weiß nicht, wann wir das letzte Mal wirklich allein waren. Zusammen.

»Wie … wie bist du Mitglied des Requiems geworden?« Lieber wäre es mir gewesen, sie hätte mich etwas Einfacheres gefragt.

Ich verziehe den Mund. »Das ist eine lange Geschichte.«

»Ich denke, wir haben genug Zeit.« Nun sieht Crys mich an, endlich. Die Schatten unter ihren Augen werden von Tag zu Tag deutlicher, ich störe mich nicht daran. Doch irgendwie hatte ich erwartet, dass diese Müdigkeit verfliegen würde, sobald wir in Sicherheit sind.

»Ich kenne meinen Vater nicht, deshalb musste meine Mutter das Geld allein für uns verdienen. Sie arbeitete als Krankenschwester in der Stadt, damals hieß sie noch London. Meine Brüder sind sechs und vier Jahre älter als ich.«

»Sind sie auch beim Requiem? Habe ich sie schon gesehen?«

Mein Kiefer verkrampft sich, und ich schließe kurz die Augen, atme tief ein, bevor ich sie wieder öffne. »Ich weiß nicht, wo sie sind, um ehrlich zu sein. Als meine Mutter in das Kriegsgebiet versetzt wurde, hat meine Tante die Jungs in ein Internat gesteckt, und ich bin bei meinen Großeltern geblieben. Als sie im Sommer zurückkommen sollten, hieß es plötzlich, dass sie als Soldaten in Russland stationiert worden wären. Ohne Erfahrung. Ohne den geringsten Hauch einer Chance.«

»Denkst du … denkst du, dass sie …« Crys braucht den Satz nicht zu beenden.

Mein Schnauben erfüllt den Wagen. »Ich weiß absolut nichts.«

Crys drückt meine Hand. Ich hebe den Blick, und die Traurigkeit in ihrer Stimme bohrt mir in die Seele. »Ich weiß, was du meinst. Violet. Ich vermisse sie wahnsinnig. Ich würde gerne wissen, dass es ihr gutgeht. Dass sie ein normales Leben führt.«

»Du bist ihr weggenommen worden. Ihr Leben wird niemals normal sein«, erwidere ich sanft.

»Ich mache mir nichts vor, Cam. Nicht mehr.« Sie wendet den Blick ab und starrt aus dem Fenster. Das Glas reflektiert ihre Züge, die Augen sind zusammengezogen, als würde sie angestrengt über etwas nachdenken.

»Gefangen sein desillusioniert«, schließe ich, doch Crys schüttelt den Kopf.

»Nein. Freiheit desillusioniert. Die Anstalt war wie ein Schutzschild. Das Leben draußen hat ohne mich stattgefunden.«

»Willst du nicht hier sein?« Die Worte liegen schwer auf meiner Zunge.

Crys zieht zögernd ihre Finger zurück, und einen Moment sieht es aus, als wollte sie mich erneut berühren, doch dann faltet sie sie in ihrem Schoß zusammen.

»Doch. Aber …«

»Aber was?«

Schweigen.

»Aber was, Crys?« Meine Worte kommen härter als beabsichtigt, und sie zuckt zusammen.

»Ich bin nur von einen Käfig in den anderen gekommen«, platzt sie heraus, als hätte sie den Gedanken schon zu lange gehabt, um ihn jetzt noch zurückzuhalten.

»Ich habe dich gerettet.«

»Du hast mich in einen Käfig gesteckt, der größer als der letzte ist und goldene Gitterstäbe hat. Aber es ist immer noch ein Käfig.«

»Verdammt, Crys.« Mehr sage ich nicht. Versteht sie es denn nicht? Versteht sie nicht, dass …

»Was?«

»Sei froh, dass du lebst«, fahre ich sie an. Wut brandet in mir auf. Nicht Wut auf sie oder auf ihre Worte. »Du hättest tot sein können, du …« Meine Stimme verfängt sich. Ich wende mich zu ihr.

»Ich weiß, Cam, ich bin nicht undankbar. Wirklich nicht. Und ich bin froh, dass ich hier bin. Aber ich bin gefangen. Ich soll möglichst nicht nach draußen, ich werde immer auf den Schutz des Requiems angewiesen sein. Ich …« Sie schluckt, ihre müden Züge verhärten sich, und sie sieht auf einmal so viel älter aus. »Du bist nie da, Cam. Lass uns einfach nicht lügen, okay? Das im Wald waren nur Gefühlsausbrüche, erzeugt durch die Bedrohung des bevorstehenden Todes. Lass uns das einfach vergessen.«

Resolut. Einfach. Einschneidend.

Abrupt fahre ich zurück, meine Hände krallen sich an das Lenkrad. Bevor ich den Motor starte, um diesem Moment zu entfliehen, presse ich noch hervor: »Denkst du wirklich so?«

Nun bin ich wirklich wütend. Auf mich selbst. Ich war nicht da, und ich habe Crys nicht geholfen. Für mich ist es einfach, mich zu regenerieren. Ich habe gelernt, meine Scherben schnell aufzusammeln und mich beinahe schmerzlos wieder selbst zusammenzusetzen, aber Crys … Die Anstalt hat viel angerichtet und ich vielleicht noch mehr, indem ich nicht da war.

Crystal öffnet den Mund, schließt ihn wieder. Die Sekunde, bevor sie endgültig spricht, zieht sich beinahe ewig hin.

»Nein.« Es kommt sanft von ihren Lippen, wie ein müdes Eingeständnis.

Ich reiße meinen Blick von der Heckscheibe des geparkten Wagens vor uns los. Keinen Moment lang halte ich inne, sondern küsse sie stürmisch. Und sie küsst mich zurück. Wir holen nicht Luft.

***

Crys

Bitter, atemlos, unvorhergesehen. Dieser Kuss fühlt sich genauso an. Fast wie im Wald, auf der Flucht, auf der wir uns beinahe selbst verloren hätten. Nein. Warte. Langsam lösen sich meine Finger aus seinem Haar, ich rücke unmerklich von ihm ab. Meine Hand wandert von seinem Hals zu seiner Brust, ich drücke ihn weg von mir.

Ich habe mich verloren.

»Was …?«, flüstert Cam, die Stimme erstaunt, leise, rau.

Ehe er reagieren kann, trifft meine flache Hand schon seine Wange. Der Schlag ist nicht fest, aber dennoch heftig genug, um Cam aus der Fassung zu bringen. Oh Gott, ich habe ihn gerade geschlagen.

»Denkst du wirklich, ein Kuss kann alles wieder in Ordnung bringen?«, frage ich ihn aufgebracht. Die zuckersüße Lethargie fällt von mir ab, schenkt mir ein paar Minuten Leben, das sich in Rage verwandelt. Was bildet er sich überhaupt ein?

Cam legt seine Hand an sein stoppeliges Kinn, streicht über die Stelle, die ich getroffen habe. »Ähm … ja?« Er starrt mich an.

Ich starre eine Sekunde finster zurück, sein Blick ist fest, dann lasse ich mich mit einem Seufzen zurück in den Sitz sinken. Diesmal bin ich diejenige, die die Augen auf die Windschutzscheibe gerichtet hält.

»Du hast mich in Sicherheit gebracht, Cam, das weiß ich, und dafür bin ich dir dankbar. Aber du hast etwas ganz Wichtiges dabei vergessen.«

»Was?«, fragt Cam. Ich kann seinen Blick auf mir spüren. Ich versuche, die Tränen, die hinter meinen Augen stechen, so gut es geht zu ignorieren.

»Folgeschäden.« Ich fühle, wie sich in meinem Hals ein dicker, fester Knoten bildet, der mir die Luft zum Atmen nimmt.

»Crys«, fängt Cameron an, legt seine Hand auf meinen Arm, doch ich wische sie weg.

»Du bist abgehauen, Cameron. Du warst weg, als ich dich am meisten gebraucht habe!« Die Tränen fließen jetzt unaufhaltsam über meine Wangen, tropfen still auf mein Kleid und hinterlassen dunkelblaue Flecken. »Du hast mich fallengelassen, in eine andere Welt, in der ich mich nicht zurechtfinde. Und dann erwartest du, dass du einfach kommen und gehen kannst, wie du willst? Dass ein Kuss von dir wieder alles gut werden lässt?«

Cameron hebt erneut seine Hand, diesmal schüttle ich sie nicht ab, als er mich an der Schulter berührt. Nach einiger Zeit löse ich meinen Blick von der Welt draußen, die langsam in herabfallenden Regentropfen ertrinkt.

»Ich gehöre zum Requiem, und das Requiem gehört zu mir. Ich kann mir nicht aussuchen, wohin ich gehen muss. Aber ich konnte mir aussuchen, dass ich Teil davon sein möchte«, antwortet er leise.

Ich schlucke, halte mich nicht damit auf, die Tränen wegzuwischen. »Wirst du mir sagen, wohin sie dich schicken, wenn ich frage?« Meine Stimme zittert.

Cams Stimme ist fest. »Nein. Das kann ich nicht.«

Ich nicke, wende meine Augen wieder ab. Damit habe ich gerechnet. Ich kann ihn einfach nicht ansehen, wie er dasitzt, gutaussehend, echt, lebendig. »Je weniger ich weiß, desto besser, was?«, schniefe ich, wische mir endlich die Tränen aus den Augen.

Cameron seufzt, legt seine Hand auf meine. Ich starre unsere Finger an, die sich diesmal nicht miteinander verweben.

»Ich will diese Floskel nicht bestätigen, aber ja, genauso ist es. Es ist nur …«

»Zu meinem Besten. Schon klar. Ich weiß, wie das läuft, Cam. Denkst du, ich stelle deine Loyalität gegenüber dem Requiem infrage?« Ich schüttle den Kopf. »Du wirst dein ganzes Leben lang gefährliche Dinge tun, und ich werde hoffen, dass jedes Mal, wenn du gehst, nicht das letzte Mal sein wird, dass ich dich sehe. Das wird alles sein, was ich je im Leben haben werde.«

Cam atmet laut aus, ich sehe ihn an. Er fährt sich durch die Haare, fühlt sich unwohl in der Situation. Natürlich. Er hatte ja auch erwartet, dass ich ihm um den Hals falle, als wäre nichts gewesen. Um ehrlich zu sein – diese Möglichkeit wäre verlockend, hätte ich nicht noch meinen letzten Funken Selbstachtung gespürt.

»Das stimmt nicht. Es wird besser werden.« Obwohl er meinen Blick fest mit seinen dunklen Augen erwidert, glaube ich ihm nicht.

»Oh, das heißt, ich darf in fünfzig Jahren wieder rausgehen, ohne mich vor jedem in einer dunklen Ecke lauernden Schatten fürchten zu müssen?«

»Crys …« Zwischen Cams Augenbrauen bildet sich eine gequälte Falte. Ich lasse ihn nicht ausreden.

»Wir beide wissen sehr gut, dass in diesem Krieg alles passieren kann. Er kann morgen enden oder den Rest unseres Lebens dauern. Und wenn Letzteres der Fall sein sollte, will ich mich nicht andauernd verstecken müssen.«

Cam schüttelt den Kopf, spannt seine Kiefermuskeln an. »Nicht, wenn ich dich beschütze.«

Ich rolle mit den Augen. Meine Tränen sind versiegt, sind einer angespannten Nervosität gewichen. »Du kannst mich nicht beschützen, Cam! Nicht vor allem und jedem! Es sei denn, du willst mich im Keller des Fountains einsperren und anschließend die Tür zumauern.«

Cameron schüttelt heftig den Kopf, die Sterne in seinem Blick flackern auf. »Könntest du nur einmal nicht so verdammt sarkastisch sein? Nur ein einziges Mal?«, presst er zwischen seinen Zähnen hervor.

»Tut mir leid, es ist einfach nicht meine Art, dabei zuzusehen, wie das Leben an mir vorbeizieht. Jetzt, wo ich wieder eines haben könnte«, schnappe ich zurück.

»Und wem verdankst du das?«, herrscht Cameron mich plötzlich an. Ich zucke zusammen, seine laute Stimme füllt den Wagen. Er sieht mich an, jetzt so wutentbrannt wie schon lange nicht mehr. Ich erwidere seinen Blick ganz ruhig.

»Und hast du noch ein anderes Argument, das mich dazu verpflichtet, nur das zu tun, was du für richtig hältst?«

»Ich weiß, was gut für dich ist. Du nicht. Das ist das einzige Argument, das ich brauche.«

Ich verschränke meine Arme vor der Brust. »Und das zeigst du mir, indem du immer für mich da bist? Wach auf, Cam. Dein Heldenkomplex mag ja recht ehrenhaft sein, aber ich lasse mich nicht mehr einsperren. Weder von dir noch von Carter.«

Einen Augenblick sieht er mich noch an, Wut und Verschlossenheit zeichnen seinen Blick. Er versteht mich nicht. Dann startet er den Motor.

»Ich denke, wir sollten zurückfahren. Carter wird sowieso schon auf mich warten.«

»Sollten wir«, schließe ich und recke mein Kinn in die Höhe. Jede Sekunde des Nachhausewegs fällt es mir schwerer, die Tränen zurückzuhalten. Doch irgendwie schaffe ich es, ihnen erst freien Lauf zu lassen, als ich die Zimmertür hinter mir schließe.

Colours of Life 2: Rosengrau

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