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Camburg

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Im Haus ihrer Schwester bezog Sophie mit Gisela ein geräumiges Zimmer, in dem sogar ein kleines Klavier stand, wie zu Hause in Jena. Die Bäume im Garten färbten sich herbstlich. Überall im Haus roch es nach den Äpfeln, die in der Küche und im Keller lagerten. Im Garten blühten Astern und Dahlien, die letzten Rosen trotzten dem kälter werdenden Wind.

Wie schon im vergangenen Winter kamen immer wieder Freunde aus Weimar und Jena zu Besuch. Manchmal kam auch Karl, der nicht müde wurde zu beteuern, dass er Sophie jede Freiheit lassen werde, wenn sie nur wieder zurückkäme. Sie dürfe schreiben und veröffentlichen, so viel sie wolle. Im Haus müsse sie gar nichts tun, er werde ein weiteres Hausmädchen anstellen. Aber Sophie wollte, zumindest vorerst, bei ihrer Schwester bleiben. Sie erklärte Karl, Gisela habe hier mehr Spielkameraden als in Jena, und da sie nun drei Jahre alt sei, brauche sie andere Kinder um sich. Außerdem sei das ländliche Leben in Camburg für Gisela auch viel passender.

Von den Freunden, die zu Besuch kamen, suchte vor allem Fritz jede Gelegenheit, mit Sophie allein zu sein. Bei den Mahlzeiten, wenn die ganze Familie am Tisch saß, sprach er von der Liebe. Sophies Schwester, der Schwager und eine Verwandte, die bei ihnen lebte und noch ganz im Stil der alten Zeit gekleidet war, wechselten besorgte Blicke. Fritz meinte es philosophisch. Die Liebe stelle prinzipiell den Zusammenhang alles Seienden her. Bei seinen Ausführungen versuchte er Sophie mit Blicken zu fesseln, denen zu entwischen ihr nicht recht gelang.

Er überredete sie zu langen Spaziergängen, was ihn keinerlei Mühe kostete, weil Sophie die Natur liebte. »Wir sollten uns Pferde nehmen«, schlug er bei einem dieser Spaziergänge vor, »da sieht man noch viel mehr vom Land.« Vor ihrer Heirat war Sophie viel ausgeritten. Sie sehnte sich danach, wieder über die Wiesen zu galoppieren.

Beim nächsten Besuch führte Fritz als Handpferd einen schönen Fuchs mit. »Für dich«, sagte er. Sophie bewunderte das Pferd, saß schließlich auf und ritt los, als hätte sie erst gestern im Sattel gesessen. Zusammen durchstreiften sie die Gegend und galoppierten bei Wind und Sonnenschein über die abgeernteten Felder. Fritz steckte Sophie mit seinem Übermut an. Bei einer Rast saßen sie nah beieinander unter einem Baum, an dessen Stamm sie die Pferde gebunden hatten. Fritz überraschte Sophie mit der Frage, warum sie sich nicht scheiden lasse. »Alle Welt scheint nichts anderes von mir zu wollen, als dass ich meinen Mann verlasse.« »Alle wollen nur dein Bestes.« Die fast kahlen Äste, zu denen Sophie hinaufsah, ragten in den blauen Himmel. Einzelne Wolken zogen vorbei und veränderten dabei ständig ihre Form. Eine sah aus wie ein Pferdekopf, wurde länger und verwandelte sich langsam in ein Krokodil. »Dein Mann ist es doch nicht wert, dass du bei ihm bleibst. Das weißt du selbst«, flüsterte Fritz. Er rückte näher, umarmte sie und küsste ihr Kinn. Sophie hielt sich an seiner Schulter fest, als sie zusammen nach hinten sanken. Das Laub um sie herum raschelte. Sie suchten sich. »Du bist wundervoll, viel zu schade für deinen Mann. Mach es wie Thea.«

Sophies Schwester wunderte sich, wie oft Sophie neuerdings Besuch von Fritz bekam und warum sich der junge, hübsche Mann mit den dunklen Locken nicht mehr blicken ließ. Die Familie saß beim Essen, Sophie, ihre Schwester mit Mann und Kindern, die Verwandte, deren altmodisches Spitzenhäubchen fortwährend zitterte, weil sie den Kopf nicht mehr ruhig halten konnte, ein befreundetes Ehepaar und Fritz. »Du meinst wahrscheinlich Clemens. Der ist in Göttingen«, erklärte Sophie ihrer Schwester. Fritz beschäftigte sich intensiv mit dem Stück Fleisch auf seinem Teller. Sophies Schwester fragte weiter, wunderte sich, dass Clemens kein Examen machen wollte, fragte, wie es ihm in Göttingen gefalle. »Das weiß ich leider nicht«, sagte Sophie. »Ja, hat er denn noch nicht geschrieben? Wie sonderbar«, meinte der Schwager. Fritz sah noch immer unverwandt auf seinen Teller. Schließlich hob er den Kopf: »Mir fällt gerade ein, er hat mir einen Brief an dich gegeben, Sophie, damals bei seiner Abreise aus Jena. Ich hatte es völlig vergessen. Natürlich habe ich ihn jetzt nicht bei mir. Das nächste Mal, wenn ich komme, gebe ich ihn dir ganz bestimmt. Es wird sicher nichts Wichtiges drinstehen.« Die Sache schien ihm peinlich, und damit sie sofort wieder in den Hintergrund geriet, begann er über Poetologie zu reden. »Der Geist der Liebe muss in der Poesie überall schweben.« »Wie? Das verstehe ich nicht«, krächzte die alte Verwandte. »So geht es mir auch«, befand der Schwager, und Sophies Schwester schloss sich an.

Am nächsten Tag reiste Fritz ab. Zwei Wochen später kam Jette, begleitet von Stefan. Er hatte sein Examen bestanden. Sophie freute sich über Jettes Besuch und gratulierte Stefan. Beim Begrüßungstee im Wohnzimmer erzählte Jette den neuesten Tratsch aus Jena, und dass der Geheimrat aus Weimar nach Göttingen gereist sei. Stefan wusste mehr darüber. »Die Studenten haben ihn mit einem Fackelzug gefeiert. Das hatte man ihnen vorher eigentlich verboten, aber sie haben sich nicht dran gehalten.« »Woher weißt du das«, fragte Sophie. »Clemens hat mir geschrieben. Er hat bei diesem Fest jemanden kennengelernt.« »Ach, ja«, meinte Sophie, »wen denn?« »Arnim, heißt er, von sogar, Carl Joachim Friedrich Ludwig von Arnim. Clemens hält ihn für einen großen Dichter, obwohl er eigentlich Physik studiert. Er hat ein paar wissenschaftliche Aufsätze veröffentlicht.« »Wieso hält Clemens ihn dann für einen Dichter?« »Ich weiß es nicht. Clemens schwärmt jedenfalls von ihm. Trotzdem bittet er nicht seinen neuen Freund, sondern mich, seinen verwilderten Roman fertigzuschreiben. Ich hätte ja jetzt Zeit. Er hat einfach keine Geduld. Das Abschreiben ist ihm zu viel, die ganze wilde Geschichte interessiert ihn nicht mehr. Für den Schluss fehlt ihm noch immer eine Idee, ich soll mir was einfallen lassen. Einen Verlag hat er anscheinend, aber keine Zeit.«

Stefan und Jette blieben zwei Tage. Als sie wieder abreisten, gestand Stefan, Sophies Gegenwart habe ihn so angeregt und inspiriert, dass es ihm ein Leichtes sein werde, das Romankapitel für Clemens zu schreiben. »Du verwandelst jeden, der zu dir kommt, in einen Dichter.«

Trotz all der Besuche blieb Sophie viel Zeit zum Arbeiten. In dem kinderreichen Haus fand sich für Gisela immer ein Spielgefährte. Es fehlte nicht an Hausmädchen, die nach den Kindern sahen, und Sophies Schwester war eine tüchtige Hausfrau, die nicht zuließ, dass Sophie ihr half.

Ab und zu kam Karl zu kurzen Besuchen. Sophie freute sich eher, wenn er Camburg wieder verließ, als über seine Ankunft.

Im Dezember waren Stefan und Fritz gemeinsam da. Je dunkler und länger die Abende wurden, umso mehr spürte Sophie, wie sehr ihr die Gesellschaftsabende, die Konzerte und das Theater fehlten. Sollte sie doch nach Jena zurückkehren? Stefan drückte Sophie herzlich die Hand zur Begrüßung. Fritz führte ihre Hand an seine Lippen. Sophie amüsierte sich über dieses Kavaliersgehabe, das so gar nicht zu ihm passte.

Die beiden Freunde stiegen die Treppe hinauf, um sich oben in dem Zimmer, in das der Hausknecht die Reisetaschen brachte, frisch zu machen. Das Zimmer lag unterm Dach, direkt über dem von Sophie, die unten im Wohnzimmer auf die Freunde zu warten beschloss. Sie setzte sich auf einen der Lehnstühle am Fenster und wechselte ein paar Worte mit der alten Verwandten, die auf dem Sofa unter einem Landschaftsbild saß und strickte. Das Bild über ihrer Spitzenhaube zeigte eine griechische Tempelruine mit vielen Säulen.

Stefan kam als Erster wieder herunter. Als er das Zimmer betrat, begrüßte er die alte Dame mit einer Verbeugung und erzählte, dieser Besuch sei ein Abschied. Er werde mit Beginn des Jahres Arzt in Göttingen. Fritz kam und meinte, Stefan werde bestimmt ein guter Arzt. »Wir können froh sein, dass nicht jeder dieses Ziel ernstlich anstrebt.« Sophie fragte, wie er das meine. »Nun, unser Clemens hat glücklicherweise rechtzeitig aufgegeben. So bleiben wir doch wenigstens vor einem unsteten Träumer bewahrt, wenn wir mal krank sind. In seine Hände würde ich mich nicht begeben. Bei Stefan ist das ganz was anderes, nicht wahr, mein Lieber.« Er klopfte Stefan vertraulich auf die Schulter und schien gereizt. Später beim Essen produzierte er ständig spitze Bemerkungen von manchmal unangenehmer Schärfe. Man lachte zwar, aber jeder war froh, wenn die Spitzen einen anderen trafen, nicht einen selbst. Stefan bekam viel ab, blieb aber freundlich, so als könnte ihn nichts verletzen. Er schien vollkommen damit zufrieden, Sophie anzusehen und mit ihr an einem Tisch zu sitzen.

Beim Frühstück am nächsten Morgen redete Fritz von Ausflügen zu Pferd und Bäumen, unter denen das Laub wie ein dicker Teppich liege.

Am Abend, als alle im Wohnzimmer zusammensaßen und Glühwein tranken, auch der Kachelofen war gut geheizt, begann Fritz wieder einmal über die Liebe zu philosophieren. Ohne sie gebe es kein Theater, keine Literatur. »Was erregt in uns so viel Leidenschaft wie die Liebe«, fragte er in die Runde. »Diese Parteinahme für die Leidenschaft wundert mich«, sagte Sophie, »bei Schillers Dramen stört sie dich doch.« Da jeder etwas über Leidenschaft und Vernunft sagen wollte, blieb es Fritz erspart, den Widerspruch zu erklären. Der Schwager meinte, er hege eine große Leidenschaft fürs Rationale. »Aber die Liebe ...«, sagte die alte Verwandte. Weiter kam sie nicht. »Die Liebe ist eine Passion«, unterbrach sie der Schwager. »Ein Lebenselixier«, meinte Stefan. »Das Leben selber«, sagte Sophie, »nur die Liebe bringt Selbständigkeit und Leben in den dumpfen Lebenskreis einer Frau, die nichts kennt als die Zimmer ihres Hauses. Nur durch die Liebe kann sie aus häuslicher Beschränkung treten, erfährt die Welt und die Rechte des Lebens. Liebe ist Teilhabe und macht dadurch selbständig.« Sophies Schwester und der Schwager wechselten Blicke des Einverständnisses. Fritz grinste und Stefan fragte, ob das denn auch für Sophie und ihre Ehe gelte. »Ich würde wirklich gerne wissen, wen du liebst«, sagte Fritz, »Karl kann es nicht sein, durch den du an der Welt teilhast. Mit wem genießt du die Rechte des Lebens? Deine Theorie, so schmeichelhaft sie für uns Männer ist, muss falsch sein. Es ist doch nicht etwa Clemens?« Sophies Schwester sah Fritz perplex an. Der Schwager schaute streng. Stefan fand ausgleichende Worte und äußerte mit ruhiger Stimme, am wichtigsten sei es doch, wenn man den jeweils eigenen, von der Natur gegebenen Anlagen gemäß leben könne. »So ist es«, stimmte Sophie zu, »wer nicht der eigenen Natur folgen kann, wird unglücklich. Niemand darf zu einem Leben gezwungen werden, das der natürlichen Weise nicht entspricht. Jeder und jede sollte die angeborenen Fähigkeiten entwickeln und selbstbestimmt nutzen dürfen.« Der Schwager runzelte die Stirn. Stefan sah Sophie aufmerksam an. Die alte Verwandte staunte mit aufgerissenen, halbblinden Augen über Sophies Rede. »Nur Schauspielerinnen und Künstlerinnen gelingt es, selbstbestimmt zu leben und Sinn in ihrer Arbeit zu finden. Doch alle Frauen sollten selbstbeständig leben dürfen.« Der Schwager mahnte zur Mäßigung. Fritz aber wollte noch mehr Freiheitliches aus Sophie herauslocken und erwähnte die freie Liebe, was den Schwager ärgerte. Es entspann sich schließlich ein Gespräch über freiheitliche Gesinnung und ihre Folgen, über die Revolution und die Terrorjahre in Paris. Sophie redete viel und Stefan hörte mit glänzenden Augen zu. »Jetzt mit dem Ersten Konsul an der Spitze des Staates scheint es dort endlich ruhiger zu werden«, sagte der Schwager. Sophie zweifelte, ob diese Entwicklung, so gut sie für die staatliche Ordnung sein mochte, auch das Richtige für die freiheitliche Gesinnung war. Ihre Schwester gab schließlich, indem sie sich erhob, das Zeichen, schlafen zu gehen. Jeder nahm einen kleinen Leuchter mit, um durchs dunkle Treppenhaus aufs Zimmer zu gehen. Es war spät und das Personal schlief längst.

Als Sophie im Bett lag, hörte sie die Stimmen von Stefan und Fritz in dem Zimmer über sich. Die beiden dachten längst noch nicht ans Schlafen. Sie schienen zu streiten. Offenbar war Fritz eifersüchtig und warf Stefan vor, Sophie mit den Augen geradezu aufzusaugen. Sie verstand nicht jedes Wort, aber ihr schien, als wenn die beiden über Clemens redeten. Es war kalt und Sophie zog die Decke bis zur Nasenspitze. Sie hörte, wie Stefan Fritz vorwarf, er habe Clemens weisgemacht, Sophie plane eine Reise nach Italien. »Und seinen Brief hast du ihr auch nicht gegeben, stimmt’s?« Sie hörte Fritz lachen. »Und du? Hast du etwa ein gutes Wort für ihn bei ihr eingelegt, wie er dich gebeten hat?« Es kam keine Antwort. Stattdessen hörte Sophie die triumphierend laute Stimme von Fritz: »Na, siehst du. Aber mach dir nichts draus. Du bist deswegen kein schlechter Mensch. Einer ist draußen. Jetzt wollen wir sehen, wie’s weitergeht.« Eine Weile herrschte Ruhe. »Lass den Unsinn«, hörte sie plötzlich Stefans Stimme, »lass das, du spinnst.« Dann lachte er. Was machten die beiden, welchen Unsinn sollte Fritz lassen? Sophie vernahm die Stimme von Fritz: »Sophie oh, oh, mach so, so, so, mit dem Popo.« Er wiederholte es immer wieder und immer lauter. »Du bist mir zu frivol, mein Lieber. Hör auf damit. Ich schlaf jetzt«, hörte sie Stefan sagen.

Am nächsten Tag verabschiedete Sophie sich herzlich von Stefan. Er stand schon in der Haustür, warm angezogen mit Hut, Mantel und Schal. Draußen schneite es. Sie würden sich lange nicht wiedersehen. »Ich muss erst in der neuen Stadt Fuß fassen, aber irgendwann komme ich sicher wieder einmal hier in die Gegend.« »Du wirst dich dort schnell einleben«, sagte Fritz übertrieben munter, »ich gebe hier solange den Alleinunterhalter, damit Sophie sich nicht langweilt. Meine Liebe, meine Schönste, ich komme gewiss bald wieder.« »Daran zweifle ich nicht.« Mit kühlem Lächeln reichte Sophie ihm die Fingerspitzen, zog die Hand aber sofort zurück, als er sich zu einer Verbeugung mit Handkuss anschickte. »Immer zu Scherzen aufgelegt«, sagte sie zu Stefan gewandt.


Sophie arbeitete viel. Vor ungefähr einem Jahr war ihr kleiner Sohn gestorben und sie war froh darüber, ihre Tochter bei sich zu haben. Die Kleine hustete, aber schien ansonsten gesund, auch wenn sie ein bisschen empfindlich war.

Mitten in der Karnevalszeit traf Karl in Camburg ein. Er hoffte, Sophie zur Rückkehr nach Jena zu bewegen, und sprach vom Theater, den Bällen, Konzerten und Gesellschaftsabenden. Aber Sophie blieb entschlossen, den ereignislosen Winter in Camburg durchzustehen. Sie dachte viel über ihre Ehe nach, über das Leben, fragte sich, ob sie nicht alles falsch mache.

Von einem Tag auf den anderen bekam Gisela hohes Fieber, der Hals brannte und sie jammerte wie ein Kätzchen. Sophie saß an ihrem Bett. Zum Glück verstand ihre Schwester viel von Krankenpflege. Sophie hätte es nicht verkraftet, wenn sie nach dem Tod Gustavs im letzten Jahr jetzt auch Gisela verloren hätte.

Was aber, überlegte sie, würde sie fühlen, wenn Karl plötzlich nicht mehr da wäre? Er bedeutete ihr gar nichts, ihre Ehe war eine Farce. So durfte es nicht bleiben. Was ihr plötzlich ganz klar war, sollte auch für die Welt klar werden. Mit Karl verband sie nichts. Sie schrieb ihm einen Brief, indem sie ihm erklärte, dass sie eine klare Trennung wollte. Die Scheidung.

Der Winter ging zu Ende. Sophie entdeckte die ersten Schneeglöckchen im Garten. Eine Kutsche näherte sich und hielt vor dem Haus. Karl stieg aus und brachte Jette mit. Hoffte er, dass Jette Sophie zur Vernunft bringen und überreden konnte, wie bisher weiterzuleben?

Sophie brachte Jette auf ihr Zimmer. Aus ihrer Reisetasche holte sie allerlei Briefe mit Gedichten und sonstigen Texte hervor, die junge Leute, vor allem Frauen, an die Adresse in Jena geschickt hatten. Sophie sollte die Gedichte und Aufsätze, Geschichten und Entwürfe lesen und sich dazu äußern. Alle, die ihr etwas schickten, hofften auf eine freundliche Antwort. Leider konnte Sophie sie nicht immer geben. Sie legte die Briefe mit den Manuskripten ungeöffnet in die Schublade einer Kommode aus Lindenholz neben ihrem Schreibtisch. Es war ein ganz schlichtes Möbelstück. Persönlich wichtige Briefe kamen in eine Schublade in ihrem Schrank aus Kirschbaumholz.

Sophie war glücklich, Jette wiederzusehen und mit ihr wie früher am Familientisch zu plaudern. Nach dem Essen gingen sie zu zweit im Garten auf und ab. Sophie fragte, ob Karl Erkundigungen darüber eingezogen habe, wie eine Scheidung ablaufen könnte. »Ich glaube schon, aber ich weiß nicht, ob er etwas herausgefunden hat.« Wer mochte für eine Scheidung zuständig sein? Der Pastor, der Bürgermeister? »Wie war das denn bei Thea?«, fragte Sophie. Fritz hatte so oft von Theas Scheidung erzählt, dass sie sich wunderte, kaum etwas über die notwendigen Schritte und Maßnahmen der Verwaltung gehört zu haben, die in so einer Sache nötig waren. »Ich werde Thea und Fritz direkt danach fragen, sobald ich zurück in Jena bin«, meinte Jette und schlug vor, Sophie solle sich an den Geheimrat in Weimar wenden. »Er hat Einfluss und weiß sicher einen Weg. Du kennst ihn doch gut, nicht nur so, wie ihn jeder im Land kennt. Du kennst ihn so gut, dass er dich persönlich empfängt. Fahr doch mal zu ihm. Rede mit ihm, oder mit Schiller.« Jette überlegte noch eine Weile, was Sophie unternehmen könnte. »Es scheint alles so kompliziert. Wo würdest du wohnen? Wovon leben?« »Ich verdiene doch Geld mit meinen Büchern. Ich müsste einfach noch mehr arbeiten, vor allem als Herausgeberin.« Die beiden gingen an der Gartenmauer entlang, errichtet aus Steinen, wie man sie in der Gegend fand. Die Bäume warfen lange Schatten, denn die Sonne erreichte zu dieser Jahreszeit mittags noch nicht den hohen Stand wie im Sommer. Jenseits der Mauer im Nachbargarten gackerten Hühner. In der Ferne bellte ein Hofhund.

Jette sagte, auch sie habe sich überlegt, wie sie Geld verdienen könne. »Ich lebe vom Geld, das Friedrich mir gibt, ich bin angewiesen auf dich und Karl. Wenn ich selber etwas mehr Geld hätte ...« Eine Möglichkeit wäre, feine Handarbeiten anzufertigen und zu verkaufen, oder sie könnte eine Stelle als Gesellschafterin bei einer Gräfin oder adligen Familie annehmen. »Meine Sprachkenntnisse wären ihnen auf Reisen sehr nützlich. Auch beim Vorlesen italienischer oder englischer Romane. Ich dachte mir, ich glaube, das Beste ist, ... ich könnte ...« »Ja, was denn?« »Ich könnte versuchen, Romane zu übersetzen. Aber muss dann mein Name unter dem Buchtitel stehen?« »Nicht unbedingt. Aber wovor hast du Angst, liebe große Schwester? Was befürchtest du?«, lachte Sophie und versuchte Jettes Bedenken zu zerstreuen. Jette fragte, ob es nicht möglich sei, dass Sophie sie als jungen Mann bei Verlagen empfehle. »Über Frauen lacht man doch, wenn sie sich anmaßen, aus dem häuslichen Bereich herauszutreten. Wenn man mich für einen jungen Mann hält, wird man meine Bemühungen ernst nehmen. Wer traut einer Frau schon etwas zu?« »Automatisch nimmt man auch Männer nicht ernst, vor allem wenn sie noch sehr jung sind. Sie müssen schon etwas leisten«, sagte Sophie. Jette lächelte und fragte nach Clemens. »Ich habe keine Briefe mehr von ihm bekommen und schreibe ihm auch nicht.« Sie erreichten das Gartentor und kehrten nun auf direktestem Weg zum Haus zurück. Sie froren, denn obwohl die Sonne sie herausgelockt hatte, war es ein kalter Tag. »Ich bin froh, dass du ihn los bist. Er ist ein bisschen verrückt und ziemlich anmaßend. Findest du nicht, dass er etwas Dämonisches hat?« Sophie lachte leise und umarmte Jette. »Da müsste er aber ein sehr junges Teufelchen sein, ganz ohne Hörner. Auch einen Pferdefuß kann ich nicht an ihm finden.« »Falsch. Jung ist er, das stimmt, aber ich finde, dass er sich seine Hörner noch gehörig abstoßen muss. Du solltest nicht über mich lachen.« »Aber ich lache doch gar nicht über dich. Ich stelle mir nur Clemens als Teufel vor. Und wie gefällt dir Fritz?« »Ach, der ist auch nicht viel besser. Aber warum fragst du?« Sie waren beim Haus angekommen und betraten den Flur. »Vielleicht suche ich einen Liebhaber. Was meinst du?« Jette fasste beide Hände Sophies und bat sie eindringlich, sie möge sich das gut überlegen. »Fritz hat doch eine Freundin. Das gibt viel Verwirrung. Er ist unterhaltsam, aber er ist nichts für dich.« Sophie entzog Jette ihre Hände. »Nimm’s nicht so ernst. Ich tu’s auch nicht«, sagte sie. Jette lächelte erleichtert. »Da bin ich froh. Er würde dich nur ausnutzen, so wie jetzt seinen Bruder. Bei ihm wohnt er und ich glaube, er lebt von dem Geld, dass Thea als Unterhalt von ihrem geschiedenen Mann bekommt. Mit ihm würdest du nicht glücklich. Glaub es mir.« Gisela lief an ihnen vorbei, zusammen mit zwei Cousinen, hinaus in den Garten. Sophie sah den Kindern nach. Die warme Jacke, die Gisela trug, bedeckte ihre kurzen Kinderbeine und ließ sie fast wie eine Kugel erscheinen.

Sophie arbeitete an ihrem Schreibtisch, als Karl hereintappte. Sie stand auf und Karl bemühte sich, höflich zu sein. Aus Versehen stieß er gegen das Pianino. »Seitdem du nicht mehr zu Hause bist, spielt niemand das Instrument bei uns.« Sophie ging nicht darauf ein und erklärte, dass sie die Trennung von ihm nicht nur erwäge, dass sie ihm nicht vorspiele, ihn verlassen zu wollen, um ihm Zugeständnisse abzupressen. Sie wolle die Scheidung tatsächlich. Er solle endlich einsehen, dass sie es ernst meine. Karl hörte zu. Er wirkte hilflos, was den grobschlächtigen Mann noch mehr wie einen tapsigen Bären erscheinen ließ. Er ließ sich auf Sophies Bett nieder. »Ja, aber dann ...« Sophie ging langsam durchs Zimmer, blieb einen Moment am Pianino stehen, stellte sich ans Fenster und sah hinaus, ohne darauf zu achten, was sie sah, Karl den Rücken zugewandt. »Dann muss man mal herausfinden, auf welche Weise das überhaupt geht«, hörte sie Karls Stimme. Er wusste also wirklich nichts darüber, hatte bisher nichts in Erfahrung gebracht. Wie Sophie kannte er niemanden, der im Herzogtum geschieden worden wäre. Aber als Juraprofessor musste es ihm möglich sein, Bewegung in die Angelegenheit zu bringen. Außer Thea gab es keine Geschiedenen in Jena, aber die war aus Berlin. »Man behauptet übrigens«, sagte Karl, »dass Fritz von dem Geld, das Thea ...« »Ich weiß, ich weiß«, fiel Sophie ihm ins Wort. »Ich kann dir jedenfalls nicht so viel Unterhalt zahlen, dass du deine Liebhaber damit aushalten könntest.« »Sollst du auch nicht. Ich verdiene selber Geld. Aber zwei- oder dreihundert Taler im Jahr müssten es schon sein, vor allem für Gisela.« »Was?«, fuhr Karl auf, »du willst Gisela behalten? Darüber müssen wir noch reden. Und zweihundert Taler, das ist viel zu viel.« Missmutig tappte er zur Tür. Beim Hinausgehen warf er sie geräuschvoll hinter sich zu.

Am Tag vor der Abreise von Karl und Jette – die Sonne schien – unternahmen die beiden Schwestern einen langen Spaziergang durch den Ort und die umliegenden Felder. Die Bauern gingen hinter dem Pflug, Krähenschwärme folgten ihnen. Auf einigen Feldern wurde bereits gesät. Jette fragte, ob Sophie sicher sei, wirklich eine Scheidung zu wollen, es gäbe doch auch weniger komplizierte Möglichkeiten. Doch Sophie ließ sich nicht davon abbringen. Sie wollte eindeutige Verhältnisse, keine Ehe, die nur nach außen wie eine erschien, wo sie zwar ihre Ruhe hatte, in der sie sich aber nicht lebendig fühlte. »Aber er hat doch versprochen, dass er dir alle Freiheiten lässt«, wandte Jette ein. Ohne klare Stellung im Leben, ohne Stimmigkeit, meinte Sophie, bleibe auch die eigene Persönlichkeit unklar wie im Nebel und werde zerrissen oder zermahlen von einander widerstrebenden und widersprechenden Verhältnissen. »Halbherzigkeit und Unentschiedenheit schaden der Seele. Ich hoffe, dass sich alles regeln lässt. Ich will frei sein. Ich will ich selbst sein und mich nicht verstellen.«

Lotte, die über Ostern für einige Wochen in Weimar bei ihrer Familie war, kam für einige Tage zu Besuch. Ein Bekannter aus Weimar begleitete sie. Wilhelm war ein ruhiger, freundlicher Mann mit unauffälligen Gesichtszügen, noch ohne feste Anstellung, was ihm einen freien Umgang mit seiner Zeit ermöglichte. Lotte bezog das Zimmer neben dem von Sophie. Wilhelm, der junge Mann aus Weimar, bekam das Zimmer unterm Dach.

Lotte saß mit Sophie am Fenster im Wohnzimmer. Die beiden Lehnstühle waren mit einem graublauen Stoff bespannt. Die gelben Vorhänge hatten Streifen in dieser Farbe. An den Wänden hingen einige Scherenschnitte und das Bild eines Mannes. Lotte sah zu dem Landschaftsbild hinüber, das in Nähe des Kachelofens über dem Sofa hing. Sie betrachtete es eine Weile aus der Ferne und meinte dann, es sei ihr zu klassisch, dieser Tempel, die Säulen. Das Porträt des Mannes dagegen gefiel ihr, er habe so einen ernsten Blick, vor dem man nichts als die Wahrheit sagen könne. »Der Vater meines Schwagers. Das Landschaftsbild mochte Clemens auch nicht, so wie du. Er fand es altmodisch und heidnisch. Gotisches gefällt ihm besser.« »Hast du denn inzwischen wieder etwas von ihm gehört?« »Nein, er ist wohl sehr beschäftigt mit seinen neuen Freunden in Göttingen. Auch ich habe allerlei zu tun. Vielleicht kannst du mir einen Rat geben. Was meinst du, was für Romane könnte man aus anderen Sprachen übersetzen, was hätten die Leserinnen gern? Ich stehe in Verbindung mit zwei Verlegem, wir wechseln häufig Briefe, aber wir haben uns noch nicht entschieden, was am besten wäre.«

Lotte beneidete Sophie, dass sie so frei über ihre Zeit und was zu tun war, entscheiden konnte. Doch sie bedauerte, dass die Verbindung zu Clemens ganz abgerissen war, dass auch sie ihn nicht in Jena oder Weimar treffen werde. »Jette hält ihn für teuflisch«, sagte Sophie mit amüsiertem Glitzern in den Augen. »Da täuscht sie sich. Er hat nur sehr viel Phantasie und ist ein bisschen sprunghaft in seinen Entschlüssen. Aber was macht das schon. Ich fand ihn immer sehr anregend. Und er kleidet sich so elegant.« Lotte schwärmte von Clemens’ Art zu gehen und wie geschmeidig er sich bewege. Wenn er ein Zimmer betrete, höre man es kaum. »Ganz im Gegensatz zu Karl«, sagte Sophie, »seine Trampelschritte hört man lange, bevor er zur Tür hereinkommt und sichtbar wird.« Lotte meinte, Sophie könne sich mit Karl noch glücklich schätzen. Ihre eigene Ehe sei viel bedrückender. Sie jammerte wie schon so oft über das dunkle, kalte Gemäuer, in dem sie zu leben gezwungen war. »Aber am schlimmsten ist der Graf selber. Ich hätte ihn nie heiraten sollen. Ein Geizkragen, der nur ans Geld denkt. Er nimmt fünfzehntausend Reichstaler im Jahr ein, aber Geld für Reisen muss ich ihm mühsam abringen, und wenn ich mal jemandem eine kleine Summe leihen will, geht das gar nicht.« Sophie begann von ihrer geplanten Scheidung zu reden. »Das beschäftigt mich sehr. Ich komme kaum dazu, an andere Dinge zu denken. Ich wünschte, diese Scheidungsangelegenheit käme endlich voran. Ich werde noch ganz krank, wenn nicht bald klar ist, wie und ob wir vor dem Gesetz getrennt werden können und wer mich vertritt. Als Frau brauche ich einen Vormund, aber es scheint niemand bereit dazu zu sein.« »Wahrscheinlich will sich niemand offen gegen Karl stellen. Wäre das denkbar? Aber ist denn eine Scheidung wirklich nötig? Du lebst doch, meine ich, ganz für dich, bist frei und tust Dinge, die kaum eine andere Frau machen kann.« Sophie gab ihr recht, für den Moment, aber wenn Karl ihr diese Freiheiten nehmen wolle, gebe es keine Möglichkeit, ihn daran zu hindern. »Es ist sein Recht, mich in sein Haus zu holen, und er darf alles von mir verlangen. Er hat das Recht. Wer sagt mir, dass er es nicht nutzt. Wenn er will, muss ich tun, was man von einer Hausfrau erwartet, all diese Pflichten des Alltags, die den Tag zerreißen. Ist es nicht so, dass diese Zerrissenheit viele von uns unglücklich macht? Sie zerstreut und verbraucht die Kräfte, so dass die Frauen, selbst wenn sie sich ein größeres Ziel vornehmen, weder Zeit noch Ruhe haben, darauf zuzusteuern. Durch diese Ziellosigkeit gerät das Leben zu einem Einerlei von gleichen Tagen und Trostlosigkeit. Es ist so wichtig, genau zu wissen, was man will, und das dann auch zu tun.« »Aber diese Scheidung. Hast du alle scheinbaren Nebensächlichkeiten gut bedacht? Ich würde mich auch gerne von meinem Mann trennen. Er ist eigentlich gar kein richtiger Ehemann, ich bin mit einem Tresor verheiratet. Aber wenn ich bedenke, was mit den Kindern wird. Und wo sollte ich wohnen? Er wird mir die Kinder nicht überlassen. Dabei würde ich mich gerade auch ihretwegen von ihm trennen, denn er behandelt sie völlig falsch.« Die Tür öffnete sich. Wilhelm und Sophies Schwager kamen herein. Sie rückten zwei Stühle zu den Lehnsesseln, in denen Sophie und Lotte saßen. Sophie fragte Wilhelm nach den neuesten Theateraufführungen in Weimar. Sie redeten über das Theater, die Stadt und über das Schloss. »Wird es jetzt bald fertig sein? Was sagt der Geheimrat? Er leitet doch die Schlossbaukommission, habe ich recht?«, fragte der Schwager. »Er hat fast in allem, was in Weimar und im Herzogtum passiert, ein Wort mitzureden«, erwiderte Wilhelm. Sie sprachen über Schiller, über Jena und Fritz, der zusammen mit Thea und ihrem kleinen Sohn derzeit ganz allein das große Haus bewohnte, da sein Bruder und seine Frau auf Reisen waren.

Sophie schickte Jette ein englisches Buch. Ihr Verleger war der Meinung, dieser Roman, der im sechzehnten Jahrhundert spielte und in der Nähe von Bremen begann, könnte für die deutschen Leserinnen interessant sein. Die Handlung fesselte. Sophie wünschte Jette viel Freude an der Arbeit. Sie solle sich nur nicht zu genau ans Original halten, dürfe es auch gerne kürzen. Sophie hatte vor einigen Jahren einen französischen Roman übersetzt und sie erinnerte sich gerne an diese Arbeit. Jette sollte drei Taler pro Bogen bekommen – eigentlich zu wenig, aber für den Anfang, da Jette noch nie ein Buch übersetzt hatte, musste es genug sein.

Nach dem Abendessen saß Sophie mit ihrer Schwester, dem Schwager und einigen Gästen noch im Wohnzimmer zusammen, die Vorhänge waren geschlossen und der Raum von mehreren Lampen erhellt. Einer der Gäste fragte, als das Gespräch aufs Übersetzen kam, ob diese Arbeit nicht genauso gut sei wie Dichten. »Ja, mancher ist der Meinung, dass alle Poesie Übersetzung sei«, sagte Sophie, »aber das freie Erfinden ist etwas anderes, als sich am gegebenen Text entlangzutasten. Übersetzungen können nur etwas für Zeiten sein, wo man nicht selber dichtet.« Der Schwager und Sophies Schwester hörten aufmerksam zu. Einer der Gäste meinte, ein berühmter Mann habe gesagt, dass es ohne Übersetzungen keine Weltliteratur gebe? »Ja sicher«, antwortete Sophie, »niemand wird das bestreiten.« Sie überlegte, wer das gesagt haben könnte, und war sich ziemlich sicher, dass es der Geheimrat gewesen sein musste. Er war sehr für Übertragungen in andere Sprachen und wechselseitige Annäherung der Kulturen. »Unter unseren Bekannten«, sagte Sophie, »gibt es ja sehr viele, die an irgendeiner Übersetzung arbeiten, der eine aus dem Griechischen, der andere übersetzt irgendetwas Römisches, dann aus dem Französischen, Englischen. Sogar aus den orientalischen Sprachen.« »Scheint ja enorm in Mode zu sein, dieses Übersetzen«, sagte einer der Gäste. »Mit Recht, es ist wichtig, die Literatur und Kultur anderer Länder zu kennen«, betonte Sophie, »ohne Übersetzungen käme man sich in der eigenen Kultur wie gefangen vor. Man will doch wissen, was anderswo gedacht und geschrieben wird.« Sophies Schwester fragte nach Jette und dem englischen Roman, den Sophie für sie ausgesucht hatte. Sophie erzählte, worum es ging, und über der Handlung der Geschichte kam das Gespräch schließlich ganz ab von Fragen der Übertragung in die deutsche Sprache.

An einem regnerischen Tag saßen Sophie und Gisela auf dem Sofa im Wohnzimmer und schauten sich zusammen Bertuchs Bilderbuch für Kinder an. Gisela saß an Sophie gekuschelt und zeigte mit dem Finger auf einen Fisch. Draußen hörte man Pferdegetrappel und den Ruf eines Kutschers. Ein Wagen hielt vor dem Haus. Gisela sprang auf, um aus dem Fenster zu sehen. Sie stieg auf einen Holzschemel, der am Fenster stand, und schob die Gardine zur Seite: »Vater!«, rief sie. Sie sprang vom Schemel herunter und rannte zur Tür. Sophie wartete, bis Karls schwere Schritte im Hausflur zu hören waren. Das Hausmädchen war ihm entgegengelaufen, Sophies Schwester und der Bruder standen zum Empfang an der Wohnzimmertür und zogen sich nach der Begrüßung zurück. »Ihr werdet Wichtiges zu besprechen haben«, sagte der Schwager, indem er die Tür schloss und Sophie mit Karl allein ließ.

Es wurde ein langes Gespräch, in dem Sophie Mühe hatte, ihr Ziel, die Scheidung, nicht im Nebel schöner Versprechungen und Schmeicheleien aus den Augen zu verlieren. Sie spürte, dass Karl oft kurz davor war, wütend zu werden, aber er bemühte sich, ruhig zu bleiben. Er meinte es mit seinen Versprechungen offenbar ernst, zu denen auch gehörte, dass Sophie nie wieder unter groben Ausbrüchen zu leiden haben würde. Er behauptete, sie immer noch zu lieben. Er brauche sie. Doch Sophie beharrte auf der Trennung. In letzter Verzweiflung bat Karl sie schließlich, ihm bei der Suche nach einer neuen Frau zu helfen, wenn Sophie ihn wirklich verlassen wolle, was er immer noch nicht glauben könne. »Ach Karl. Du wirst, da bin ich ganz sicher, bald selber eine Frau finden, die besser zu dir passt als ich. Du brauchst mich nicht, erst recht nicht, um eine neue Frau zu finden. Es würde einen Schatten auf deine neue Ehe werfen, wenn ich täte, was du vorschlägst.«

Karl musste einsehen, dass er Sophie nicht zurückgewinnen konnte. Zögernd begann er zu berichten, unter welchen Bedingungen eine Scheidung möglich wäre. »Es macht wirklich große Umstände. Du brauchst nicht nur einen juristischen Vormund, der dich vertritt, es kann auch nur mit einer persönlichen Erklärung und Unterschrift des Herzogs geschehen. Aber wenn du es unbedingt willst ...« Er wartete darauf, dass Sophie Zweifel kamen. Der Regent selber musste bemüht werden. Das sollte sie ins Wanken bringen. Doch es verfing nicht. Sie durfte jetzt nicht unsicher werden.

Dennoch fühlte sie sich in den nächsten Wochen oft unwohl. Wollte sie zu viel? Brauchte sie statt der Freiheiten, die sie hatte, wirklich die große Freiheit, ganz allein für sich zu stehen, alles selber zu entscheiden und zu regeln? An manchen Tagen hätte sie gern alles rückgängig gemacht. Dann wieder wünschte sie, dass alles schon hinter ihr läge. Es waren noch viele Punkte zu klären. Karl kam nicht mehr nach Camburg. Er hatte sich damit abgefunden, dass Sophie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, und alles, was noch zu klären war, konnte von den Anwälten und mit Briefen erledigt werden.

Sophie versuchte zu arbeiten. Außerdem schrieb sie Briefe und versuchte, jungen Leuten mit Empfehlungen zu helfen. Sie empfing Besuch. Fritz war ein besonders anregender Gast. Auch Wilhelm aus Weimar kam dann und wann mit einem Freund für ein paar Tage.

Die Kirschen reiften, das Obst an den Bäumen und Spalieren wurde runder. Überall blühte es bunt. Auf den Tischen und Kommoden im Haus standen mit Rosen gefüllte Vasen. Der Scheidungstermin stand unmittelbar bevor. Sophie war froh, ihre Schwester und die Familie in Camburg um sich zu haben. Persönlich musste sie nicht vor Gericht erscheinen, aber in Gedanken stand sie dort. Der Schwager meinte, es wäre besser, sie brächte den Mut auf, auch selbst anwesend zu sein, aber Sophie hatte dazu nicht die Kraft. »Ich verstehe dich nicht«, sagte ihre Schwester. »Es geht mir wirklich nicht gut«, rechtfertigte sich Sophie, »es muss ja auch nichts mehr verhandelt werden. Wir sind uns einig, alles ist gut vorbereitet. Ich glaube, ich muss mich ein wenig hinlegen. Mir ist schwindlig.«

Die Ehe wurde ohne Prozess geschieden. Es reichte, dass Karl vor Gericht erschien. Er war bereit, jährlich zweihundert Reichstaler Unterhalt zu zahlen und etwas Geld für Gisela, die bei Sophie blieb. Sollte Sophie irgendwann wieder heiraten, durfte er die Unterhaltszahlungen einstellen und entscheiden, ob er Gisela zu sich holen wolle. Überhaupt hatte er jederzeit die Möglichkeit, Gisela zu sich zu holen. Eine weitere Bedingung war, dass Sophie nicht in Jena wohnen durfte oder in jedem anderen Ort, in dem Karl etwa zukünftig wohnen würde. Er trug die Gerichtskosten in Höhe von fünfundzwanzig Talern.


Sophie war frei. Aber war sie glücklich? Ihre Schwester fragte besorgt und voller Zweifel, ob zweihundert Taler im Jahr ausreichen würden. »Es ist wenig, aber es wird gehen. Es ist so viel wie ein kleiner Dorfpfarrer oder Dorfschullehrer bekommt. Das muss reichen. Trotzdem werde ich arbeiten. Ich bin froh, dass jetzt alles klar ist. Ich konnte nichts Besseres erwarten.«

Sie ging viel spazieren und machte Pläne für einen Roman. Es war Jahre her, dass sie ihren ersten Roman veröffentlicht hatte. Seitdem schrieb sie nur noch Gedichte, Aufsätze und kürzere Geschichten. Jetzt wollte sie etwas Großes beginnen, ein Werk wie die Heloïse von Rousseau, einen Briefroman wie den Werther. Von Liebe sollte er handeln, was gab es Wichtigeres? Ohne Liebe gab es kein Leben. Außerdem lasen die Leute das gern. »Das Buch muss ein Erfolg werden. Und ich fühle die Kraft dazu in mir. Ich will tätig sein und ich brenne darauf, mein eigenes Wesen in Wort und Tat wiederzufinden. Ich erwarte viel von mir«, erklärte sie eines Morgens beim Frühstück. Der Schwager freute sich, sie so sprechen zu hören. Er bestärkte sie darin, dass Tätigkeit der Kern eines glücklichen, ausgefüllten Lebens sei.

Mit der Post kam ein Brief von Stefan. Er schrieb von seiner Arbeit und den Patienten, von neuen Freunden und einem Streit mit Clemens, der ihm vorwarf, und zwar erbittert, wütend und so laut, dass die Nachbarn es hörten, dass er ihn im Glauben gelassen habe, eine Scheidung Sophies von Karl sei unmöglich. Stefan habe ihm die Vorbereitungen für eine Scheidung hinterlistig verschwiegen. Woher Clemens von der Scheidung erfahren hatte, wusste Stefan nicht. Clemens sehe in ihm jedenfalls einen Verräter. Hätte er früher etwas gesagt, behauptete Clemens wütend, hätte er nichts unversucht gelassen, Sophie für sich zu gewinnen. Jetzt seien alle Verbindungen gerissen, und sie neu anzuknüpfen sei schwierig und umständlich, ja unmöglich. Stefan schrieb, dass Clemens ihn verdächtige, selber eine Beziehung mit Sophie zu haben. Sophie legte den Brief aus der Hand.

Als Jette wenige Tage später kam, zeigte sie ihn ihr. »Da siehst du es. Dieses Aufbrausen ist nicht nur lächerlich, es ist dämonisch. Was geht in Clemens vor? Ein unberechenbarer Teufel steckt in ihm. Stefan hat sich nichts zu Schulden kommen lassen. Er war doch schon lange weg, als die Pläne endlich reif wurden und die Anwälte Briefe aufsetzten. Clemens ist verrückt.«

Jette war so redselig und voll guter Laune, wie Sophie sie seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Sie wirkte, als wäre sie nicht ihre ältere, sondern eine jüngere Schwester. Der Grund dafür musste Hermann sein, der junge Mann, in dessen Begleitung sie gekommen war. Er war Jurist, aber noch ohne Anstellung. Er stammte aus einer adligen Familie, doch leider hatte die ihr gesamtes Vermögen verloren. Hermann war ein sehr umgänglicher Mensch, vielleicht etwas unentschieden. Er sprach beim Mittagessen eher wenig, doch das fiel kaum auf, denn Sophie und Jette unterhielten sich rege.

Nach dem Essen schlug Sophie einen Spaziergang vor. Zuerst gingen sie durch den Ort. Mitten auf dem Marktplatz stand eine Linde, in deren Schatten sie sich für ein paar Minuten setzten. Dann wollten sie hinaus ins freie Feld. Sophie ging voran, Jette und Hermann folgten. Als die letzten Häuser hinter ihnen lagen, übernahm Hermann die Spitze. Auf dem Weg durch die Felder ging er voran. Sophie und Jette, die sich wie junge Mädchen fühlten, folgten ihm Arm in Arm. Der Sommerwind wehte ihnen durchs blonde Haar, ihre hellen Kleider bauschten sich und sie setzten ihre Füße so sicher und schnell, als wollten sie bis nach Frankreich laufen. Genau zehn Jahre war es her, 1791, dass Sophies Gedicht zu Frankreichs Feier in der Zeitschrift von Schiller erschienen war. Genius der Freiheit, wo, an welchem Himmelsfeuer zündest du die Fackel? Freiheit adelt, und nach ihr zu ringen ist die Freiheit jedes Edlen wert, hatte sie geschrieben, ein feuriges Gedicht. Mächtig zwar rührt auch der Liebe Zauber Menschenseelen, adelt Herz und Mut. Aber selbst der Flammenhauch der Liebe wird verschlungen, von der Freiheit Glut.

Auch ein anderes Gedicht fiel Sophie ein. Sie hatte es mit Clemens und den Freunden zur Gitarre gesungen. Sophie summte die Melodie und plötzlich summte auch Jette. Dann begannen beide zu singen:

Ich weiß eine Farbe, der bin ich so hold,

die achte ich höher als Silber und Gold,

die trag ich so gerne um Stirn und Gewand

und habe sie Farbe der Wahrheit genannt.

Nur Wahrheit bleibt ewig und wandelt sich nicht,

sie flammt wie der Sonne allleuchtendes Licht.

Ihr hab ich mich ewig zu eigen geweiht.

Wohl dem, der ihr blitzendes Auge nicht scheut.

»Das ist von dir«, sagte Jette. »Eine hübsche Melodie«, meinte Hermann, und Sophie erklärte, Schiller habe ihr eine Kopie der Noten geschickt. Ein junger Komponist, irgendwo am Rhein, habe sie erdacht.

Der Feldweg beschrieb einen Bogen, sie gingen auf ein Wäldchen zu. Jette erzählte von ihrer Arbeit an dem englischen Roman. Sie fragte Sophie, ob das Buch, wenn es fertig wäre, unter Sophies Namen erscheinen könnte. »Ich übertrage es doch nur«, meinte sie, »mein Name muss doch nicht draufstehen.« »Du willst dich nicht zu deiner Arbeit bekennen«, neckte Sophie ihre Schwester, »das wäre doch aber unwahr.« Jette, die kurz stehen geblieben war, bat noch einmal, dass ihr Name ungenannt bleibe. »Gut«, schloss Sophie und zog ihre Schwester am Arm weiter den Weg entlang, »ich verstehe das. Wir haben es nicht leicht. Und es macht ja auch Spaß, Versteck zu spielen. Auch der Roman von Clemens ist ohne seinen Namen erschienen.« Jette stieß ein verächtliches p-h durch ihre Lippen. »Bei einem Mann verstehe ich so ein Versteckspiel nun wieder nicht«, sagte sie dann. Inzwischen waren sie am Waldrand angekommen und gingen daran entlang im Schatten der Bäume. »Das Buch soll wohl als himmlische Eingebung verstanden werden, der Verfasser nur eine Hand, von göttlichen Kräften geführt. Wie ist er bloß auf die Idee gekommen, Maria als Verfassernamen zu wählen?« Jette gefiel der Inhalt nicht, auch die Sprache fand sie ungewöhnlich. Nichts hatte ihr an dem Roman gefallen. Hermann teilte ihre Meinung. Bis auf das letzte Kapitel sei alles wirr und schwer lesbar. »So weit habe ich mich gar nicht durchgearbeitet«, sagte Jette. Sie betonte wieder ihre Erleichterung, dass Clemens nicht mehr da war, je weiter weg, desto besser. »Mag er bleiben, wo er ist, am besten sollte er noch weiter nach Norden gehen, wo Lotte wohnt zum Beispiel oder ruhig noch weiter, nach Spitzbergen.«

Erst als die Sonne schon tief im Westen stand und der Himmel sich rötlich zu färben begann, kamen sie wieder nach Hause.

Bei der Abreise nach einer Reihe unbeschwerter Tage sagte Jette, sie werde sich von dem Geld für die Übersetzung einen Hut kaufen, einen mit Federn und Blumen. »Ich will fliegen und blühen«, lachte sie, als Hermann sie mit Schwung in den Wagen hob.

Die Post brachte einen Brief aus Frankfurt. Er kam nicht von Clemens, aber beim Lesen merkte Sophie, dass es um ihn ging. Clemens hatte seine Schwester gebeten, an Sophie zu schreiben, da er selber es nicht wage. Er wolle sie wiedersehen und hoffe, dass Sophie ihn freundlich empfangen werde.

Sophie ging im Zimmer hin und her. Was sollte sie tun? Nachdenklich öffnete sie eine Schublade in ihrem Schrank aus Kirschbaumholz. Sie legte den Brief zu denen, die sie vor einigen Jahren von Clemens bekommen hatte. Sie bewahrte alles sorgfältig auf. Vielleicht würde sie irgendwann einmal alle Briefe wiederlesen wollen. Neben dem Bündel mit Clemens’ Briefen lag ein anderes, verschnürt mit einem Band, dessen Rot schon leicht verblichen war. Sie nahm das Bündel in die Hand, löste die Schleife und faltete den ersten Brief auseinander. Sofort stand ihr alles wieder vor Augen.

Im Frühling war es gewesen, nach dem langen Winter, in dem sie zum ersten Mal Mutter geworden war. Ein Gartenfest. Groß, blond stand eine herrliche Gestalt mitten unter den Gästen. Sophie hatte ihn zuvor noch nie gesehen. Er war Student, kam aus Lübeck. Gleich auf den ersten Blick verliebten sie sich ineinander. Eine Fahrt in der Kutsche, heimliche Geständnisse, Vertrautheit, Liebe, von der Karl nichts ahnte. Niemand darf etwas wissen. Gegeneinander vollkommene Offenheit, nach außen verschlossen, heimlich, gefasst auf böse Eifersucht und die Missgunst aller ehrbaren Bürger, die der Ehe, nicht der Liebe den höchsten Wert zumessen. Ein glückliches Jahr, der Abschied, fast eine Flucht zurück nach Lübeck. Nur darum gibt es Briefe. Wer sich täglich sieht, schreibt sich nicht. Briefe aus Lübeck an Sophie, durch Jettes Hände, denn Karl, misstrauisch und voller Ahnungen, darf nichts merken. Pläne, gemeinsam in Lübeck zu leben, die sich bald zerschlagen. Sophie will ihm folgen, aber es geht nicht. Der Traum versinkt im Alltag. Sophie will keine Heimlichkeiten mehr. Sie engen ein. Sie spricht mit Schiller, fährt mit einem Freund nach Berlin, mit Philipp, der nicht weiß, wen sie trifft. Sie trifft ihn zum letzten Mal. Auch er weiß nicht, dass es das letzte Mal sein wird. Er soll ihr alle Briefe geben, die sie ihm geschrieben hat. Noch einmal glückliche Tage. Dann der Abschied. Er schreibt noch ein paarmal, sie antwortet nicht mehr und die Verbindung ist zerrissen.

Jetzt liest Sophie seine Briefe wieder. Eine romantische Liebe, ihre größte, die einzige, ein Roman. Das war es. Das wollte sie schreiben. Sie legte die Briefe auf den Schreibtisch. Das Schicksal einer Heloïse, einer jungen Frau, die ohne Liebe verheiratet war. Amanda, die zu Liebende. Alles lag klar vor ihr, sie musste es nur noch aufschreiben.

Sie legte einen Stapel Papier bereit. Die Sonne lockte ins Freie, doch Sophie blieb am Schreibtisch bei geöffnetem Fenster. Aus dem Garten drangen die Stimmen spielender Kinder herein, aus der Ferne der Ruf einer Kuh. Vögel zwitscherten und das Blöken von Schafen war zu hören.

Sophie gefiel das Städtchen, kaum größer als ein Dorf. Das ruhige Leben förderte den Fluss der Gedanken. Vor allem morgens, wenn der Garten, die rötlichen Dächer der Häuser, die Hügel noch in Dunst und Nebel lagen, verschmolzen diese Bilder mit ihren Vorstellungen.

Bei Spaziergängen durch die Straßen der kleinen Stadt und über Feldwege spann sie ihre Gedanken und die Geschichte weiter. Das Getreide auf den Feldern stand hoch und wogte, wenn der leichte Morgenwind darüber hinwehte, in sanften Wellen. Bald würden die Schnitter mit ihrer Arbeit beginnen und zahllose Arbeiter und Arbeiterinnen würden Garbenbündel binden und in Gruppen zum Trocknen auf den Feldern zusammenstellen. Der Bach, an dessen Ufer Sophie entlangging, gluckste eilend einem unbestimmten Ziel zu. Im Morgenlicht warfen die Bäume lange Schatten und die Farben leuchteten kräftig. Über Mittag, wenn die Sonne im Zenit stand, würden alle Büsche und Wege in der Hitze und dem schattenlosen, steilen Licht staubig wirken und wie ausgebleicht. Doch dann wollte Sophie schon seit Stunden wieder am Schreibtisch sitzen. Es drängte sie, etwas zu tun. Eine Ernte will ich haben, dachte sie entschlossen, wie das Jahr. Als sie um zehn Uhr zurück zum Haus kam, bat sie ihre Schwester, jeden, auch Gisela, von ihrem Zimmer fernzuhalten. Sie wollte ungestört arbeiten.

Ihre Schwester fragte sie, ob sie sich nicht langweile, immer allein im Zimmer und bei Spaziergängen. Nein, so und nicht anders wolle sie es haben, wie eine Einsiedlerin. Ihre Schwester fand das für eine lebenslustige Frau ganz unmöglich, doch Sophie erklärte, sie werde ja nicht bis ans Ende ihrer Tage wie in einer Klause leben.

Sie arbeitete jeden Tag stundenlang und ungestört, wie sie es nicht hätte tun können, wenn sie sich um einen Haushalt und Gisela hätte kümmern müssen. Manchmal las Sophie abends, wenn alle beisammen saßen, ein paar Seiten von dem vor, was sie am Tag geschrieben hatte. »Sehr interessant«, sagte der Schwager. »Spannend und bewegend«, sagte ihre Schwester, »wie geht es weiter?« Auch die alte Verwandte schien ergriffen, ihr Spitzenhäubchen zitterte stärker als gewöhnlich.

Wenn alle anderen schon schliefen, saß Sophie noch am Schreibtisch. Mücken tanzten im Licht der Lampe, die auf dem Tisch stand. Sophie sah am Lichtschein vorbei aus dem Fenster, das sie auch nachts offen ließ. Im Dunkel des Gartens schwebten Leuchtkäfer wie herabgefallene Sterne zwischen den Büschen und lichter Nebel spann sich im Mondschein um die fernen Hügel.

Sophie dachte an Philipp, die Reise nach Berlin, wie ahnungslos er war, wen sie dort treffen wollte, zum Abschied. Philipp verließ Jena. Wohin, interessierte sie nicht. Nur der andere, dem sie nie wieder geschrieben hatte und den sie glaubte vergessen zu haben. Sie griff nach dem Stapel Briefe, der auf dem Schreibtisch lag, und las einige Stellen genauer. Dann schrieb sie wieder.

Nach kurzem Schlaf saß sie schon bald nach Sonnenaufgang wieder am Schreibtisch bei geöffnetem Fenster. Beim Nachdenken folgte ihr Blick dem Fluss in der Ferne, der wie ein Silberband sich durch grüne Wiesen windend schließlich hinter Büschen verschwand.

Die Arbeit ging rasch voran. Immer wieder sah sie einzelne Stellen in den Briefen nach. So hatte sie damals gefühlt, das hatte er gedacht. Die Liebe war eingeschlafen, aber nie würde Sophie diese beiden Jahre vergessen. Daraus entstanden Bilder, neue Eindrücke verwoben sich mit ihnen.

Im August lag die Hitze drückend auf den Dächern. In der Schwüle ließ es sich nur schwer atmen. Schließlich türmten sich Wolken am Himmel auf, und wie in einem Höllensturm entlud sich die aufgestaute Energie mit Blitz und Donner.

Nach dem Unwetter wagte sich Sophie hinaus in den wie neu erschaffenen glänzenden Tag. Es duftete nach Grün und Erde. An Zweigen, Blättern und Blumen glitzerten Regentropfen. Sie spazierte zur Burg hinauf, wo Moos und Gräser auf verfallenem Gemäuer wie Malachit im Licht der Abendsonne leuchteten. Über den Himmel zogen zerfetzte Wolkenwagen, von goldenen Strahlen umrandet. Sophie stand still und schaute. Es herrschte Stille, kein Vogel wagte einen Ton nach dem überstandenen Weltuntergangswetter. So, dachte sie, war es am Anfang aller Dinge. Licht und Dunkel, Wasser, Erde, ein Garten Eden, unbewohnt und leer – aber die Liebe erschien und alles belebte sich.

Jettes Übersetzung war inzwischen fertig. Fritz, der immer wieder kurz zu Besuch vorbeikam, blieb im Herbst für eine ganze Woche und brachte wie im letzten Jahr ein Reitpferd für Sophie mit. Der Fuchs war derselbe, den sie schon vom letzten Herbst kannte, ein großes Pferd mit ruhigem Gang. Im Galopp flog sie dahin, ohne dass ein Rhythmus zu spüren war, so als säße sie auf einem Vogel, der mit ruhigem Flügelschlag durch die Luft nach Süden zog, wie die Störche und die Wildgänse.

Wenn sie so über die abgeernteten Felder flog, dachte sie an ihre ersten Jahre in Jena, wo alles unbekannt war und neu, an die Gartenfeste, Ausflüge zu Pferd oder in offenen Wagen, Bälle, Konzerte – das konnte Camburg nicht bieten, doch hier fühlte Sophie sich vollkommen frei und leicht.

Bei einer Rast erzählte Fritz, dass Clemens eine Rheinreise unternehme, zusammen mit einem Freund aus Göttingen und einem aus Marburg – der eine Student, der andere gerade Privatdozent geworden. Sophie erinnerte sich an den Brief aus Frankfurt. Sollte sie Clemens schreiben oder seiner Schwester endlich antworten?

Fritz streichelte ihre Hand, ihre Wange. Er machte Witze über Clemens und lobte sie dafür, gar nicht mehr an ihn zu denken. Sie küssten sich und lagen sich bald leidenschaftlich in den Armen.

Sophie war gern mit ihm zusammen, ließ sich im Haus des Schwagers und ihrer Schwester jedoch nichts anmerken. Nur in der Natur, durchglüht von goldener Oktobersonne, gab sie sich frei. Bei Ausritten und Spaziergängen kamen ihr neue Ideen. Dies könnte sie schreiben und das. Hoffentlich vergaß sie es nicht, bis sie endlich wieder am Schreibtisch saß. Sie würde Amanda und Eduard trennen, beschloss sie. Ein verlorener Brief, ein neuer Geliebter, ein Künstler. Sie spann die Geschichte weiter. Beide Männer würden zu Tode kommen, in einem Duell vielleicht. Vielleicht ein Unfall, sie wusste es noch nicht. Und Amanda? Amanda würde leben. Doch ohne Liebe? Oder würde Amanda sterben, aber wie?

Am Tag vor Fritz’ Abreise machten sie zum letzten Mal einen Ausritt über die Felder und Hügel. Außer Atem sank Sophie nach langem Galopp bei einer Rast ins Laub. In der Ferne läuteten Glocken. Zum letzten Mal waren sie zusammen. »Ich will dich«, flüsterte Fritz. Sie küsste ihn. Ungemessene Minuten und Umarmungen später hörte sie an ihrem Ohr mit heißem Atem geflüstert: »Wie liederlich, wie verdorben du bist, wie wundervoll.« Sophie wandte sich ab. Was fühlte er? Das wollte sie nicht, so nicht. »Ich will nach Hause. Wir sind zu weit gegangen. Du bist schon viel zu lange hier.« Nach einem Streit reiste er ab.


Im Herbst wurde Sophie von Fritz zu einem Theaterabend nach Weimar eingeladen. Ein Stück von seinem Bruder wurde aufgeführt. Sophie war neugierig darauf und ließ sich ein Zimmer in einem Gasthaus reservieren, nicht in einem der teuren am Marktplatz, aber das Haus war sauber und das Bett bequem. Am Nachmittag kam sie an. Sie ließ sich ein Bad bereiten, schminkte sich und zog eins ihrer feinsten Kleider an.

Zusammen mit Wilhelm, mit seinem Bruder Fritz und Thea betrat Sophie das Foyer des Theaters. Sie war lange nicht mehr hier gewesen. Sophie genoss die Stimmung, die Leute, die Lichter. Nach dem ersten Akt gab es Applaus. In der Pause drängte das gutgelaunte Publikum ins Foyer. Plötzlich stand Clemens vor Sophie. »Guten Abend«, sagte er. Seine Stimme klang, als sei ihm der Hals zugeschnürt. Seine Augen glänzten. Er stand einfallslos, wortlos vor ihr, dabei kannte Sophie ihn als redseligen Mann. »Guten Abend«, sagte sie und beschloss, an ihm vorbeizugehen, doch ehe sie einen Schritt machen konnte, fühlte sie sich gefangen. Clemens hielt sie und presste sie mit seinen Armen fest an sich. Ehe sie einen Ton sagen konnte, ließ er sie wieder los und stürzte hinaus, die Stufen hinunter auf die Straße.

»Was war das denn?«, fragte Wilhelm verblüfft. Fritz lachte schrill. »Dieser Clemens. Man glaubt es nicht, so ein Phantast. Wisst ihr, dass er überall herumerzählt, Stefan hätte Zwietracht zwischen ihn und uns, also Thea und mich, gesät?« »Das ist doch Unsinn«, sagte Sophie, die ihre Überraschung kaum verwunden hatte, »ausgerechnet Stefan, der so auf Ausgleich und Harmonie bedacht ist. Was hat Clemens nur gegen ihn?«

Es läutete. Die Pause war zu Ende.

Nach der Aufführung beglückwünschten alle den Verfasser, man lobte die Schauspieler. Es war ein gelungener Abend, der noch lange nicht zu Ende sein sollte. Sophie und die Freunde saßen bis weit nach Mitternacht zusammen und redeten oder sangen. Einmal erwähnte jemand Clemens und sein plötzliches Auf- und wieder Abtauchen. Alle lachten darüber.

Am nächsten Morgen schrieb Sophie einen Brief an ihn. Sie versuchte ihm klarzumachen, dass sie ihn nie wieder sehen wolle. Wäre es so, hätte sie ihm längst geschrieben. Außerdem erklärte sie, sie glaube nicht, dass Stefan der schlechte Mensch sei, zu dem Clemens ihn durch sein Gerede machen wolle. Den Brief gab sie Fritz, während sie mit ihm von Weimar nach Camburg zurückfuhr. Er verstaute ihn in seiner Reisetasche und versprach, ihn sofort zur Post zu bringen oder ihn sogar persönlich zu übergeben, wenn er Clemens noch irgendwo zufällig treffen würde. »Der ist ja aufgetaucht wie’s Kasperle aus der Hutschachtel. Unvermittelt stand er da«, lachte Fritz, »Deus ex machina, wie ein Dämon oder Gott auf der Bühne. Er scheint unerwartete Auftritte zu lieben.« »Hat denn niemand gewusst, dass er in Weimar ist?«, wollte Sophie wissen. »Wahrscheinlich war er gerade erst angekommen. Oder war er vielleicht auf der Durchreise? Er fährt bestimmt nach Italien«, lachte Fritz übermütig.

Gisela litt an einer schweren Erkältung. Sie lag im Bett und Sophie saß neben ihr, gab ihr immer wieder Tee und Brühe. Das Hausmädchen brachte Eiswasser für Wadenwickel, um das Fieber zu senken. Als nach zwei Tagen das Schlimmste überstanden war, arbeitete Sophie an ihrem Roman weiter. Hin und wieder setzte sie sich auch ans Klavier.

Der erste Schnee fiel. Trotz des unfreundlichen Wetters kam eine Freundin mit ihrem Mann für zwei Tage aus Jena zu Besuch. Sophie freute sich, ihrer Freundin den Roman vorlesen zu können, alles, was sie bisher geschrieben hatte: Briefe von Amanda, Briefe von Eduard, Briefe, die in langer Reihe den Roman ergaben.

Sie saßen in Sophies Zimmer. Die Freundin auf dem grünen Sofa, Sophie auf einem bequemen Lehnstuhl neben dem Schreibtisch, auf dem sie beim Vorlesen Seite um Seite ablegte. »Ich fürchte«, sagte die Freundin, als Sophie eine Pause machte, »einige Leser könnten deinen Roman unmoralisch finden.« »Meinst du? Es stimmt, ich will freie Lebensformen beschreiben. Es geht darum, im Einklang mit sich selbst zu leben. Das ist doch nicht unmoralisch.« Die Freundin sah nicht so aus, als würde sie Sophies Absichten verstehen wollen. »Lies mir den Rest ein anderes Mal vor. Lass uns ein bisschen Klavier spielen. Hast du Noten für vierhändige Stücke?«

Beim gemütlichen Beisammensein nach dem Abendessen – der große Kachelofen sorgte für behagliche Wärme, die zugezogenen Vorhänge schützten vor dem dunklen Frost draußen – wurde über Bücher und Bekannte geredet. »Übrigens erzählt Fritz überall herum, dass Clemens dich hier vor kurzem in Camburg besucht hat. Stimmt das?«, fragte die Freundin. Die Schwester und der Schwager sahen Sophie verblüfft an. »Nein«, antwortete Sophie, »er war nicht hier. Ich habe ihn nicht gesehen. Wann soll das gewesen sein?« Genaues wusste die Freundin nicht. Auch ihr Mann hatte zwar von dem Gerücht gehört, aber nicht darauf geachtet, was genau geredet wurde. »Fritz ist merkwürdig«, sagte Sophie verärgert, »der Künstler in meinem Roman, ihr erinnert euch, er hat ein bisschen was von Fritz, aber auch von Clemens.« »Die beiden sind aber doch sehr unterschiedlich. Wie kann man die zwei in einer Figur vereinen?«, fragte der Mann der Freundin. Er war der Einzige in der Runde, der noch keine Seite von Sophies Romanmanuskript kannte.

Anfang des Jahres kam ein Brief von Stefan. Ein Verleger in Göttingen suchte für seinen jährlich erscheinenden Almanach einen neuen Herausgeber und hatte dabei an Sophie gedacht. Stefan sollte sie fragen, ob sie diese Arbeit übernehmen wolle. Neun Monate habe sie Zeit, dann sollten alle Manuskripte beim Verlag sein, damit das Buch noch vor Beginn des neuen Jahres verschickt werden und in den Läden liegen könne.

Sophie hatte einen großen Vorrat an Gedichten und Texten von Freunden und verschiedensten Bekannten. Manches war gut, vieles eher nicht geeignet für ein Publikum mit anspruchsvollem Geschmack. Sollte sie das Angebot annehmen? Sie würde gute Texte brauchen, Dichter und Schriftsteller anschreiben müssen. Aber da war der Roman, der viel Zeit kostete. Und was sollte aus Kalathiskos werden? Zwei Bände waren bisher erschienen.

Sie überlegte ein paar Tage lang und sagte schließlich zu. Allerdings würde es dann im nächsten Jahr wohl keinen dritten Band von Kalathiskos geben. Das wäre einfach zu viel Arbeit.

Schon bald traf die Antwort von Stefan ein. In den nächsten Wochen ging viel Post zwischen ihm und Sophie hin und her. Sophies Schwester fragte schließlich, ob Stefan in Sophie verliebt sei. »Ich weiß es nicht. Falls er es ist, hält er sich sehr zurück.« »Ich bin sicher, es ist so«, sagte Sophies Schwester und fragte: »Wäre das kein Mann für dich? Er ist gebildet, hat einen angesehenen Beruf, einen ausgeglichenen Charakter, schreibt Gedichte und du scheinst ihn gut leiden zu können.« Sophie versicherte, dass sie keine Ehe mehr wolle, und wäre der Mann auch der liebste und beste Mensch. Sie wollte ihre Freiheit nicht aufs Spiel setzen. Nie wieder wollte sie heiraten.

Die ersten Bäume blühten und Fritz schrieb, dass er Sophie gerne besuchen und zu einer Reise überreden würde. Er berichtete von Clemens’ Freund, dem Göttinger Studenten, der eine große Europareise angetreten hatte wie ein englischer Lord. Es hörte sich fast an, als wäre Fritz schadenfroh. Warum? Weil Clemens nun ohne seinen Freund in Göttingen saß? Mit allen, außer einigen seiner Geschwister, hatte er es verdorben. Er schien quer im Leben und in Streit mit den Menschen zu liegen. Fritz schrieb, Sophie solle keinen Gedanken an Clemens verschwenden, und erwähnte nebenbei, dass er jetzt erst den Brief wiedergefunden habe, den sie ihm ein paar Wochen vor Weihnachten, damals am Tag nach dem Theater, für ihn mitgegeben hatte. Der Brief habe in einem Seitenfach der Reisetasche gesteckt und sei beim Putzen und Aufräumen jetzt wieder zum Vorschein gekommen. Fritz habe ihn gleich zur Post gebracht, o dass er nun unterwegs zu Clemens sei.

Sophie unterdrückte den Ärger, der in ihr aufstieg. Was mochte Clemens denken, wenn jetzt, nach Monaten, ein Brief von ihr kam, an dessen Inhalt sie sich kaum noch erinnerte. Was hatte sie damals bloß geschrieben?

Sie wendete das Blatt und las weiter. Fritz hatte einiges über Clemens’ Göttinger Freund erfahren. Physiker sei er. Das wusste sie bereits. Clemens habe ihm Flausen in den Kopf gesetzt, so dass er sich nun zum Dichter berufen fühle. Sein Bruder, mit dem er nach Italien reise, werde seinen Spaß an dem Wortkünstler haben, ganz wie der Vater, dem die Idee, seine beiden Söhne in die Welt zu schicken, wohl vor allem gekommen sein mochte, damit Clemens’ Einfluss den hoffnungsvollen Physiker nicht ganz ins dichterische Fahrwasser hinüberziehe, wo es ja bekanntlich gefährliche Wirbel und Untiefen gebe, so dass man Gefahr laufe unterzugehen oder festzusitzen, während andere munter weiterzogen, Handel trieben und als tüchtige Menschen den Wohlstand mehrten.

Verärgert legte sie den Brief aus der Hand. Dichterisches Fahrwasser mit Untiefen und Wirbeln. Das war doch auch ihr Element. Fritz nahm das also nicht ernst. Er machte sich nicht nur über Clemens lustig. Sie wunderte sich, dass sie das nicht früher gemerkt hatte. Er spielte offenbar auch mit ihr. Wer hatte sie vor ihm gewarnt? Ihre Schwester? Lotte? Sophie konnte sich nicht erinnern. Sie würde Fritz nicht einladen zu kommen, und schon gar nicht würde sie eine Reise mit ihm unternehmen.

Lieber, als über Fritz nachzudenken, schrieb sie an Stefan. Von ihm wollte sie viele Gedichte in den Almanach aufnehmen, von Lotte und Jette und von ihr selbst sollten neben Gedichten auch Aufsätze darin erscheinen. Von Clemens aber nichts. Weder mit Clemens noch mit Fritz wollte sie noch etwas zu tun haben.

Neben dem Almanach arbeitete sie an dem Roman weiter. Der sollte so schnell wie möglich fertig werden, der Verleger hatte ihn schon im Katalog angekündigt und behauptete, die Leserinnen warteten darauf.

Nicht nur der Roman und der Almanach und verschieden andere kleine Arbeiten beschäftigten sie. Bei einem Besuch in Weimar hatte Schiller ihr vorgeschlagen, Corneilles Cid zu übersetzen, so dass man das Stück in einem Jahr aufführen könnte. Obwohl sie nie ein Theaterstück geschrieben hatte, gefiel ihr die Idee. Eine Übersetzung wäre eine gute Übung, um vielleicht doch einmal ein Drama zu schreiben. Ein hohes Ziel, aber nicht so hoch und fern, dass es sie erschreckt hätte. Die Figuren oder Personen in ihren Geschichten sprachen kaum, sie dachten viel nach. Auch die Briefe in ihrem Roman waren nachdenklich und beschreibend. Ein Bühnenstück wäre etwas ganz Neues. Außerdem ließ sich mit einem Bühnenstück vielleicht auch mehr Geld als mit Romanen verdienen. Vielleicht, dachte Sophie, würde es ihr am Ende sogar besser gefallen, fürs Theater zu schreiben anstatt Romane.

Obwohl Sophie viel arbeitete, hatte sie Mühe, den Abgabetermin für den Göttinger Almanach einzuhalten. Auch der Roman sollte längst fertig sein, doch sie konnte ihn noch nicht abschließen. Neben dieser Arbeit gab es eine unendliche Zahl an Briefen zu schreiben. Es wurde ihr fast zu viel.

Sie empfing kaum noch Besuch. Nur die Spaziergänge in der Umgebung machte sie so regelmäßig wie immer. Sie gehörten zum Schreiben. Reichte die Zeit dafür nicht, erholte sie sich wenigstens kurz im Garten oder spazierte bis zur Linde auf dem Marktplatz. Sie liebte diesen alten Baum.

Der Sommer ging vorüber. Giselas fünfter Geburtstag rückte näher. Karl schickte ihr einen Brief, in dem er seiner Tochter alles Gute wünschte. Er hatte wieder geheiratet, eine junge Frau, fast zwölf Jahre jünger als Sophie, ein Mädchen aus wohlhabender Familie, ruhig und ohne unbändige Wünsche. Sie würde Karls Launen geduldig ertragen und ihm keinen Ärger machen. Er hatte sie ganz allein gefunden. Sophie lächelte bei dem Gedanken, dass er sie gebeten hatte, eine Ehefrau für ihn zu suchen.

Die Verleger mahnten. Sie warteten auf die Manuskripte und die Post war immer viel zu lange unterwegs. Sophie überlegte, ob sie weiter in Camburg bleiben sollte. Die kleine Stadt am Fluss mit der Burg auf dem Berg gefiel ihr gut und Gisela war glücklich mit den anderen Kindern im Haus und dem großen Garten. Aber der Ort lag ungünstig, die Post dauerte zu lange. Sollte sie wirklich noch einen Winter hier verbringen? Doch in Jena, wo sie viele Bekannte hatte, durfte sie nicht wohnen, solange Karl dort lebte. So stand es im Scheidungsvertrag. Also Weimar? Sie sprach mit ihrer Familie, sie sprach mit Freunden.

Bei einem Besuch in Weimar bot Wilhelm an, sich nach einer Wohnung für sie umzusehen. Sie traf ihn bei einer Nachmittagsrunde im Haus des Geheimrats. Den Raum füllte stimmenreiches Murmeln. Zwei Männer in Sophies Nähe sprachen über Clemens, der sein Philosophiestudium aufgegeben hatte. Er war jetzt in Düsseldorf und hatte dort innerhalb weniger Tage das Libretto für ein Singspiel geschrieben. Vertont war es noch nicht, aber einige Schauspieler wollten es unbedingt auf die Bühne bringen und hatten sogar schon mit Proben begonnen. Clemens ließ es sich, wie Sophie hörte, nicht nehmen, bei den Proben dabei zu sein. Einer der beiden, die so gut über ihn Bescheid wussten, sagte, er habe sich wahrscheinlich in eine der Schauspielerinnen verliebt. Ein Dritter mischte sich ein. Er sprach sehr leise. Sophie bemerkte, dass plötzlich alle drei zu ihr herübersahen.

Das Romanmanuskript war endlich fertig, der Almanach bereits im Druck. Sophie hatte Aussicht auf eine Wohnung in Weimar und konnte damit beginnen, den Umzug zu planen. Sie erzählte Gisela, dass sie bald woanders wohnen würden. Gisela begriff schnell, was das für sie bedeutete. Sie wollte nicht weg, sie wollte bei den Cousins und Cousinen in Camburg bleiben. Dennoch begann Sophie mit den Vorbereitungen, und schließlich fing auch Gisela an, Einpacken zu spielen.

Sophie schrieb allen Freunden, dass sie ab Dezember in Weimar wohnen würde. Sie freute sich auf das Leben dort, doch sich von Camburg zu trennen, fiel ihr nicht leicht. Sie hoffte, das Karl jetzt nicht auf den Gedanken kommen würde, Gisela zu holen, jetzt, wo sie mit ihrer gemeinsamen Tochter allein in einer Wohnung in Weimar leben wollte.

Von Jette hörte sie wenig. Sophie nahm es als gutes Zeichen, als eine Nachlässigkeit, die Verliebten zustand. Jette war glücklich mit Hermann, auch wenn sie vorerst nicht heiraten, sondern sich nur täglich treffen konnten. An eine Heirat war nicht zu denken, ehe er eine Stellung gefunden hatte, doch die Zeiten waren nicht gut und eine Anstellung nicht in Aussicht. Jette verdiente etwas Geld mit Übersetzungen, was Hermann verdiente, wusste Sophie nicht, jedenfalls viel zu wenig. Sie überlegte, welchen Auftrag sie Jette als Nächstes vermitteln könnte.

Vorerst aber war der Umzug zu überstehen. Sie ließ ihre Möbel verladen, packte Wäsche und Kleider, Bücher und alle Papiere, Briefe und Dokumente in Kisten und Koffer und nahm schließlich Abschied von ihrer Schwester, dem Schwager, der alten Verwandten, den Kindern und den Bekannten, die sie in Camburg hatte. Der Wagen mit den wenigen Möbeln fuhr voraus, Sophie und Gisela wurden von einem Bekannten aus Weimar abgeholt.

Herbst in Heidelberg

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