Читать книгу Würdest du um mich weinen, wenn ich sterbe? - Anna-Lina Köhler - Страница 4
Kapitel Eins
ОглавлениеIch bin wütend und dabei ist der Grund meiner Wut ganz nah. Ich selbst bin es, die in Selbstmitleid und Hass versinkt, Hass auf meinen Körper, der scheinbar zu schwach dazu ist, gesund zu sein. Seit Wochen bin ich nicht mehr als ein sterbendes Leben. Ein menschliches Wesen, das den Kampf mit einem nicht sichtbaren Gegner verloren hat.
Ich stoße ein leises Knurren aus. Warum habe ich nicht gesiegt? Es ist das Ende meiner Geschichte, das ich erkennen muss und doch sträubt sich mein ganzes Selbst verzweifelt dagegen, so als ob es daran etwas ändern könnte. Es gibt keine Veränderung mehr, das ist mir bewusst.
Alles, wonach ich mein Leben lang gestrebt habe, war nach Größe. Ich habe mich immer danach gesehnt, etwas Außergewöhnliches zu erschaffen und etwas Besonderes zu sein. Ich habe mich in einer selbst errichteten Welt aus Träumen und Illusionen verloren. Und ich habe vergessen wirklich zu Leben.
Jetzt, wo ich weiß, dass es bald vorbei ist, bereue ich vieles. Ich bereue, dass der Tod mir erst dabei helfen musste, zu erwachen. Aber indem ich bereue, werde ich vielleicht auch mit reiner Seele in die Dunkelheit hineintreten. Es gibt Dinge, die kann ich nicht ungeschehen machen und es gibt Dinge, die nicht mehr geschehen können. Dunkle Schatten erheben sich von den Wänden. Sie bäumen sich auf, rufen nach mir. Und obwohl ich versuche, sie zu ignorieren, gelingt es mir nicht.
Sie locken die schmerzhaften Erinnerungen aus mir hervor, ihr gurgelndes Lachen verhöhnt mich.
Ein kurzes Klopfen an der schweren Holztür zu meinem Raum lässt sie schließlich verschwinden. Doch sie sind nicht fort, sie können niemals ganz verschwinden, denn sie suchen Zuflucht in meinen Gedanken.
Die Tür öffnet sich einen Spalt breit und eine hagere Gestalt gleitet herein. Ich schaue auf, schaue in die grauen Augen, die mich verächtlich betrachten. Alles in diesem kalten Gesicht verspottet mich und doch ist dort auch das Zucken der Mundwinkel zu sehen, die sich bei meinem Anblick freudig erheben. Ich kenne den Namen dieser Frau und doch weiß ich nicht, wie ich sie nennen soll. Sie war nie ein Teil meines Lebens, hätte es niemals sein sollen und doch hat sie sich genau das genommen, was mir von meinem Selbst noch geblieben ist, meinen Vater.
Ich war klein, als meine Mutter gestorben ist und doch sind es Momente voller Glück, die ich in meinen Gedanken festhalte, sie umklammere wie eine Ertrinkende. Es sind grüne Augen, in denen sich die Sterne widerspiegelten, in denen die Freiheit lag und jeden Abend, bevor ich meine Augen schließe sehen sie mich an und ich weiß, dass sie während meines Schlafes über mich wachen werden. Manchmal habe ich geglaubt, ihren Schatten im Himmel zu sehen, dann wenn die Sonne die Erde mit ihren letzten warmen Strahlen berührt. Und im Winter war sie das Funkeln der weißen Schneeflocken, die sich sachte auf die Erde gelegt und sie zugedeckt haben. Dann hat alles lange geschlafen. Es war ein friedlicher, aber ein kalter Schlaf, bis der Geruch des Frühlings das Leben geweckt hat und ich weiß, dass es ihr Lächeln war, das mich tief in meinem Innersten berührt hat. Das alles hat mir Trost gegeben und Hoffnung. Ich habe gedacht, dass es etwas sei, das mir niemand nehmen könne. Jetzt habe ich erkannt, dass all dies nur noch ein blasser Schatten ist, der kaum noch zu existieren scheint. Sie hat versucht sie zu vernichten, sie mir zu nehmen und doch ist sie alles, was mir bleibt – die Erinnerung.
Ich ziehe mir die Decke über den Körper, versuche so viele dunkle Male wie möglich damit zu verbergen. Sie soll sie nicht sehen, soll nicht sehen, wie schwach mein Körper tatsächlich geworden ist. Ich werde ihr mit meinem Blick zeigen, dass ich bereit bin zu kämpfen, dass meine Seele dazu imstande ist, zu überdauern. Ich hebe das Kinn, als sie zu mir an mein Bett tritt. Es soll eine stolze Geste sein, doch es muss hilflos wirken, denn ihr selbstsicheres Lächeln wird nur noch breiter, als sich unsere Blicke treffen. Beinahe zufrieden streicht sie das lange schwarze Haar zurück und stellt eine hölzerne Schale auf den kleinen Tisch neben meinem Bett. Ich werfe einen kurzen Blick darauf, doch ich greife nicht danach. Ich bin hungrig, ich weiß, dass mein Körper nach Nahrung giert und doch werde ich es nicht anrühren, bis sie aus dem Zimmer verschwunden ist. Ich weiß, dass sie mir mein Essen nur bringt, um sich davon zu überzeugen, dass ich noch lebe. Sie wartet sehnsüchtig auf den Tag, an dem sie mein Zimmer betreten wird und mein Atem versiegt ist. Es wundert mich, dass sie mir nicht dabei hilft, zu sterben. Es wundert mich, dass sie nicht handelt, um meinem Dasein ein Ende zu bereiten. Aber vielleicht findet sie auch Freude daran, dabei zuzusehen, wie die Krankheit mich langsam zerstört. Sie weiß, dass es nur ein Ende geben kann und ich weiß es auch. Und doch bin ich immer wieder gewillt ihr zu zeigen, dass ich nicht aufgebe. Es ist ein trügerischer Schein, den ich aufrechterhalte und auch wenn ich weiß, dass ich mich selbst belüge, werde ich es so lange tun, bis mich die Finsternis belehren wird. Es gibt niemanden mehr, der noch an meine Heilung glaubt, niemanden, der mich noch nicht aufgeben hat. Jeden Tag höre ich die Räder des Karrens, der sich durch die Straßen schiebt und tote Körper auflädt. Körper, die den Kampf bereits verloren haben und im Feuer vergehen werden, denn die Krankheit ist erbarmungslos und sie breitet sich mit jeder Nacht immer weiter aus. Ob die Dunkelheit meinem Vater bereits erzählt hat, dass es bald vorbei ist? Ob sie ihm davon berichtet hat, dass Hoffnung nicht mehr ist als etwas Unscheinbares, das nicht mehr vor dem Ertrinken bewahrt werden kann? Ich möchte nicht sterben, ohne ihn noch einmal zu sehen. Viel zu lange schon ist er fort, viel zu lange schon lässt er mich allein. Viel zu lange schon ist er im Krieg. Der Tod wird ihm erzählt haben, dass es bald mit mir vorbei ist. Also warum kommt er nicht zurück, um mich zu sehen?
Ich zucke zusammen, als meine Stiefmutter ein dickes Buch auf den Tisch fallen lässt. Ich muss nicht hinsehen, um zu wissen, dass es die Bibel ist. Mein Unterkiefer verkrampft sich, als ich die Zähne fest aufeinanderbeiße. Ihre Absichten müssen in ihren Augen nahezu ehrenhaft und selbstlos erscheinen. Das Lesen des heiligen Buches soll mir helfen, meine Seele rein zu waschen und mich von meinen Sünden zu befreien. Denn Gott bestraft mich mit dem schwarzen Tod. Es ist eine Strafe. Ich bin eine Sünderin und die schwarzen Male zeichnen mich, machen es für alle sichtbar. Ich weiß, dass sie mich schon immer verabscheut hat, dass sie mich nie mehr als nur dulden konnte. Und der schwarze Tod konnte ihre Gedanken letztlich bestätigen. Es ist eine Bestätigung, die für sie mit meiner Beseitigung enden wird. Sie wirft noch einen letzten verachtenden Blick auf mich, bevor sie das Zimmer mit schnellen Schritten verlässt und die Tür mit einem leisen Geräusch ins Schloss fällt. Ich bin wieder allein, ich bin allein. Ich wende den Kopf leicht zur Seite, betrachte die Schale auf dem kleinen Tisch. Meine Augen treffen auf die Bibel. Das goldene Kreuz hebt sich vom dunklen Ledereinband ab, scheint sich regelrecht davon lösen zu wollen. Langsam strecke ich die Hand aus, greife danach. Als meine Finger den kühlen Einband berühren, zucke ich kurz zusammen, so als ob ich nicht dazu imstande wäre, die Seiten zu lesen, so als ob es mir nicht einmal gestattet wäre, dieses heilige Buch zu berühren. Ich setzte mich aufrecht hin und lege es auf meinen Schoß. Es ist schwer. Meine Finger zeichnen das Kreuz nach, dann schlage ich es auf. Ich sehe die geschwungenen Buchstaben auf dem leicht gelblichen Papier, wie jedes von ihnen ein Wort bildet, das in ihrer Gesamtheit die Geschichte unseres Herrn erzählt. Ein Herr, der für unsere Sünden am Kreuz gestorben ist, für die Sünden aller Menschen und doch fühle ich den Schmerz der Krankheit überall in meinem Körper. Ist er doch nicht für alle gestorben? Sind es Menschen, wie ich selbst, die wahrhaftig bestraft werden für das, was sie einst taten? Sind wir die Ausnahmen der Sünder, die für die Gerechtigkeit leiden müssen? Meine Stiefmutter hätte die Wahrheit gesagt und genau das ist es, was ich nicht zu akzeptieren bereit bin. Meine Hände zittern, während sie die Seiten umblättern und ich merke wie die Wut in mir aufzusteigen beginnt. Was für den einen gerecht erscheint, mag für jemand anderen Ungerechtigkeit sein. Die Gnade unseres Herrn, seine Güte, die mir immer wieder gelehrt wurde, betrifft mich nicht. Ich bin es nicht wert zu leben, sondern zu leiden.
Meine Hände beginnen zu zittern und ein leises Knurren dringt aus meiner Kehle. Was unterscheidet mich von all den anderen Menschen dort draußen? Aus welchem Grund wurde ich mit dem schwarzen Tod bestraft? Ich weiß, dass es mein Ende sein soll, dass es keinen anderen Weg mehr für mich gibt, nicht mehr geben kann.
Es gibt Gesetze, die uns alle binden. Regeln, nach denen wir leben müssen. Ich habe sie befolgt. Nicht immer, aber ich habe es mir häufig vorgenommen. Vielleicht hätte ich auch die zehn Gebote, die vor mir auf den Seiten niedergeschrieben worden sind, genauer beachten sollen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich sie denn alle aufzählen könnte, wenn man es nun von mir verlangen würde. Ist das schon Sünde? Ist es möglich, dass dies einer der Gründe für mein Leiden ist?
Ich schließe die Augen. Wenn mich die Dunkelheit umgibt, dann kann ich nicht sehen, was ich dennoch weiß. Ich fühle den Schmerz, fühle die Pein, die mein Körper unweigerlich in die Welt hinausschreit und doch glaube ich, dass die Finsternis mir für einen kurzen Moment Vergessenheit schenken kann. Es ist beinahe wie der Schlaf. Er ist mein Freund, ein Zustand der Verdrängung, in dem ich beinahe so etwas wie Glück erkennen kann und doch ist der Schmerz sein Gegenspieler und sein Feind. Und ich weiß, dass dieser Feind die Wirklichkeit darstellt und der Schlaf ist nicht mehr als eine Illusion der schon längst verlorenen Hoffnung.
Als ich meine Augen wieder öffne, blicke ich zum Fenster hinaus und ich sehe wie die Sonne allmählich hinter den Bergen verschwindet. Ich sehe ihr zu, wie sie immer kleiner wird, bald nur noch einen Streifen am Horizont darstellt. Sehnsüchtig schaue ich ihr hinterher und ich wünsche mir, dass ich mit ihr zu jenen Bergen reisen könnte, die sie sanft mit ihrem Licht berührt. Mein Kiefer verkrampft sich, als die Wahrheit schmerzlich in mir aufkeimt. Ich werde sie nie erreichen können, ich werde vermutlich nicht einmal mehr das Zimmer verlassen können, das mich einmauert, mich umgibt wie ein Gefängnis. Ich bin eine Gefangene in meinem eigenen Heim. Mein Verstand und mein Herz wollen diese Wahrheit nicht akzeptieren.
Alles zieht mich von hier fort, alles in mir schreit nach Freiheit. Es gibt nichts, was mich noch halten könnte, nichts außer die Krankheit, die von mir Besitz ergriffen hat, die schon längst Herr meines Tuns ist. Mein Verstand und mein Herz wollen fort, doch mein Körper kann ihnen nicht folgen. Ich werde so lange eine Gefangene sein, bis der schwarze Tod mich letztlich freigibt und mich selbst feste Mauern nicht mehr von meiner letzten Reise abhalten können.
Manches Mal erscheint das, was mir passiert, nicht gerecht und manchmal teile ich die Ansichten meiner verkommenden Stiefmutter, sehe den schwarzen Tod als Strafe der Sünder. Doch manches Mal zieht es mich hinaus in die Unendlichkeit und ich fühle fast schon so etwas wie ein Verlangen nach dem, was auch immer kommen mag. Vielleicht liegt das Glück im Ende. Vielleicht ist das Ende auch nur ein vorzeitiger Abschied und ich werde den Menschen wiedersehen, der mir das Leben geschenkt hat. Ich weiß es nicht, niemand weiß es und genau das ist es, was uns alle solche Angst bereitet.