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One grief on me is laid

Each day of every year,

Wherein no soul can aid,

Whereof no soul can hear.

The Most of It

Cameron


»Komm rein, Cam.«

Ich halte einen Augenblick inne, bevor ich eintrete und mich in den Sessel vor Carters Schreibtisch fallenlasse. »Ich würde ja sagen, es tut mir leid«, sage ich, während ich mich im Nacken kratze.

»Ich weiß«, erwidert er trocken. »Und wegen deiner Leidenschaft braucht dich das Requiem auch. Dumm nur, dass dich genau diese Charaktereigenschaft immer wieder in Schwierigkeiten bringt.«

Mein Mundwinkel zuckt vergnügt. »Hast du nicht vor der Anstalt gesagt, dass ich viel reifer geworden bin in letzter Zeit?« Ich verschränke meine Arme vor der Brust. Carter sieht mich an, in einem grauen Hemd und mit einer Brille auf der Nase. Irgendwie ist es ungewohnt, ihn nicht in Militärkleidung zu sehen, sondern eingepfercht hinter einem Schreibtisch, der viel zu klein für ihn scheint.

»Ich sage nicht, dass du aufhören musst, sie zu mögen. Ich verlange aber, dass du deinem Drang, bei ihr zu sein, nicht erliegst. Zumindest nicht, bis …«

Mal abgesehen davon, dass er meine Frage ignoriert, fängt er jetzt schon wieder damit an.

»Ich regle die Sache.« Unwillkürlich verkrampft sich mein Kiefer.

»Tust du immer, ich weiß. Nur wenn du dich nicht an unsere Regeln hältst, dann kann es sein, dass Karen ein Machtwort spricht. Sie ist impulsiv, genau wie du. Muss wohl in der Familie liegen«, murmelt er und schüttelt den Kopf, bevor er wieder spricht. »Jedenfalls wird sie es nicht gutheißen, wenn du dich nicht von Crystal fernhältst – zumindest für eine gewisse Zeit.«

»Jeff«, fange ich an, doch er schneidet mir abrupt das Wort ab.

»Ich werde Karen nichts bezüglich des heutigen Abends sagen. Aber sie hat recht, Cam. Crystal lenkt dich zu sehr ab. Wenn das alles vorbei ist und du deine Aufgaben erledigt hast, kannst du wieder tun und lassen, was du willst.«

Und wann soll das sein? Wann ist meine Aufgabe zu Ende? Ich wusste noch gar nicht, dass ich Karens Eigentum bin – obwohl ich in den letzten Jahren zunehmend das Gefühl hatte. Seit meine Brüder verschwunden sind, überwacht sie beinahe jeden meiner Schritte.

»Karen ist meine Tante, nicht meine Mutter. Und auch, wenn du dich wie mein Vater benimmst, bist du nur mein Onkel. Jedenfalls habt ihr beide kein Recht, euch in mein Privatleben einzumischen.« Mein Kiefer arbeitet.

Jeff seufzt. »Das Requiem wird beobachtet. Von oberster Stelle. Und wenn einer unserer Gönner glaubt, dass wir unsere Mission nicht erfüllen, dann haben wir ein Problem. Karen tut, was sie kann, um uns Spenden zu beschaffen.«

»Es geht ums Geld?« Er zuckt nicht einmal mit der Wimper, als ich ihn anblaffe. »Seit wann sind wir von irgendwelchen Politikern oder Geschäftsmännern abhängig?«

Ich starre Carter an, obwohl es ein Kampf ist, den ich nicht gewinnen kann.

»Seitdem wir ohne ihre finanzielle Zuwendung keinen unserer Leute irgendwo hinschicken können. Oder ausbilden. Karen tut, was sie kann, um uns Einfluss und genügend Kapital von den richtigen Leuten zu besorgen. Lobbying ist nicht einfach. Ich sorge dafür, dass bei den Schlachten, die wir schlagen, alles glatt läuft.« Sein langes Ausatmen ist das einzige Geräusch im Raum. »Hin und wieder denke ich, dass du unsere Arbeit hier hochstilisierst. Wir sind nicht die Guten, wir sind auch nicht die Bösen. Wir sind nur Menschen, die diesen Krieg hier so schnell wie möglich beenden wollen. Aber wir verwenden genau die gleichen Mittel wie die, die wir bekämpfen. Nur unser Handeln hat einen anderen Zweck.«

Hochstilisieren. Mein linker Mundwinkel zuckt. Diesmal nicht aus Belustigung. »Einen höchst ehrenwerten, was?«, spotte ich, obwohl ich weiß, dass ich es bereuen werde. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich Carter noch nie wütend gesehen. Er bleibt ruhig – wie immer.

»Du kannst auch austreten. Dann kannst du tun, was du willst. Du bist kein Gefangener, Cameron. Auch wenn du dich manchmal so fühlst. Aber wenn du wirklich gehen wolltest, hättest du das schon längst getan.«

Ich starre Carter lange an. Er hat recht, das weiß er. Ich weiß es auch. Und das ist das Beschissene an dieser Sache. Das Requiem ist meine Familie. Aber, scheiße, ich lasse mir nicht sagen, wen ich lieben soll und wen nicht.

Carter schüttelt kaum merklich seinen Kopf. »Wenn ich deinen Dickschädel nicht zur Vernunft bringen kann, dann wirst du über kurz oder lang selbst mit den Folgen klarkommen müssen.«

Ich stöhne laut auf, erhebe mich dann mit Schwung aus dem Stuhl. »Der Schreibtischjob steht dir nicht, Carter«, sage ich, als ich mich zum Gehen wende.

»Cameron?«

»Ja?« Ich drehe mich genervt um.

»Wenn du sie wirklich so sehr magst, wie ich vermute, dann sollte dir alles an ihrer Sicherheit liegen. Aber du bist selbstsüchtig, das hattest du deinen Brüdern voraus. Deshalb hast du wahrscheinlich bis jetzt überlebt.«

***

Crys

»Ihr werdet das schaffen«, sage ich, während ich über Lynns Arm streiche und mir ein Lächeln auf die Lippen zwinge. Nehmt mich mit, würde ich am liebsten sagen. Aber ich weiß, dass sie ohne mich besser dran sind.

»Das hoffe ich auch«, antwortet sie und tätschelt meine Hand. In ihren Augen sehe ich, dass sie mein Lächeln völlig enttarnt.

»Hast du alles dabei?« Shinji kommt in Lynns Zimmer, einen Rucksack über die Schulter gehängt. Ich weiß nicht, was er mit alles meint, doch bis jetzt hat sich in Lynns Rucksack auf ihrem Bett noch nicht viel außer ein paar Kleidungsstücken gesammelt.

»Fast«, sagt sie, und sie sieht ihn an, ein komischer, kurzer Blick, als wüssten sie etwas, das ich nicht weiß.

»Was ist der Plan?«, frage ich die beiden.

Shinji fährt sich durch die kurzen, schwarzen Haare und sieht mich mit ruhigen Augen an. »Irgendwie wieder nach China zu kommen. Ohne erwischt zu werden. Laut Carter soll es drüben ziemlich friedlich sein. Zumindest auf dem Land. Bis sich die Lage in der Stadt der Mitte beruhigt hat, bleiben wir bei meinen Eltern.«

Ich nicke, obwohl der Neid mich wie ein Blitzschlag durchfährt. Eltern. Ich werde meine wahrscheinlich nie wiedersehen. Ich schüttle die negativen Gedanken ab und umarme Lynn. Neptune ist zwar meine allgegenwärtige Begleitung, aber Lynn … Lynn und ich sind uns ähnlich. Zumindest halbwegs.

»Für Finn«, sage ich und drücke ein letztes Mal ihren Arm. Lynn nickt, ihre Augen glänzen, und einen Moment sieht sie mich fast bittend und zweifelnd an, als wollte sie eigentlich gar nicht weg von hier. Als hätte sie Angst. Doch dieser Moment dauert nur eine winzige Sekunde, dann ist sie wieder ganz ihr ausgeglichenes Selbst. »Pass auf dich auf, Crys. Lass dich nicht von deinen Feinden kriegen.«

Die Uhr über dem Kühlschrank tickt stetig auf die Sechs zu, eigentlich würde ich noch oder schon im Bett liegen, doch ich konnte einfach keinen Schlaf finden. Der Streit mit Cam liegt mir noch immer schwer im Magen. Ich habe mich gestern schon leergeweint, und bis auf ein hohles Gefühl in mir drinnen ist der Schmerz schon abgeflaut.

Ich hebe die Hand und will nach einem Joghurt greifen, auf dem ein Zettel mit der Aufschrift ›Finger weg, Crys! N.‹ klebt, als das Licht im Kühlschrank wild flackert, dann ganz ausfällt. Das ist schon der dritte Stromausfall, seit ich hier bin. Ich werfe die Kühlschranktür zu, taste mich im Dunkel an der Kücheninsel entlang, bis zur Tür und ins Esszimmer. Ich fluche leise, als mein Zeh gegen ein Tischbein stößt, und blinzle ein paar Mal, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen.

»Könnte mal jemand das verdammte Licht wieder anmachen? Danke!«, schallt es aus dem oberen Geschoss, ich zucke überrascht zusammen. Neptune knallt die Tür seines Zimmers zu, der Nachhall lässt das Geländer im Vorhaus erzittern.

»Schon dabei.« Mein Murmeln verliert sich in der Dunkelheit. Beim letzten Stromausfall waren Tyler und ich gerade in der Küche. Wo hatte er noch gleich die Taschenlampe her? Irgendwo bei der Rezeption müsste er sie hingelegt haben, wenn ich mich recht erinnere. Vorsichtig tapse ich in Richtung des Eingangs, bis ich in der Finsternis das langgezogene Pult ausmachen kann.

Mein Knie trifft schmerzhaft auf eine halboffene Lade unterhalb des Tisches, und ich ziehe erneut die Luft ein. »Das kann doch nicht … wo hat er sie nur?« Mit den Fingern taste ich über die schemenhaften Gegenstände, die überall herumliegen, doch es dauert eine Zeit, bis ich zwischen kleinen Paketen, Zetteln und anderem Zeug die Taschenlampe ertaste.

Ich knipse sie an und gehe in den Keller.

Es ist stockdunkel hier unten, mit dieser kleinen Lichtquelle nur wenig heller. Eigentlich sollte ich gar nicht hier unten sein. Das hat zumindest Tyler gesagt. Woher weiß er das? Da unten werden Akten gelagert, die fremde Personen nichts angehen, hat er gesagt und mich im Dunkeln stehen lassen, als ich ihm meine Hilfe angeboten habe. Mal davon abgesehen, dass er selbst nicht zum Requiem gehört, habe ich mir nicht viel dabei gedacht. Doch jetzt werden meine Augen immer größer, je weiter rauf der Lichtschein der Lampe wandert. Alte Kartons. Mit schwarzem Stift beschriftet. Dutzende. Die meisten von ihnen bereits eingestaubt.

Der Schaltkasten befindet sich so weit oben an der Wand neben der Tür, dass ich selbst auf Zehenspitzen kaum rankomme. Ich leuchte mit der Taschenlampe das Regal an und entschließe mich dazu, mich mit einem Fuß draufzustellen und dann nach dem Kasten zu angeln.

Mit einem Ruck schwingt die Tür auf, ich verliere das Gleichgewicht und falle zurück, kann mich gerade noch an dem Kasten festhalten. Mit dem Ellenbogen stoße ich ein paar Kisten nach unten, ein stechender Schmerz zuckt durch meinen Unterarm. Ich stöhne leise auf, taste dann nach dem Hauptschalter. Glücklicherweise habe ich die Taschenlampe nicht fallen gelassen.

Das Licht geht wieder an. Rasch hopse ich zurück auf den Boden, betrachte kurz meinen Arm, an dem sich schon jetzt ein blauer Fleck abzeichnet, und bücke mich dann, um die kleinen Kisten wieder einzuräumen, deren Inhalt sich über den staubigen Fliesenboden verteilt hat. Darauf bedacht, nicht allzu staubig zu werden, hocke ich mich hin.

Glücklicherweise ist von der größeren Kiste der Deckel nicht runtergefallen. Der Inhalt der kleineren, schmalen Schachtel aus Pappe liegt jedoch über den Boden verstreut. Ich schlucke.

Reisepässe. Zehn Stück. Meine Finger zittern, als ich den ersten in die Hand nehme und aufschlage.

Ich sollte das nicht tun.

Ich sollte mich wirklich aus den Angelegenheiten des Requiems raushalten.

Und dennoch gleitet mein Blick über den fettgedruckten Namen. Alexej Tarassow. Ich schlucke, meine Augen wandern von dem Namen zum Foto. Ein jüngerer Cameron blickt mir entgegen, starr, ernst. Ich muss nicht einige Seiten nach hinten blättern, um zu wissen, dass die Blätter voller Einreisestempel sind. Vorsichtig, beinahe andächtig, lege ich den Reisepass zurück in die Schachtel und greife zum nächsten. Mein Atem geht schneller. Tom Chevalier. Davide Vianello. Raphael Zimmermann. In jedem Pass finde ich einen anderen Namen, aber immer das gleiche Bild. Mir wird übel. Meine Finger zittern.

»Was tust du da?«

Ich halte den letzten Pass in den Händen, bringe es aber nicht zustande, ihn aufzuschlagen. Ich kann nicht anders, als Cameron zu ignorieren, der an der Treppe steht. Ich habe ihn nicht kommen hören. Wie ich hier sitze, mit all diesen unwahren Leben, wird mir bewusst, dass ich Cam nie gekannt habe.

Dass da so viel ist, was ich nicht weiß und nie wissen werde. Ich starre den Reisepass an, der genauso aussieht wie der, den ich habe. Auch in meinem ist ein erfundener Name, aber das hier … das übersteigt das Maß an Lügen, das ich zurzeit ertrage. Langsam schüttle ich den Kopf. Ich spüre, wie sich Tränen hinter meinen Augen ansammeln und presse meine Lider für einen Moment zu. Da sind sie wieder, die Tränen. Natürlich kann ich den Fluss an Emotionen nicht zurückhalten – ich mag eine Närrin sein, die Cam vertraut hat. Aber ich weiß, dass Gefühle stärker sind als jede selbsterrichtete Barriere.

»Wer bist du?«, flüstere ich. Meine Stimme ist dünn wie ein Blatt Papier – welche Antwort mir Cam auch gibt, sie wird die Worte auf meiner Zunge zerfallen lassen.

Cameron kommt auf mich zu, er trägt dasselbe T-Shirt wie bei unserem Date. Ohne eine Antwort nimmt er mir den letzten Reisepass aus der Hand, hält ihn vor mein Gesicht. »Das«, er lässt den Pass zu den anderen in die Schachtel fallen, »… jedenfalls nicht.«

»Wer dann?«

»Der, der mit dir im Wald ums Überleben gekämpft hat. Damals ist viel passiert.«

»Du meinst seitdem«, korrigiere ich ihn mit trockener Stimme.

»Uns ist viel zugestoßen.« Er blinzelt und legt den Kopf schief, ehe er in einem sanften Tonfall ergänzt: »Vielleicht zu viel.«

»Ich hatte keine Wahl, du hast dich für die Anstalt entschieden.«

Cams Mundwinkel zuckt, während seine Augen ausdruckslos bleiben. »Es tut mir leid, dass ich nicht für dich da war. Ich bin es gewohnt, immer wieder von Neuem damit zu beginnen, Kämpfe auszutragen. Ich gebe mein Bestes, um den Ansprüchen des Requiems gerecht zu werden. Aber meine Anstrengungen sind nicht genug. Weder für sie noch für dich.«

Er steht auf und stellt die zwei Schachteln mit Schwung wieder an ihren Platz zurück, dann sieht er auf mich herab, hält mir die Hand hin. Kurz zögere ich, dann ergreife ich sie und lasse mich von ihm auf die Beine ziehen.

»Da ist so viel, das ich nicht über dich weiß. Dein gesamtes Leben ist ein Geheimnis. Genau wie deine Zukunft.« Ich schüttle den Kopf und sehe auf seine Hand hinab, die meine noch immer nicht losgelassen hat. »Ein Geheimnis, das du mir nie anvertrauen werden wirst. Von dem ich nie ein Teil sein werde.«

Ich warte auf eine Antwort, doch ich kriege keine. Cam sieht nur auf mich herab, sein Blick gleichzeitig heiß und bedauernd. Er kann meine Zweifel nicht entkräften.

»Du bedeutest mir so viel«, flüstert er stattdessen.

Du mir auch, will ich sagen, doch stattdessen verlassen die Worte als »Ich brauche Zeit« meine Lippen.

Ohne einen weiteren Blick oder eine weitere Geste gehe ich durch die Tür, die Stufen nach oben, bis ich am Treppenabsatz des ersten Stocks beinahe mit Dr. Sanders kollidiere.

»Crystal, wohin so eilig? Hast du den Strom wieder angeschaltet?« Der hagere, weißhaarige Mann ist gerade auf dem Weg nach unten. Mein Blick schweift zu den Zimmern, die am Flur liegen. Für seinen regelmäßigen Besuch ist es viel zu früh. Er war also wieder bei Ace.

»Ja, habe ich.« Kurz zucken meine Augen zu seiner großen Arzttasche aus Leder.

»Danke, das ist nett. Geht es dir gut? Kannst du mittlerweile besser schlafen?«

»Ja«, sage ich abwesend.

»Nimmst du die Schlaftabletten noch?«

»Manchmal.«

Er nickt mir noch einmal zu, dann verziehe ich mich nach oben. Vielleicht finde ich etwas Schlaf, jetzt, wo alle anderen langsam wach werden.

***

Ace

All die Stimmen in meinem Kopf sind undurchdringlich, und dennoch höre ich ihre heraus. Das Morphium wirkt langsam. Dr. Sanders meint, die Schmerzen rühren von dem Stress, der sich während unserer Flucht aufgetürmt hat.

Ich bin mir da nicht so sicher. Langsam glaube ich, dass jeder Gedanke in dieser Welt scharfe Ecken hat. Ich kann nur warten, bis es aufhört. Bis dahin schwitze ich, leide ich, übergebe mich nach jedem Essen wieder. Jeder Blick in den Spiegel fühlt sich an, als würde ich eine Hülle aus Gewebe anstarren, die zufällig meine Gesichtszüge trägt.

Sie lügt. Sie lügt oft und glaubt, dass niemand hinter ihre Fassade sehen kann. Aber da irrt sie sich. In all diesen Momenten, in denen sich zufällig ihre Gedanken zwischen all jene drängen, die aus Erlebnissen und Geschehnissen unserer Flucht bestehen, herrscht plötzlich völlige Klarheit. Ich sage nicht, dass der Schmerz besser wird oder nachlässt. Aber wenn sie in der Nähe ist und ich ihre Gedankengänge belauschen kann, kann ich mich wieder konzentrieren. Ich kann dann entscheiden, dass ich nur ihre Stimme hören will und keine andere. Diese Sekunden sind selten für mich.

Ich liege auf dem Bett, eine unglaubliche Schwere drückt mich in die Matratze. Wenn ich mich bewegen würde – was ich nicht tue –, würde das Morphium-Pflaster an meiner Haut reißen, also bleibe ich liegen, genieße die Klarheit. Ich kann Crys hören, wie sie mit Willem spricht, ein Fluss aus Wörtern, der auf mich einströmt und an meiner Haut abperlt.

Der Doktor hat gemeint, ich soll an etwas anderes denken als an unsere Flucht. Versuchen, zu vergessen. Einfach leben. Aber wie kann man leben, wenn man schon einmal das Angesicht des Todes erblickt hat? Wie kann man je wieder ganz bei Sinnen sein?

Ich atme aus. Crys geht nach oben, zurück in ihr Zimmer. Ihre Gedanken verschwinden mit jedem Schritt. Die Schmerzen werden leichter, ich strecke mich, drehe mich auf die Seite. Der Schweißfilm auf meinem Rücken kollidiert mit der Kälte des Zimmers, und ich erschaudere. Wie kann mir gleichzeitig so kalt sein und so wahnsinnig heiß?

Meine Gedanken driften wieder weg von mir, werden überlagert von den Geräuschen in mir. Neptune träumt gerade seinen ständigen Wachtraum von einer besseren Zeit, von einem alten Leben, das er nie wieder zurückkriegen wird. Ich lausche seinen Gedanken lange. Carter ist bereits in seinem Büro und sehnt sich nach Kaffee. Cam verlässt gerade das Haus für einen kurzen Spaziergang. Er will Crys zurück.

Ich kenne dieses Gefühl. Ich kenne es nur zu gut. Tylers innerer Kampf überlagert langsam Neptunes ausklingenden Traum. Ich hasse es, Tyler zuhören zu müssen. Seine Gedanken schreien und sind wütend und halten sich in ihrem Hass nicht zurück. Es ist anstrengend. Die immer gleichen Tiraden aus Verleumdung ziehen Kreise und kommen trotzdem nie zurück an ihren Anfang. Ich lasse Tylers Gedanken über mich ergehen, bis auch er sich dazu zwingt, endlich aufzustehen.

Für einen kurzen Augenblick ist es still. Ich werde müde. Doch dann huschen weitere Wörter in meinen Kopf. So leise, dass ich zuerst glaube, mich verhört zu haben. Langsam wende ich meinen Kopf, um im Liegen aus dem Fenster zu sehen. Es ist noch stockdunkel, der Mond verschwindet langsam in den Schatten des Himmels. Crys kann nicht schlafen oder will es nicht. Ihre Gedanken werden kurz lauter, als sie nur wenige Meter von meinem Zimmer entfernt barfuß über die Treppen nach unten geht.

Und diese Gedanken sind genauso unschön wie die von Tyler – aber sie schreien nicht. Sie leiden still, hinterfragen sich selbst in einem Takt, der mich jedes Mal wieder in den Schlaf trägt. So ist es heute. Ihre Selbstzweifel drehen sich angenehm um sich selbst, ihre innere Stimme ist sanft und zaghaft und trotzdem zielgerichtet. Das Morphium wirkt. Ich drehe mich zurück auf den Rücken, beobachte, wie die Sonne aufgeht, und der Strom an Gedanken, der die meinen quert, versiegt erst, als meine Augen endgültig zufallen.

Colours of Life 2: Rosengrau

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