Читать книгу Würdest du um mich weinen, wenn ich sterbe? - Anna-Lina Köhler - Страница 5
Kapitel Zwei
ОглавлениеIch bin allein, ich lebe nur noch, weil mein Körper mich noch nicht aufgegeben hat. Es ist ein Gefühl, dass mich in schrecklichster Weise erkennen lässt, was ich verloren habe. Ein Krieg scheint wichtiger als ich. Ein Sieg über Feinde scheint wichtiger als das eigene Kind zu sein. Dabei ist es der Kampf in meinem Innersten, den es zu gewinnen gilt. Es ist ein Kampf, den mein Vater gemeinsam mit mir hätte austragen müssen, hier in diesem Raum und nicht in der Ferne. Und so frage ich mich – kämpfe ich denn überhaupt noch, oder habe ich mich schon still aufgegeben und die abgezählten Momente der Ungewissheit sind alles was mir noch bleiben?
Ich habe gelernt, dass sich der Schmerz nicht einfach bloß reduzieren lässt. Er ist so unglaublich verschieden, so vielfältig und stark, dass das Wort allein schon grausam in meinen Gedanken erklingt. Es ist der körperliche Schmerz, der mir immer wieder die Tränen in die Augen treibt. Ich merke immer mehr, wie das Leben aus mir weicht und dieses Wissen peinigt meine Gedanken mit dem sich grausamen näherndem Ende. Ich habe Angst. Es wäre töricht das zu bestreiten. Die tapferen Männer, die für ihren Lehnsherren in den Krieg ziehen, all diese Männer sterben für ihren Herrn. Ein Herr, wie auch mein Vater einer ist. Und diese Soldaten leisten ihren Eid und ihr Eid folgt ihnen bis in den Tod. Sie sagen, sie haben keine Angst, es erfüllt sie mit Stolz, doch ich weiß, dass sie fast alle lügen. Niemand begrüßt das Ende vollkommen und mit offenen Armen. Es muss Zweifel herrschen, Ungewissheit und das alles ist auch eine Form der Angst.
Manchmal ist sie sehr präsent, dann weine ich mich in den Schlaf und Schmerzen begleiten mich. Manchmal ist sie nicht so ausgeprägt. Dann wenn ich an meine Mutter denke. Doch auch hier bleibt der Zweifel bestehen und ich frage mich immer wieder im Stillen, ob ich sie wirklich wiedersehen werde. Ich sehe aus dem Fenster. Es ist kalt draußen und der frische Wind zieht durch die zersplitterte Scheibe in mein Zimmer. Ein Rabe hat das Glas einst zerstört, als er gegen die Scheibe flog. Er hat es unbeschadet überstanden, seine Flügel haben ihn wieder in den Himmel hinaufgetragen. Ich habe mich gefragt, ob er manchmal noch an meinem Fenster vorbei fliegt, seinen kleinen Kopf dreht und mit den finsteren schwarzen Augen zu dem zerbrochenen Glas guckt, das ihm das Leben hätte kosten können. Ob er sich glücklich schätzt, dass er noch immer der Sonne entgegenfliegen kann? Oder denkt er nicht, fühlt er nicht oder anders als wir Menschen? Ist es ihm gleichgültig wie sein Leben endet oder will er einen Sinn erfüllen? Meine Mutter sagte mir immer, dass nur, weil Tiere nicht sprechen wie wir, das nicht heißen müsse, dass sie nicht denken und fühlen wie wir Menschen. Sie sprechen unsere Sprache nicht, aber sie sprechen ihre eigene und wir sind es, die dies nicht verstehen können.
Wie sehr wünsche ich mir ihre warmen Worte zurück, wie sehr wünsche ich mir den Trost in dieser schweren Zeit, den mir ihr Gesang hätte bringen können. Aber sie hat mich verlassen. Mein Vater hat mich verlassen und das Einzige was mir bleibt ist eine Frau, die mich hasst. Eine Frau, die sich mit den Edelsteinen meiner Mutter schmückt und ihr Erscheinungsbild in voller Pracht den Menschen zur Schau stellt, während sie ihr selbstsüchtiges Herz vor der Außenwelt verbirgt.
Diese Welt ist schlecht. Sie nimmt sich die einzigen Menschen, die auch in ihrem Innersten voller Leben sind, voller Güte und sie hinterlässt diejenigen, die sich nach Macht und Reichtum verzehren und dabei die Leichen Unschuldiger verbrennen. Ich bin mir nicht sicher, ob mein Vater für sein Land kämpft oder ob er für sich kämpfen lässt. Diese Frage und seine Bedeutung habe ich mir früher nie gestellt. Es war mir egal. Ich war wie die anderen, die in dieser Burg leben. Ich hatte alles, was ich wollte und das war es, was mich interessiert hat. Der nahende Tod hat mir viel Zeit gegeben, viel Zeit, um über Dinge nachzudenken, die so einfach erscheinen und doch so viel mehr bewirken können. Ist es denn rechtens, dass die Soldaten meines Vaters sterben, um ihm Land zu verschaffen? Warum kämpfen sie für das Wohl eines anderen, der ihren Tod nach einem Sieg lobt und doch ihr Leben scheinbar demnach nie für erwähnenswert gehalten hat?
Er hat sein einziges Kind zurückgelassen, um in den Krieg zu ziehen, um sein Land, seinen Reichtum zu mehren und das obwohl er wusste, dass ich sterben werde. Sein Abschied war herzlich, sein Abschied war freundlich und doch musste er akzeptieren, dass er mit seiner Rückkehr nicht nur Leichen in fremden Ländern zurücklässt, sondern auch einen toten Körper in seinem eigenen Heim vorfinden könnte. Dennoch wünschte ich, dass er bei mir wäre, ich wünschte mir irgendein menschliches Wesen an meiner Seite - nur, um nicht mehr alleine zu sein. Ich bin einsam, ich bin ein einsamer, sterbender Körper und eine verzweifelte Seele, die das Leben bereut, das sie geführt hat. Ich bete ständig um Vergebung. Ich bete, um eine neue Chance, die mich im Leben Dinge tun lässt, ohne Missgunst und Neid zu empfinden. Ich weiß, dass ich alles hatte im Leben und doch habe ich nie wirklich gelebt. Das Materielle, das ich besitze, all den Schmuck und die schönen Dinge, die ich bekommen habe, bedeuten gar nichts. Sie sind für einen Moment wundervoll und doch mussten andere für vieles, das mir gehört arbeiten und manche auch sterben. Das Materielle kann ich nicht mitnehmen, dorthin, wohin ich nun gehen muss. Das einzige, was mir bleibt sind Erinnerungen an ein selbstsüchtiges Leben und jedes Mal, wenn mich meine Stiefmutter mit dem eiskalten Blick betrachtet, erkenne ich ein Stück von meinem alten Selbst in ihr. Ich frage mich, ob Gott mir diese Gedanken gegeben hat, diese Einsichten, um mich auch vor meinem Ende noch einmal zu bestrafen. Ich bereue, ich bereue wirklich, dass es nicht andere Erinnerungen und Momente gibt, die mich mit einem Lächeln auf den Lippen in den Tod begleiten könnten.
Langsam ziehe ich die Decke von meinem dürren Körper. Selbst das erfordert Kraft. Die Kälte macht sich augenblicklich bemerkbar, fährt unter mein Nachthemd und lässt mich frösteln. Früher hätte ich darüber geflucht, heute bin ich dankbar für jedes Gefühl, denn es zeigt mir, dass ich noch lebe.
Nackte Füße berühren den steinernen Boden. Einen kurzen Moment verharre ich sitzend auf meinem Bett, dann stehe ich auf. Ganz vorsichtig drücke ich meine Knie durch, strecke meine Beine, so als ob ich mir nicht sicher wäre, ob sie noch stark genug sind, um das letzte Bisschen, das von mir übriggeblieben ist, zu tragen. Sie tun es - noch tun sie es. Ich drehe mich um, zu dem kleinen Tisch neben meinem Bett. Die unterste Schublade gibt ein leises ächzendes Geräusch von sich, als ich sie herausziehe. Bis auf einen einzigen Gegenstand ist sie vollkommen leer. Ich greife nach dem kleinen Dolch, nehme ihn heraus und richte mich wieder auf. Es ist fast vollkommen dunkel in meinem Zimmer. Der Tag hat sich dem Ende geneigt. Ein weiterer Tag ist vergangen und ich habe ihn überlebt. Seitdem ich krank geworden bin, seitdem der schwarze Tod mein Schicksal behaftet hat, genieße ich die Nächte, die Finsternis viel mehr als die Tage. In der Dunkelheit fühle ich mich fast geborgen. Es scheint, als verbirgt sie nicht nur das Sichtbare vor den Augen der Menschen, sondern bedeckt auch manchmal das, was wir tagsüber in unseren Gesichtern nur schwer verbergen können. Wenn die Sonne unter geht und die Sterne sich zeigen, dann verlasse ich mein Bett und setzte mich ans Fenster. Es ist fast, als ob die Dunkelheit, die kühle Nachtluft mir einen kleinen Teil meines verlorenen Lebens zurückgibt. Seitdem ich krank bin, bin ich allein und seitdem ich allein bin, habe ich nur noch meine Gedanken. Manchmal glaube ich, dass es einen Unterschied gibt, zwischen meinen Gedanken am Tag und in der Nacht. Sobald die feinen Flammen der Kerzen Schatten an die Wände werfen und sie das einzige sind, das den Raum noch etwas beleuchten kann, verändern sich auch meine Gedanken. Es werden mehr. Sie werden deutlicher und klarer. Manchmal, wenn ich die Sonne wieder aufgehen sehe, wenn ich das Licht sehe, das die Welt berührt, dann habe ich Hoffnung. Ich hoffe so sehr, dass es alles anders ist, dass es nicht die Wahrheit ist.
Die Wahrheit ist, ich werde sterben und diese unveränderbare Wirklichkeit zeigte sich mit dem ersten schwarzen Malen auf meiner Haut, mit denen mein Ende letztlich unveränderbar bleibt.
Das Licht der Kerzen spiegelt sich in der Klinge des Dolches. Ich sehe einen kurzen Moment dabei zu, wie sie auf dem silbernen Stahl tanzen. Ihre leichten Bewegungen scheinen fröhlich und leicht, so als ob sie mir die Angst nehmen wollen. Doch ich weiß, dass meine Gefühle ein einziges Chaos sind. Ich fürchte mich so oft und so sehr, dass ich mich in den Schlaf weine. Es ist eine nahezu unerträgliche Angst vor dem Ende und doch kann gerade diese Furcht auch in völlige Entschlossenheit umschlagen. Es ist eine Art Akzeptanz, wie ich sie noch nie zuvor verspürt habe. In diesen Momenten ist meine Krankheit beinahe schon Erlösung. Seitdem ich krank bin denke ich anders. Seitdem ich anders denke, erscheint mir so viel bekannt Geglaubtes vollkommen neu und manchmal in einer Weise, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.
Ich setzte mich auf den Fenstersims und lehne meinen Kopf gegen die kalte Mauer. Draußen ist es mittlerweile fast völlig dunkel. Nur noch wenige Sonnenstrahlen erhellen den Horizont und tauchen ihn in ein kühles Rot. Meine Hände zittern leicht. Ich balle die Faust, umklammere den Griff der kleinen Waffe ganz fest mit meinen Fingern, ohne den Blick von der Landschaft vor meinem Fenster abzuwenden. Früher habe ich diese Schönheit als nahezu selbstverständlich empfunden. Die Welt vor meiner Tür war bloß das, was ich in ihr gesehen habe und häufig war sie, wie so vieles nicht gut genug. Der Regen war zu nass, die Sonne zu warm und der Wind hat mir meine Haare durcheinandergebracht. Mein Mund verzieht sich zu einem Grinsen. Ich lache über mich selbst, als die Gedanken in meinem Kopf Gestalt annehmen. Ich habe mich so oft über solche, geradezu absurden Dinge beschwert, habe Menschen, habe die Welt dafür verantwortlich gemacht, dass sie sich nicht den Momenten meiner Laune anpassen. Und auch jetzt sehe ich alles mit anderen Augen. Der Regen hat das Leben auf der Welt geweckt, das Wasser vom Himmel hat es möglich gemacht und die Natur rein gewaschen von all dem Unheil, das wir Menschen ihr angetan haben. Die Sonne hat so oft mein Gesicht gewärmt, meine Wangen rosa gefärbt und mein Lächeln strahlend gemacht, so als wollte sie mich herausfordern. Und der Wind hat meine Haare nicht zerzaust, sondern mit ihnen gespielt und meinen Kopf gestreichelt. Es war fast wie ein Ruf gewesen, als das herbstliche Laub um mich getanzt ist und mich herausgefordert hat weiter hinaus zu gehen. Jetzt bin ich froh, dass mein geschwächter Körper es mir erlaubt, bis zum Fenster zu gehen, um all die Launen der Natur wenigstens betrachten zu können. Die Blätter der Bäume haben sich bereits verfärbt und bald werden sie hinunterfallen. Dann wird es immer kälter werden, bis die ersten Schneeflocken schließlich vom Himmel fallen. Schnee ist kalt, war immer zu kalt und doch erkenne ich in diesem Moment den sehnsüchtigen Wunsch in mir wenigstens noch ein letztes Mal die wunderschönen kleinen Flocken die Erde bedecken zu sehen. Ich weiß, dass mir keine Zeit mehr dafür bleibt. Ich weiß, dass dieser Wunsch nicht mehr erfüllt werden kann.
Und plötzlich spüre ich sie doch, eine Träne der Angst, die mir die Wange hinunterläuft. Sie kitzelt meine Haut und doch bleibt sie einsam. Ich werde nicht zulassen, dass ich weine – nicht jetzt, nicht in diesem Moment.
Warum ich mir gerade diesen Abend zum Sterben ausgesucht habe, weiß ich nicht. Vielleicht weil ich den Schmerz nicht mehr ertrage, der sich in Form einer Krankheit durch meinen Körper frisst. Vielleicht ist es aber auch die alte Eitelkalt meiner vergangenen Tage, die wieder zum Vorschein kommt. Ich habe jeden Spiegel in meinem Zimmer verhängt, mit großen Tüchern verhüllt, um mein neues Bild im Glas nicht sehen zu müssen. Ich besitze absurd viele Spiegel. Früher habe ich es geliebt, mich ständig in ihnen zu betrachten, nichts schien so wichtig wie mein Äußeres. Jetzt sind sie ein Teil eines Fluches, der in gewissen Momenten selbst mir nun als gerecht erscheinen mag. Wie erscheint mir ein Bild der Vergangenheit vor Augen, in der ich über die Armen dieser Stadt lachte. Ich habe über ihre Kleider gelacht, darüber wie verdreckt und einfach sie doch waren. Ich habe über den Schmutz an ihren Körpern gelacht und mich vor ihnen zu gerne präsentiert. Ich wollte, dass sie mich ansehen, dass sie mich bewundern und beneiden. Ich war etwas, das sie niemals sein werden würden. Viele von ihnen sind bereits tot. Dahingerafft von der Pest.
Ich schlucke schmerzhaft und unterdrücke weitere Tränen. Nun bedauere ich mein Verhalten. Ich bedauere, wie ich die Menschen um mich herum behandelt habe. Meine Kleidung mag mich für eine Weile von ihnen unterschieden haben, doch nun habe ich verstanden, dass wir am Ende alle gleich sind.
Ich schiebe den Ärmel meines Kleides nach oben, betrachte die großen schwarzen Beulen, die ich nun am ganzen Körper trage. Sie zeichnen mich und sie sind genauso tödlich, wie die, der armen Menschen hinter den Mauern meines Zimmers. Am Ende sind wir alle gleich. Der Tod macht keinen Unterschied und schon bald werde ich im Staub vergehen und der Wind wird meine Asche in die Nacht hinaustragen. In der Finsternis vermischt sie sich mit den Überresten aller und wir werden alle eins sein. Denn ich habe verstanden, dass wir genau das sind – eins.
Mein Leben ist so viel wert wie jedes andere dort draußen hinter den Mauern und ich blute, ich blute wie alle Menschen und mein Blut ist rot wie das ihre.
Ich fürchte mich. Ich schäme mich schon fast für dieses Geständnis, aber ich fürchte mich so sehr. Ich kann nicht mal mehr sagen, was mir am meisten Angst bereitet. Ist es der Schmerz, der Tod, das Ende? Ist es die Ungewissheit oder einfach nur die Reue eines vergangenen Lebens?
ich wage einen ersten Versuch. Den Dolch setzte ich quer an meinem Handgelenk an. Es wird mich nicht umbringen, das weiß ich selbst, aber ich hoffe, dass es mir leichter fallen wird waagerecht zu schneiden, wenn ich den Schmerz erst einmal kennen gelernt habe. Ich hole tief Luft und schließe für einen kurzen Moment die Augen, nur um sie danach gleich wieder zu öffnen. Die Dunkelheit gibt mir Sicherheit. In der Dunkelheit kann ich nicht sehen, was passiert, sie verschleiert das Unvermeidbare. Aber nun will ich es sehen, ich muss. Ich will mit offenen Augen dem Ende entgegenblicken. Es wird ein starrer Blick sein, ein furchtloser Blick. Das ist es zumindest, was ich mir wünsche. Ich verstärke den Druck auf mein Handgelenk und ich sehe, wie die scharfe Klinge die ersten Hautschichten zerschneidet. Eine nach der anderen öffnet sich, bis der glänzende Stahl endlich auf Blut trifft, es zum Vorschein bringt. So als hätte es nur darauf gewartet, endlich befreit zu werden, strömt das warme Rot sogleich an der Klinge vorbei und läuft meinen Arm hinab. Meine Lippe beginnt leicht zu zittern, als mit dem frischen Lebenssaft auch der Schmerz hervortritt. Es tut mehr weh, als ich dachte und dabei ist es nur ein einziger kleiner Schnitt. Fasziniert beobachte ich wie die rote Flüssigkeit in einzelnen Bahnen meinen Arm hinabläuft und seine Spuren auf meiner bleichen Haut hinterlässt. Tropfen fallen auf den Boden und zerspringen dort in tausend Teile, wie der Regen. Mit dem Blut, das aus meinem Körper läuft, wird mich auch das Leben verlassen. Ich darf nur nicht aufhören zu schneiden. Ich möchte meine Seele aus diesem vergangenen Körper befreien. Meine kranke Hülle wird zu Staub zerfallen und mein Geist wird emporsteigen und frei sein. Vielleicht werde ich mich endlich wieder lebendig fühlen, wenn ich tot bin.
Die Klinge liegt nun in der richtigen Position auf meinem Unterarm. Ich kann die Ader sehen, wie sie unter dem Stahl in einem ungesunden blau hervorsticht. Ich atme langsam, sauge die Luft regelrecht in mich hinein, denn ich weiß, dass es meine letzten Atemzüge sein werden.
Die Spitze des Dolches versenke ich langsam unter meiner Haut. Sie taucht zwischen den schwarzen Malen in meine Pulsader ein, scheint regelrecht danach zu gieren seine Aufgabe endlich erfüllen zu dürfen. Zu gerne würde ich den Ausdruck auf ihren Gesichtern sehen, wenn sie meine blutende Leiche finden.
Doch plötzlich halte ich inne und starre auf die Blutbahnen. Ohne es zu merken, habe ich mir den Arm so aufgeschnitten, dass die beiden sich schneiden. Ich hebe den Arm leicht nach oben an, sodass das Blut in meine Armbeuge läuft. Es ist ein Kreuz, ein Kreuz aus Lebenssaft. Meine Augen wandern zu dem Nachtisch neben meinem Bett, fallen auf die Bibel, die sich trotz ihres dunklen Einbandes nun beinahe leuchtend davon abhebt. Gekreuzigt, gestorben und begraben.
Ich sehe zurück auf das rote Kreuz an meinem Unterarm. Die Sonne ist vollkommen verschwunden und nur die Nacht befindet sich hinter meinem Fenster. Und ganz plötzlich wird mir bewusst, was ich in diesem Augenblick bereit bin zu tun. Ich möchte mein Leben beenden. Ich möchte das größte Geschenk beseitigen, was mir von unserem Herrn mit meiner Geburt überreicht worden ist. Es ist die Möglichkeit zu leben und das zu erkunden, was uns mit dieser Welt gegeben wurde. Meine Krankheit ist mein Tod und mein Tod ist mein Ende. Fast schon angewidert lasse ich den Dolch in meiner Hand fallen. Mit einem leisen Geräusch kommt er auf dem steinernen Boden auf. Ich weiß, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Vielleicht werde ich genau in dieser Nacht zu Bett gehen und in ewigem Schlaf versinken. Aber noch bleibt mir die Möglichkeit etwas zu tun, etwas zu ändern. Meine Gedanken schreien. Alles daran erscheint beinahe schon lächerlich, denn ich weiß, in welchem Zustand ich mich befinde. Ich weiß, wie viel Mühe es mir jedes Mal bereitet mich nur auf den Fenstersims zu setzten und mich schließlich zurück ins Bett zu legen. Doch der Gedanke hat mich gepackt, lässt mich mit einem Mal nicht mehr los. Es kann nicht so vorbei gehen, es darf nicht so vorbei gehen. In den letzten Tagen habe ich mich an so vieles erinnert, an so viel Schlechtes, das mich geprägt hat. Es ist unwahrscheinlich, dass ich noch etwas ändern kann, aber es ist nicht unmöglich. Ich hätte nicht so selbstverständlich mit meinem Leben umgehen sollen, das weiß ich nun. Jeder Tag ist ein Augenblick voller Schmerzen und Krankheit und doch ist es auch ein Moment, indem ich leben darf. Ich möchte dieses Leben nicht so einfach aufgeben. Plötzlich ist da etwas in mir, tief in meinem Herzen und ich kann es ganz deutlich spüren. Es ist die Hoffnung, die in einem Mal in mir aufkeimt. Ich hoffe nicht auf Genesung, auf Gesundheit oder ein gutes Ende. Ich weiß, dass es längst zu spät ist. Was ich nicht weiß ist, wie viel Zeit mir letztlich noch bleibt und doch möchte ich sie bis zum letzten Augenblick vollends auskosten. Vielleicht wird es einen kurzen Moment geben, indem ich meinen gepeinigten Körper vergessen kann, einen Moment, indem ich nichts fühlen werde, außer Glück. Und selbst, wenn dieser nun den Bruchteil einer Sekunde andauert, wünsche ich mir nichts sehnlicher. Das ist die Hoffnung, die mir das blutende Kreuz auf meinem Unterarm mit einem Mal gegeben hat.
Sie mag trügerisch und falsch sein. Vielleicht werde ich mich schon bald mit Tränen in den Augen von dieser Welt verabschieden. Aber vielleicht wird mir noch ein letzter Moment gegönnt, indem nicht nur das Schlechte in mir hervorgerufen wird. Dann werde ich mit einem Lächeln auf den Lippen einschlafen. Ich möchte suchen, ich werde etwas suchen, das mir zeigt, dass es wert war gelebt zu haben. Die Erkenntnis über etwas Dauerhaftes, das ich hinterlassen möchte, ist die Hoffnung, die mich meinen blutenden Arm verbinden lässt. Vielleicht habe ich dieser Welt doch etwas geben können, nicht nur die Launen meines alten verzogenen Selbst. Ich werde es suchen und ich werde es finden oder dabei sterben. Denn sterben muss ich ohnehin.
Der besprenkelte Dolch dort zu meinen Füßen ist nicht mein Schicksal. Es ist nicht das, was von jeher für mich vorhergesehen wurde. Mein Weg hat stets geradeaus geführt. Ich war zu feige, ihn zu verlassen. Nun stehe ich an seinem Ende und mir bleiben bloß noch zwei Möglichkeiten. Ich werde bleiben, bis der Moment kommt, der mich in sich gefangen nimmt, weil er mich glücklich macht oder bis der Tod beschließt nicht länger zu warten.