Читать книгу Würdest du um mich weinen, wenn ich sterbe? - Anna-Lina Köhler - Страница 6
Kapitel Drei
ОглавлениеDie Nacht weicht dem Tag. Ich fühle die Wärme der Sonne, als ihr erster Strahl durch mein Fenster bricht und mein Gesicht berührt. Dieser Moment ist so befreiend und doch furchteinflößend zugleich. Die Finsternis hat mich nicht angerührt, sie hat mich nicht mit sich genommen und den dunklen Mantel um mich gelegt, den der Tod auf seiner Reise in eine fremde Welt trägt. Diese Nacht habe ich überlebt, einen weiteren Tag des Lebens gewonnen, doch schon bald wird die Sonne erneut untergehen. Es ist ein nie endender Kreislauf, das Gesetz der Natur und der Zeit und genau das ist es, was mir kaum noch bleibt – Zeit. Irgendwann werde ich den Tag dahinschwinden sehen und die Dunkelheit wird hereinbrechen. Sie wird mich flüsternd rufen, mich locken und ich werde diesem Ruf folgen müssen und dann wird es für mich auch kein Erwachen mehr geben. Ich stehe auf der Liste des Todes und mein Name ist mit Blut geschrieben. Bald wird die knochige Hand, die aus dem schwarzen Umhang ragt, die Feder nehmen und ihn durchstreichen. Dies ist die Reise, die jeder von uns allein antreten muss.
Mein Kopf fühlt sich schwer auf den Schultern an, meine Muskeln sind verspannt. Ich reibe meine Augen, als mich mit einmal Mal ein stechender Schmerz durchzuckt. Es sind nicht meine schwarzen Male, dieses Gefühl ist anders, intensiver. Ich beiße mir auf die Lippe, um ein zitterndes Stöhnen zu unterdrücken. Erst als ich meinen schlecht verbundenen Unterarm sehe, kann ich mich wage an die vergangenen Abende erinnern, der beinahe mein letzter gewesen war.
Mein Atem ist stockend. Ich fühle mich, als ob ich trotz der aufgehenden Sonne nicht richtig erwachen kann. Ich bin nicht wach und ich schlafe nicht, ich bin irgendwo dazwischen. Auf dem schmutzig weißen Verband zeichnen sich rote Abdrücke ab. Ob ich viel Blut verloren habe weiß ich nicht. Es war nicht genug, um mich zu töten, aber es war gewiss zu viel für mein krankes Selbst. Der Dolch liegt noch immer dort auf dem Boden, wo ich ihn fallen gelassen habe. Ich werde ihn wieder verstecken müssen, bevor meine Stiefmutter ihn findet. Ihre Enttäuschung darüber, dass ich nicht endlich gegangen bin, wird sie nicht verbergen können, selbst, wenn sie weiß, dass Selbstmord Sünde ist. Sie gibt vor, sich um meine Seele kümmern zu wollen, damit ich nach meinem Ableben an der Seite unseres Herrn Platz nehmen darf. Doch es ist ein Schauspiel, eine Fassade, die sie selbst in Abwesenheit meines Vaters noch aufrecht zu erhalten versucht. Sie schert sich nicht um mich. Vielleicht sollte es mich verletzten, doch dafür kenne ich sie zu wenig. Selbst das Wort Stiefmutter erscheint ihr nicht gerecht zu werden. Meine Mutter ist tot und seitdem wohnt eine Fremde bei mir.
Ich möchte mich bewegen, doch alles was mich umgibt ist der Schmerz. Jeder Atemzug fühlt sich an, als ob ich Scherben einatmen würde, die sich mit unbeugsamer Brutalität durch meinen Körper fressen und alles auf ihrem Weg zerschneiden. Ich drehe mich mühsam auf die Seite und versuche mich aus dieser Position wiederaufzurichten. Das Kissen schiebe ich weiter nach oben, sodass ich mich besser am Kopfende des Bettes anlehnen kann. Es ist ein absurder Kraftakt.
Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne und verdunkelt das Zimmer. Die Kerzen sind heruntergebrannt. Es befinden sich Neue in einem großen hölzernen Schrank direkt am gegenüber vom Fußende meines Bettes. So nah und doch unerreichbar für mich. In diesem Moment bin ich nicht in der Lage dazu aufzustehen, um neue zu entzünden. Selbst wenn die kleinen Flammen etwas Wärme spenden würden. Dabei gibt es auch einen Karmin in diesem Raum. Mir hat es noch nie an etwas gefehlt, dafür habe ich meinen Vater immer sorgen lassen. Doch der Kamin ist leer. Schon seit einigen Tagen hat sich niemand mehr darum bemüht, Feuerholz nachzulegen und es zum Brennen zu bringen. Es hat sich schnell herumgesprochen, dass ich krank bin und noch schneller war die Einsamkeit, die mich mit dieser Tatsache empfing. Keiner traute sich mehr zu mir. Alle haben sie Angst, die Pest könnte auch sie heimsuchen, wenn sie mir in die Augen blicken. Ich kann es ihnen nicht einmal verübeln. Es klopft. Ich brauche nicht zu fragen, wer vor der Tür steht. Niemand besucht mich, außer meinen Albträumen.
Mit einem leisen Geräusch öffnet sich die Tür. Zuerst fällt ein Schatten in den schwach beleuchteten Raum. Es sind nicht mehr, als magere schwarze Umrisse und doch entlocken sie mir ein kurzes Lächeln. Ich weiß, dass sie es ist, bevor sie auch nur hereintritt. Ich ziehe die Decke weiter nach oben, verdecke meinen Körper bis zu meinem Hals und lege die langen Haare leicht darüber. Sie soll die Beulen nicht sehen. Es reicht, wenn ihr das bleiche Antlitz einer Leiche mit blauen Lippen entgegenblickt, denn sie ist wohl die Einzige, der mein Schicksal noch nicht egal geworden ist.
Die Tür wird sachte ins Schloss gedrückt. Als sie sich zu mir umdreht liegt auf ihren Lippen ein Lächeln. Es ist so unfassbar freundlich, so wärmend, dass auch mein Mund sich zu einem schwachen Grinsen verzieht, das jedoch wenige Augenblicke später vom Schmerz vertrieben wird. Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie weit mich die Pest schon zerstört hat. Leiden kann ich, wenn ich allein bin. Die Einsamkeit passt zum Schmerz, aber ich möchte nicht zulassen, dass sie mich so in Erinnerung behält.
Sie blickt aus dem Fenster, sieht der Sonne entgegen. Ihre Strahlen spiegeln sich in ihren Augen wider und lassen sie regelrecht leuchten. Mein Kiefer verkrampft sich schlagartig, als ich an den Dolch denke, der noch immer blutverschmiert auf dem Boden liegt. Sie darf ihn nicht sehen. Sie darf nicht sehen, wie verzweifelt ich bin. Falls sie die kleine Waffe tatsächlich gesehen hat, ignoriert sie eine unausgesprochene Wahrheit und ich weiß, dass sie es für mich tut.
Eine Weile sehe ich ihr still dabei zu, wie sie die Kerzen austauscht und anzündet. Es liegt kein Holz mehr in dem fein geflochtenen Korb neben dem Schrank, um auch den Kamin entzünden zu können. Doch das macht mir nichts aus. Ich bin mir sicher, dass sie nächstes Mal etwas mitbringen wird und ich bin ihr so dankbar. Ich bin ihr so unendlich dankbar, denn sie scheint die Einzige zu sein, der es nicht egal ist, dass ich sterbe. In all der Einsamkeit vergesse ich immer wieder, dass es noch einen Menschen auf dieser großen Welt gibt, der sich um mein Schicksal sorgt. Ein Mensch, der noch immer darauf hofft, dass am Ende alles gut wird, so wie in den Geschichten, die uns früher immer vorgelesen wurden. Und plötzlich bin ich froh, dass ich noch lebe. Ich bin froh, dass ich mein Leben in der letzten Nacht nicht in Gottes Hände übergeben habe. Sie ist die Erinnerung meiner Vergangenheit und meiner Zukunft. Sie ist das, was ich nie missen möchte – sie ist meine beste Freundin. Die kleinen Flammen der Kerzen erhellen das Zimmer augenblicklich und helfen der Sonne die Wärme des Tages zurückzubringen. Sie nimmt sich den kleinen Hocker, der vor dem Kamin steht und setzt sich neben mein Bett. Ich halte meinen rechten Arm bewusst unter der Decke. Ich werde den Verband selbst wechseln müssen, wenn sie gegangen ist, um mich nicht zu verraten. Das Blut wird hoffentlich schon angetrocknet sein, sodass sich die Schnitte nicht von neuem öffnen. Sie könnten sich entzünden, aber davor fürchte ich mich wenig. Selbst wenn sie es tun, der schwarze Tod wird mich längst sein Eigen nennen können, bevor entzündete Wunden ein Problem darstellen könnten.
Ich öffne meinen Mund, so als wolle ich etwas sagen. Doch schließlich lächle ich nur. Sie lächelt zurück. Es ist das Einzige, was mir in diesen Tagen noch Kraft gibt. Es ist beinahe etwas, an das ich mich in meinen letzten Stunden klammern kann. Nichts Materielles, bloß ein Lächeln.
Ihr Gesicht sieht so erwachsen aus. Ich bin erleichtert und froh zugleich, dass es so ist. Ich weiß, dass ich mit dem Gefühl gehen möchte, dass es ihr gut geht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich an ihrer Stelle gehandelt hätte. Ist es nicht vielleicht sogar furchtbarer einen Menschen, den man liebt, leiden zu sehen, als selbst der Leidende zu sein? Unsere Schmerzen unterscheiden sich grundlegend. Die Krankheit ist meine Pein und sie plagt das Leid des Verlustes.
Sie beginnt zu erzählen. Eigentlich erzählt sie mir nichts, was von Bedeutung wäre. Es sind bloß alltägliche Dinge und doch bringen mir genau diese ein kleines bisschen Normalität zurück.
Ihre Stimme ist so unglaublich vertraut. In den Momenten meines Endes sind es so häufig Gedanken, die mich plagen. Gedanken und Erkenntnisse. Sie und mich verbindet eine gemeinsame Geschichte, die doch so unterschiedlich begann. Mein Lächeln wird wie von selbst breiter. Es erscheint plötzlich so absurd, denn auch sie stammt aus einem kleinen Dorf, das zu den Ländereien meines Vaters gehört. Sie gehört dem Stand an, den ich verspotte, den ich verspottet habe. Sie war immer die Ausnahme gewesen. Dafür hatte es keinen Grund gegeben. Sie war schon immer da. Seit meiner Kindheit, seitdem ich das erste Mal einen klaren Gedanken fassen konnte war sie da und wird es auch sein – bis zum Ende.
Vielleicht hätte ich etwas Dankbarer für diese Freundschaft sein sollen. Da sind sie wieder, die Zweifel, die niederschmetternden Einsichten meiner Gedanken. Wie selbstverständlich ist es, dass sie hier bei mir sitzt, während mich alle anderen schon verlassen haben?
Ich fühle Trauer. Trauer darüber, dass ich nicht sehen werde, wie sie vollständig erwachsen wird. Wir haben uns immer vorgestellt, wie unsere Zukunft aussehen wird. Eine Zukunft, die so nicht mehr existieren wird. Wir haben uns ausgemalt, wie unsere Hochzeiten aussehen könnten. Sie hat immer so glücklich ausgesehen, wenn wir davon gesprochen haben und ich wünsche ihr von ganzem Herzen, dass sie diesen Freudentag wirklich eines Tages erleben darf, mit einem Mann, der ihrer würdig ist. Es ist herzzerreißend, dass ich nicht dabei sein werde. In diesem Augenblick wünsche ich mir, dass ich ein paar Worte hätte sagen können. Ich hätte den Hochzeitsgästen von ihr erzählt, von dem Menschen, der mein Leben prägte, wie kaum ein anderer. Doch unsere gemeinsame Geschichte nimmt ihr Ende. Ich friere leicht. Die Traurigkeit breitet sich mit jedem Augenblick weiter in meinem Körper aus, verbündet sich mit meiner Krankheit. Doch ich halte meine Tränen zurück. Wenn sie stark sein kann, wenn sie mit allen Mitteln versucht, mich noch immer zum Lachen zu bringen, dann kann auch ich stark sein. Meine Gedanken sind vielfältig und verwirrend gewesen in den letzten Tagen. Sie haben mir die Augen geöffnet und mich zurückblicken lassen. Doch der Gedanke daran, dass jeder Augenblick mit meiner besten Freundin der letzte sein kann, versetzt meinem Herzen einen schmerhaften Stich. Dieser Schmerz ist anders als der, den mir die Pest täglich bereit und doch ist er genauso grausam. Ich bin traurig und doch gleichzeitig so unfassbar glücklich, dass ich sie all die Jahre an meiner Seite wissen durfte.
Mit ihr sind so viele Erinnerungen verbunden. So viel Schönes, was wir seit unserer Kindheit gemeinsam erleben durften. Sie erzählt von den Sommertagen vergangener Jahre, in denen wir im Fluss gebadet haben. Als wir jünger waren gab es den Tod nicht. In meinen Gedanken klingt es verrückt, geradezu absurd, aber die Worte aus ihrem Mund sind so hoffnungsvoll, dass ich wünschte sie wären wahr. Der Tod war unser Freund. Er war ein Freund, den wir nicht zu fürchten brauchten. In unseren Köpfen war die Wahrheit ein Traum und der Tod eine Brücke. In unseren Köpfen bettete er uns wie die Eltern ihre Kinder und wartete darauf, dass sie endlich schliefen, um diese Welt zu verlassen. Das war der Moment, in dem wir bereit waren für ein neues Abenteuer. Der Tod als unser Freund hätte uns an die Hand genommen und uns in eine andere Welt begleitet. Vielleicht wäre diese Welt das gewesen, was uns die Pfarrer immer aus der Bibel vorgelesen hatten. Es war ein ewiger Schlaf, ein Ende auf Erden und doch ein Neuanfang des Wiedererwachens.
Ich bin mir dessen bewusst, dass es Fantasien in den kindischen Köpfen unserer vergangenen Tage waren und doch beruhigt es mich auf eine seltsame Art und Weise, diese Geschichte wieder aus ihrem Mund zu hören. Das ist ihre Absicht. Sie nimmt mir die Angst vor dem Unbekannten, indem sie das Bekannte eines neuen Abenteurers darzustellen versucht. Sie ist die Einzige, die mich nicht verlassen hat. Die Menschen lernen das zu meiden, was sie als Gefahr betrachten und die schmerzhaften Beulen an meinem Körper sind ihr Signal zur Flucht. Doch sie, die an meiner Seite sitzt, hat nie daran gedacht, mich im Stich zu lassen. Sie ist genau dann da, wenn ich sie brauche und begleitet mich in meinen letzten Stunden. Ich wünsche mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als sie auf diese Reise mitnehmen zu können und doch hasse ich mich gleichzeitig für diese Gedanken. Ich werde allein gehen müssen, denn das Einzige, was ich mir für sie wünschen sollte, ist zu leben.