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All thought, all desires,

That are under the sun,

Are one with their fires,

As we also are one:

All matter, all spirit,

All fashion, all frame,

Receive and inherit

Their strength from the same.

In Neglect

Crys

Ich sollte es nicht tun. Ich habe gewartet, bis Cameron das Haus verlassen, bis Neptune sich wieder in sein Zimmer verzogen hat – bis absolute Stille herrscht.

Es ist keine gute Idee – denn es kann sein, dass mir die Wahrheit nicht gefällt.

Ich war noch nie hier oben. Cams Zimmer liegt unter dem Dachboden, und ich zögere nur kurz, als meine Hand den Türknauf berührt. Noch habe ich nicht daran gedacht, dass Cameron abgesperrt haben könnte. Doch meine aufkeimende Sorge ist unbegründet, als ich nach unten drücke und die Tür mit einem leisen Ächzen nach innen aufgeht.

Ich lasse den Knauf los, verharre einen Moment an der Türschwelle. Sollte ich umkehren? Wäre ich klug, würde ich wahrscheinlich auf dem Absatz kehrtmachen und mich wieder in meinem Bett verkriechen.

Aber wer hat gesagt, dass man immer nur kluge Dinge tun darf?

Der erste Schritt ist noch unsicher. Ich setze den zweiten Fuß in den Raum, ziehe die Tür hinter mir zu. Das Zimmer ist nur spärlich eingerichtet. Unter dem dreieckigen Fenster steht ein niedriges Bett mit blauer, zerwühlter Decke, links daneben ein Schreibtisch aus Holz, gleich neben der Tür zwei Schränke.

Ich trete näher an den Schreibtisch heran, schiebe den knarrenden Stuhl zu mir und setze mich. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Pläne vom Feindesland, einen Zettel mit irgendwelchen geheimen Infos? Außer ein paar Stiften findet sich nur noch das Bild einer braunhaarigen, schönen Frau auf dem Tisch, das in seinem schwarzen Holzrahmen mit einer feinen Schicht aus Staub überzogen ist.

Langsam strecke ich die Hand aus, doch ich ziehe sie zurück, bevor ich den Rahmen berühre. Zweifelsohne ist es Cams Mutter. Ich weiß es, ohne dass er ihr ähnlich sieht. Ihre blauen Augen sind so viel heller, als Cams jemals werden können.

Da ist etwas in ihrer Haltung, das sie verrät – ein gewisser Stolz. Und obwohl ihre Augen sanft sind und ihr Lächeln wehmütig, erkenne ich so viel von ihr in Cameron. Ich lehne mich im Stuhl zurück und sehe mich um. Irgendwie dachte ich, dass sein Zimmer mehr einem Zuhause ähneln würde, aber außer ein paar schlampig zusammengelegten Jeans und einer Jacke auf einem weiteren alten Stuhl neben dem Bett erkenne ich kein Zeichen von Heimeligkeit.

Was jedoch angenehm ist: Das ganze Zimmer riecht nach ihm. Ich ziehe genüsslich den Duft in die Lungen, bevor ich die Schubladen nacheinander öffne. In den ersten beiden liegen nur eine Taschenlampe, ein paar Gutscheine für einen Supermarkt und die zerknautschte Ausgabe eines Gedichtbands von Robert Frost.

Bei der letzten Schublade muss ich mit Kraft an dem Holz ziehen, da sie sich etwas sperrt. Ganz bekomme ich sie nicht auf, aber der Spalt ist breit genug, um meine Hand hineinzustecken. Schon denke ich, dass diese Lade leer ist, doch dann streifen meine Finger über ein kühles Material.

Der Einband des Notizbuchs ist simpel, unspektakulär. Ich lasse die Blätter schnell über meinen Daumen fliegen und kann nur leere Seiten erkennen, doch dann schlage ich die erste Seite auf. Eine Liste. Ohne Titel, ohne Erklärung. Bloß eine Auflistung von Orten, daneben immer eine unterschiedliche Zahl an Strichen. Die Schrift ist immer dieselbe, aber die Worte sind mit wechselnden Stiften geschrieben worden. Alle haben jedoch eines gemeinsam: Als ich über die einzelnen Buchstaben streiche, fühlt es sich an, als hätte Cameron den Seiten Schmerzen zufügen wollen, so fest sind sie eingeritzt.

Ganz zum Schluss steht Moskau. Ich frage mich, was das alles zu bedeuten hat. Cam ist nicht nur der junge Mann aus dem Wald. Er ist mehr als das. Viel mehr, das verstehe ich erst in diesen Tagen. Und ich weiß nicht, ob mir das gefällt.

***

Cameron

Sie hat mich nicht kommen hören. Die Tür zu meinem Zimmer schließt nicht ganz, wenn man nicht weiß, dass man noch einmal fest nachdrücken muss, damit sie ins Schloss springt. Und jetzt stehe ich da, sehe sie mir an, wie sie über die Wörter streicht, die mein Herz zerfressen, und keine Ahnung hat, was sie bedeuten. Sie legt das Buch auf die Tischplatte und tastet noch mal in die Schublade, die nicht ganz aufgeht.

Langsam zieht sie die Kette heraus, an deren Ende ein geschwungenes C aus Weißgold hängt. Ein Kloß breitet sich in meinem Hals aus, aber ich weiß, dass ich nicht stumm weiter hier stehen bleiben kann.

»Ihr Name war Cynthia.« Crys zuckt zusammen, als sie mich hört und dreht sich zu mir um. »Und, hast du gefunden, was du gesucht hast?«, frage ich und versuche, jede Emotion aus meiner Stimme rauszuhalten. Ich schlendere auf sie zu, als wäre es keine große Sache, sie in meinem Zimmer beim Rumstöbern zu erwischen. Ihre Wangen sind gerötet, sie sieht mir fest in die Augen. Ich kann fühlen, wie mein Mundwinkel zuckt. Doch ich will nicht lächeln, nicht mal den Anschein eines Grinsens zulassen, selbst als sie versucht, nicht peinlich berührt zu wirken.

»Nein. Ich war auch noch nicht fertig.«

»Wieso schleichst du dich in mein Zimmer?«, frage ich, während ich meine Jacke, die ich vergessen habe, über den Arm nehme.

Das Straffen meiner Schultern spannt meine Muskeln so fest an, dass sie brennen. Ich muss gehen, aber ich will Crys nicht einfach ohne eine Antwort wegschicken.

Dann stiehlt sich ein bitteres kleines Lächeln auf ihre Lippen, und sie erwidert: »Das kann ich dir leider nicht verraten. Aber weißt du, Cam, es ist nur zu deinem Besten.«

Ich zwinge mich dazu, sie anzusehen und ganz ruhig zu sagen: »Crys. Komm schon.«

Der Sarkasmus verschwindet von ihrem Gesicht. »Wenn du mir keine Antworten gibst, muss ich sie mir selbst beschaffen.«

»Je weniger du weißt, desto besser.«

»Cynthia ist deine Mutter, oder?«

Ich nicke.

Crys legt die Kette behutsam wieder zurück in die Schublade. »Was ist das?« Sie schlägt die erste Seite des Notizbuches auf und hält es hoch.

Augenblicklich verkrampft sich mein Kiefer. »Lass deine Finger davon.«

»Was bedeuten die Striche neben Moskau?«

»Leg. Es. Zurück.«

»Warum, was ist damit?« Kann sie nicht einfach lockerlassen?

»Ich will nicht darüber reden. Bitte akzeptier das.«

Entgegen meiner Erwartung klappt sie den Mund zu und legt das Notizbuch zurück auf den Tisch. Die Enttäuschung lässt ihre Züge hart werden. Und dann geht sie. Schon wieder. Ich kann ihr nicht böse deswegen sein. Ich starre ein paar Minuten auf das Notizbuch. Ich kann es ihr nicht verübeln, dass sie Fragen hat. Nur kann ich diese Fragen nicht beantworten. Und das wird zum Problem.

»Wieso zur Hölle kann nicht einfach alles normal sein?« Ich schüttle den Kopf, schnappe mir meine vergessene Jacke vom Stuhl und mache mich auf den Weg, aber nicht, ohne vorher kräftig die Tür hinter mir zuzuschlagen

Cameron

»Du wirkst so angespannt.«

Ich kann ihren Blick auf mir fühlen. Vivien sitzt mir gegenüber, die Hand um ihre Tasse Tee gelegt.

»Hm?«, antworte ich und zwinge mich dazu, meinen Blick wieder auf sie zu richten.

»Wir gehen jetzt schon ein halbes Jahr miteinander aus. Und noch kein einziges Mal hast du versucht, mich zu küssen. Vielleicht würde dich ein Kuss etwas lockerer machen?«

Ich versuche zu lächeln. Mit Vivien ist es anders als mit Eugenie. Eugenie war nett, aber etwas einfältig. Es war einfach, die Informationen zu bekommen, die Jeff benötigt hat. Das Spiel ist immer das Gleiche: Eine Zeit lang folge ich den Töchtern von einflussreichen Leuten, die gegen uns arbeiten. Dann das zufällige Treffen. Ich bin charmant, charismatisch, nett. Lange Gespräche, in denen ich ihnen erzähle, dass ich allein in einer Wohnung lebe und Vollwaise bin. Ich kriege ihr Mitleid, ihre Aufmerksamkeit, die ich so lange brauche, bis sie mir ihre kleinen Geheimnisse verraten. Bei Eugenie war es bereits nach wenigen Wochen soweit – sie hat mich zu sich nach Hause eingeladen. Ein Glas Wein und ein paar K.-o.-Tropfen später hatte ich den USB-Stick im Haus ihres Vaters gefunden. Und nie, nie hinterlasse ich irgendwelche Spuren.

»Bei besonderen Mädchen lasse ich mir gerne Zeit«, murmle ich, nehme einen Schluck von meinem Kaffee. Lügen. Alles Lügen. Bei Crys würde ich keinen Moment zögern, wenn sie um einen Kuss bitten würde.

»Ich bin also besonders?«, schnurrt sie und stützt ihren Kopf auf die verschränkten Finger. Ja, besonders langsam damit, mir ein paar deiner Geheimnisse zu verraten.

»Natürlich.« Ich lehne mich nach vorne. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie der Typ hinter der Kuchentheke des Cafés, das sich am anderen Ende von Edinburgh befindet, Vivien anstarrt. Er hat recht, sie ist eine Augenweide – braune Augen, lange blonde Haare und dieses selbstbewusste Lächeln.

»Und wieso bemühst du dich dann nicht mehr um mich? Wenn ich denn so … besonders bin?« Sie streckt ihre Hand aus und legt sie auf meine. Ich starre ihre hellrosa lackierten Fingernägel an, einen Tick zu lange, denn sie sieht meinen Blick und zieht ihre Hand weg.

Ich hätte meine Hand auf ihre legen sollen. Aber ich kann nicht. Nicht mehr. So wie sie mich gerade ansieht, halb zweifelnd, halb enttäuscht, weiß ich, dass ich ihr nur den richtigen Satz ins Ohr flüstern müsste, und sie würde mir um den Hals fallen. Aber das werde ich nicht tun. Weil ich Crys will. Und nicht sie.

»Besondere Dinge brauchen Zeit. Ich nehme mir gerne meine Zeit.«

»Oh, ich bin mir sicher, du nimmst dir, was du willst.« Sie wirft ihr Haar über die Schulter zurück. Ihre Flirtversuche nerven mich. Mehr als das. Ich will gar nicht hier sitzen und muss mich davon abhalten, das auch zu zeigen.

»Wir sollten uns mal irgendwo anders treffen.« Dann könnte ich die Sache schnell zu Ende bringen – und mich endlich um wichtigere Dinge kümmern. »Der Kaffee hier wird langweilig.«

»Du willst zu mir?« Sie steht auf und zieht ihren Ledermantel über. »Das musst du dir erst verdienen«, säuselt sie, streicht mir kurz über meine Schulter. Dann wirft sie erneut die langen Haare zurück und stöckelt auf hohen Stiefeln aus dem Café.

Für einen Moment schließe ich die Augen und schüttle den Kopf. Scheiße.

»Frauen, was?« Der Typ hat sich hinter der Theke hervorgetraut. Ich lege ihm zehn Pfund auf den Tisch und ziehe mir meine Jacke über.

»Du sagst es.«

***

Neptune

»Gott, ich gebe auf.«

Noch nie haben sich Worte so sehr nach dem größten Hit aller Zeiten in meinen Ohren angehört.

»Nicht Gott, nur Neptune«, entgegne ich und grinse dabei wie ein Honigkuchenpferd. Ich fühle mich wie Freddy Mercury. Als er noch nicht krank war, versteht sich. Oder wie Kurt Cobain, minus den Drogen. Einfach wie die größte Legende aller Zeiten.

»Lass mich einfach in Ruhe arbeiten.«

»Dann bis heute Abend, Jeff!« Bevor er es sich noch anders überlegen kann, drehe ich mich schon um und winke ihm über die Schulter hinweg zu.

»Ich habe eine halbe Stunde gesagt!«, donnert er mit hochrotem Kopf. Seine Hände krallen sich in den Rand der Tischplatte. Ein Wunder, dass das Holz nicht splittert.

»Bis heute Nachmittag, Jeff!«, korrigiere ich mich und schließe schwungvoll die Tür zu seinem Büro, das ich seit acht Uhr früh durchgehend belagere.

Dumpf dringen noch ein paar Befehle an meine Ohren. Nur um den Häuserblock, blablabla. Sprich mit niemandem, blablabla. Jap, nichts davon verstanden! Die Akustik ist aber auch schlecht hier im Treppenhaus.

Es hat lange gedauert, Carter so wahnsinnig zu machen, wie mich dieses Eingesperrtsein werden lässt.

Küche. Zimmer. Hallenbad. Fitnessraum. Ja, ich gebe es zu. Manchmal bin ich sogar so verzweifelt, dass ich Tyler nachspioniere. Leider muss ich zugeben, dass der Typ ein Augenschmaus ist. Muskeln konnte ich noch nie widerstehen. Zu dumm, dass momentan seine die einzigen sind, die ich hin und wieder zu Gesicht bekomme.

Mir fehlt die Bühne. Die schönen Menschen um mich herum. Die Musik. Und meine Haare erst! Was würde ich geben, mich nicht jedes Mal erschrecken zu müssen, wenn ich an einem Spiegel vorbeilaufe. Ich meine, hallo? Blond ist so was von gestern.

Ich haste an meinem Zimmer vorbei zu dem von Crys. »Cry-y-ys!« Ich wiederhole den Singsang genau fünfeinhalb Mal, bevor sie die Tür öffnet.

Ihre Haare sind vogelnestartig auf ihrem Kopf aufgetürmt. Die Ringe unter ihren Augen sagen mir alles. »Neptune? Was ist?« Ihre Brauen wandern zusammen, und eine Falte bildet sich zwischen ihnen. »Hast du wieder Carters geheimen Whiskey-Vorrat geplündert?«

Ich verdrehe die Augen. »Du und ich gehen raus.«

Crys blinzelt. »Einkaufen?« Was guckt sie so misstrauisch?

»Nein.« Glücklicherweise nicht. Mit Crys zu shoppen macht einfach keinen Spaß. Sie ist viel zu passiv. Trägt sie das hübsche grüne Plissee-Oberteil, das ich für sie ausgesucht habe? Oder die Jeans, in der ihre Beine so unverschämt lang aussehen? Ein dickes, fettes Doppel-Nope. Stattdessen lungert sie nur in diesen grauen T-Shirts herum, die das Sexappeal eines nassen Waschlappens versprühen. »Heute kein Einkaufsbummel. Nur du und ich. Ohne irgendwelche Requiem-Typen, die auf uns aufpassen. Wir haben eine halbe Stunde, also los, zieh dich an!« Ich klatsche in die Hände. Kann gut sein, dass ich dabei auch auf der Stelle hüpfe. So gut habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.

»Nur wir zwei?«

»Komm schon, wo bleibt deine Euphorie? Freiheit! Ist es nicht das, was wir uns gewünscht haben?«

»Carter hat nichts dagegen, dass ich mitkomme? Sein einstündiger Vortrag über das Thema Geh-ja-nicht-nach-draußen ging da eher in eine andere Richtung …«

Technisch gesehen könnte Carter tatsächlich etwas deswegen erwähnt haben. Aber da ich ja nichts gehört habe, kann es mir eigentlich egal sein. »Nur eine halbe Stunde wird uns nicht umbringen. Cam ist schon weg, du kannst also tun und lassen, was du willst.«

»So weit würde ich nicht gehen.« Crys seufzt und zieht den Haargummi aus ihrer Mähne, ehe sie sie mit den Fingern durchkämmt. »Ich muss mir noch Socken anziehen. In fünf Minuten?«

»In fünf Minuten, Baby!«

Ah. Ich atme tief ein.

Frischluft.

Frühlingssonne.

Keine Wolke, die meine Stimmung trüben könnte. Außer die, die fünf Schritte hinter uns herzieht und selbst die Tauben vor Angst in die Höhe fliegen lässt.

»Was hast du erwartet? Dass Carter dich allein rauslässt?« Fast schon bin ich beleidigt, dass Crys über mein Schmollen schmunzelt.

»Ja, aber ihn? Wieso nicht Dave? Wieso passt er überhaupt auf uns auf? Er ist mit uns aus der Anstalt geflüchtet.«

»Er trainiert. Carter sieht das. Vielleicht wollen sie ihn für das Requiem.«

Wahrscheinlich hat der Offizier Tyler ausgewählt, weil er weiß, dass er mir, ohne zu zögern, ins Gesicht schlagen würde, sollte ich mich nur irgendwie falsch benehmen. Nicht, dass es mich nicht reizen würde, auf offener Straße ein kleines Lied anzustimmen. Aber ich will die Genugtuung in Tylers Blick nicht ertragen müssen, wenn ich am nächsten Tag mit einem Veilchen beim Frühstückstisch sitze. Wenigstens hält er genügend Abstand. Das Fußvolk muss eben ein paar Meter hinter dem König bleiben. In Tylers Fall am besten so weit hinten, dass man so wenig wie möglich von ihm hört und sieht.

»Also, Crys, jetzt kommt die Stunde der Wahrheit.« Ich sehe sie von der Seite her an. »Wer ist dein Favorit in der Musikwelt?« Ich meine, das ist doch einfach, ich bin der Favorit von einfach jedem. Oder für einen Moment will ich so tun, als wäre das noch wahr. Niemand erkennt mich. Blicke streifen über mich, über mein unscheinbares Gesicht, das ohne Eyeliner und blaue Haare einfach nur ein Gesicht unter tausenden ist.

Crys zuckt mit den Schultern.

»Ach komm.« Ich würde es auch noch ertragen, dass sie Thousand Tiny Suns gut findet. Oder Backlash. Aber bei Tommy White wäre der Spaß vorbei. Dieser Typ glaubt doch tatsächlich, ein Kilt ist ein angemessenes Bühnen-Outfit für einen Punkrock-Star. »Jeder hat eine Lieblingsband. Man kann nicht keine Lieblingsband haben. Also?«

Schon wieder Schulterzucken. Für diesen Spaßfaktor hätte ich auch mit Tyler allein losziehen können. Da ich keine Antwort mehr erhalte, ziehe ich noch einmal die frische Luft ein und atme dann langsam wieder aus. Häuser, Straßen, Menschen. Balsam auf meiner verwundeten Seele. Auch Crys’ Blick hängt an dem kleinen Café, das wir gerade passieren. Nein. Sie starrt. Angestrengt. »Alles in Ordnung?« Ihre Wangen sind rot. Nicht rosig von der Kälte. Auf ihrer Oberlippe glänzt der Schweiß.

Tyler schließt zu uns auf. Jetzt bin ich froh, dass er da ist. »Ist was?«

Genau wie ich bekommt er keine Antwort von Crys. Stattdessen geht sie ein paar Schritte nach vorne, in Richtung des Cafés, vor dem ein paar Leute schon in der Frühlingssonne sitzen. Tyler und ich bleiben ihr auf den Fersen, bis sie stehen bleibt, den Blick immer noch auf den Rücken des Kellners gerichtet, der gerade eine Bestellung aufnimmt.

»Oliver.« Crys’ Stimme ist kaum hörbar. Reglos steht sie da, die Hände hängen an ihren Seiten.

»Oliver«, wiederholt sie noch einmal. Ist sie jetzt völlig übergeschnappt?

»Was zur Hölle«, flucht Tyler und will sie von dem Typen wegreißen, doch ich halte ihn am Arm zurück.

»Lass sie.« Glaubt sie wirklich, diesen Typen zu kennen? Das könnte spannend werden.

»Ich habe Befehle«, knurrt Tyler und schüttelt meinen Griff ab, doch er bleibt stehen.

Noch immer scheint der Typ Crys nicht gehört zu haben. Er kritzelt etwas auf einen kleinen Block, dann klemmt er sich sein Tablett unter den Arm. Er dreht sich zu uns um. Sein Mund klappt auf. »Crystal?«, fragt er, seine Stimme ungläubig. Einen Moment lang stehen sie einander gegenüber, wie in ihren Bewegungen eingefroren.

Mein Blick fliegt zwischen ihnen hin und her. Was geht denn hier ab?

Oliver lässt das Tablett und den Block auf einen leeren Tisch zu seiner Rechten fallen und umarmt Crys. »Ich wusste, ich würde dich irgendwann finden.«

»W…was tust du hier?«, fragt sie, ohne ihn von sich wegzustoßen, im Gegenteil, sie erwidert seine Umarmung.

Ich bin vollkommen verwirrt. Ich kann Crys’ Gesicht nicht sehen, aber das von Oliver. Nach kurzer Zeit hält er sie eine Armlänge von sich weg. Sein Blick wechselt von erleichtert zu eindringlich.

»Sie haben Violet.«

»Was?« Crys’ Stimme ist nur ein Hauch.

»Crys, wer ist das?« Tyler tritt neben Oliver, doch sie beachtet ihn nicht.

»Violet. Sie haben Violet. Sie haben sie mitgenommen.«

Crys blickt Oliver fassungslos an. Sein Blick ist flehend, eine Mischung aus schierer Verzweiflung und Tatendrang.

»Mitgenommen?« Crys’ Stimme ist ein fahles Echo, ohne eigenen Ton. Die Arme sinken an ihre Seite.

»Du musst zu ihnen gehen und Violet zurückholen. Hörst du, Crystal?« Er packt sie an den Schultern, schüttelt sie. Nun trete auch ich direkt neben sie. Verdammt, was ist hier los?

Crys starrt ihn verzweifelt an, ich bilde mir ein, zu sehen, wie die Worte in ihren Verstand sickern. Ihre Finger bilden hilflos Fäuste, öffnen sich, schließen sich.

»Lass sie los«, mische ich mich jetzt ein. Die Menschen starren uns bereits an. Unwohl blicke ich mich um, ziehe den Kopf zwischen meine Schultern. Wir müssen das nach drinnen verlegen. Auf der Stelle.

»Hilf mir«, flüstert er.

»Was soll ich …«, fragt Crys. Ein heftiges Zittern breitet sich in ihrem Körper aus. Ihre Beine knicken ein, aber der Typ hält sie fest.

»Genug jetzt«, sage ich und will Olivers Hand von Crys’ Schulter ziehen, doch er schüttelt mich ab. Was ist sein Problem? Sieht er nicht, wie sehr er sie bedrängt?

»Sie ist deine Schwester. Sie wollen dich, deshalb haben sie Violet mitgenommen. Verstehst du das? Du musst sie zurückholen!«

»Beruhige dich mal! Wer hat sie mitgenommen?«, fährt Tyler dazwischen.

Jetzt knicken Crys’ Beine endgültig ein, und noch bevor er eine Antwort bekommt, bricht sie zusammen.

»Crys!« Ich kann ihren Sturz gerade noch abfangen. Beinahe reißt ihr Gewicht mich mit zu Boden. Sanft lege ich sie auf das Pflaster, bette ihren Kopf seitlich in meinen Schoß. »Komm schon, was soll das?« Ich fluche leise, als ich ihren Puls fühle.

»Zur Seite, Neptune.« Tyler windet seinen rechten Arm unter ihrem Oberkörper hindurch, mit dem anderen umfasst er ihre Beine, bevor er sie hochhebt. »Wir gehen sofort zurück.« Crys’ Kopf sinkt gegen seine Brust. Ihr Atem geht immer noch flach. Mit dem Kopf deutet er auf Oliver. »Und du kommst mit.«

Oliver nickt, benommen. Wo sind jetzt die ganzen Worte, die er Crys zuvor an den Kopf geworfen hat?

Egal, was gerade passiert ist und welche Bedeutung es hat … es ist schlimm. Sehr schlimm. Ich kann es in meinem Blut fühlen. Ich täusche mich nie.

Colours of Life 2: Rosengrau

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