Читать книгу Herbst in Heidelberg - Anna-Luise Jordan - Страница 7

1803

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Der Geheimrat empfing Gäste, auch Sophie war dabei, denn er schien sie gern bei sich zu sehen. Er erzählte von den Arbeiten am neuen Schloss, das ganz modern und größer werden sollte als das alte, vor fast dreißig Jahren abgebrannte. Bis auf die Innenausstattung und Dekoration mit Wandgemälden und Statuen war es fast fertig. Im nächsten Jahr werde der Herzog dort einziehen, sagte der Geheimrat, der als Mitglied der Schlossbaukommission genau Bescheid wusste und erst in dieser Woche einige Aufträge vergeben hatte.

Man sprach über das Theater, die Schauspieler und Schauspielerinnen und kam auf die Unterschiede zwischen dem weiblichen und dem männlichen Charakter. Die junge Frau, die dem Geheimrat den Haushalt führte, saß in einer Ecke und hörte still zu. Sie hielt sich ruhig im Hintergrund, obwohl sie voller Energie zu stecken schien. Sophie dagegen versuchte ihre Meinung zu sagen, so rücksichtsvoll und doch so deutlich wie möglich, ohne jemanden vor den Kopf zu stoßen. Sie meinte, es sei ein Vorurteil, dass es dem weiblichen Charakter schade, wenn eine Frau ihre Kräfte frei entfalten und einsetzen würde. »Es schadet ihr auch nicht, wenn sie einen Sinn für den Genuss entwickelt. Doch darf sie das, darf sie genießen?« Sophie sah in lauter aufmerksame Gesichter und fuhr fort: »Von einer Frau wird verlangt, dass sie gefällt. Wenn sie Bertuchs Modejournal nicht kennt, darf sie sich nicht wundern, ausgelacht zu werden.« »Ich hoffe, Sie haben nichts gegen mein Journal«, sagte der Verleger. »Aber nein, ich lese es ja selber. Es ist schließlich eine Hilfe bei dem Versuch zu gefallen. Mir geht es eher um Wünsche, die eine Frau für sich selber hat, um Vorhaben oder Pläne, die sie verfolgen will, weil sie einfach Spaß daran hat. Fast immer muss sie nachgeben und Rücksicht nehmen, sonst gilt sie als eigensinnig. Ist es nicht so?« »Natürlich muss eine Frau gefallen«, sagte jemand aus der Runde, »das ist doch keine Frage.« »Aber bei dem Bemühen zu gefallen, verliert alles für sie den Reiz des Vergnügens. Das Wesentliche des Vergnügens ist doch, sich frei zu fühlen, und wer gefallen muss, hält sich ständig unter Kontrolle.« Jemand räusperte sich, die meisten hörten interessiert zu. Sophie schien Dinge sagen zu dürfen, die niemand sonst auszusprechen wagte. Aus ihrem Mund klangen auch solche unerhörten Worte wie Schmeichelei. Sophie sah nur wohlwollende Gesichter um sich, auch wenn ihr nicht jeder zustimmen mochte. Aber wem nicht gefiel, was sie sagte, dem gefiel wenigstens ihr Anblick. »Noch schlimmer ist es in der Ehe«, sprach sie weiter, »da hört die Frau ganz auf, eine eigenständige Person zu sein. Wie ein mechanischer Zusatz des Mannes muss sie tun, als sei sie nichts und wüsste nichts und müsste durch den Geist des Ehemannes belebt werden.« Der Geheimrat lächelte. Er schien zufrieden damit, dass er, obwohl schon über fünfzig, noch immer Junggeselle war. Nun ergriff Schiller das Wort. »Für die meisten Frauen gilt zwar, dass sie nichts anderes tun sollen, als zu leben und zu lieben, um das Leben zu verschönern. Verantwortung sollten sie nicht tragen, aber ich habe nichts gegen Ausnahmen. Manche behaupten sich wie ein Mann und weben trotzdem Rosen in unser Leben. Ich sehe das anders als so mancher, als Schlegel zum Beispiel. Schrecklicher Mensch, er hat zwar freiheitliche Ideen, findet aber trotzdem, dass Bildung und Wissen die sittliche Unschuld der Frauen zerstört.« Sophie dachte an den letzten Ausritt, die Rast, und ihr fielen seine Worte ein. Verdorben fand er sie, verdorben durch Bildung und Wissen, eine, die ihre sittliche Unschuld verloren hatte.

Der Geheimrat erwähnte ein Buch, von dem er bereits vor einigen Jahren gehört hatte. Darin werde dargelegt, dass Männer den Frauen zwar Schutz und Wohltaten, aber keine Freiheit gewährten. »Und sollte man das nicht ändern?«, fragte Sophie. »Ich glaube, ich kenne dieses Buch«, sagte jemand, »wird darin nicht vorgeschlagen, dass alle Frauen Rechte bekommen sollen, statt ihnen das eine oder andere Privileg zuzugestehen?« »Das hat bestimmt eine Revolutionärin geschrieben«, rief ein anderer. »Nein, ein Mann hat es verfasst«, sagte der Geheimrat. »Also nicht Olympe de Gouge? Aber die hat ja wohl keine Bücher geschrieben«, sagte eine der anwesenden Frauen. »Nein, das war die, die gefordert hat, wenn die Frau das Recht habe, aufs Schafott zu steigen, müsse sie auch das Recht haben, auf die Rednertribüne zu steigen«, wusste jemand. »So ist es. Aber was ist passiert? Man hat sie wenige Wochen nach der Königin in Paris geköpft und alle Frauenklubs aufgelöst.« »Politik ist ja aber auch nichts für Frauen«, sagte jemand. An die Terrorjahre wollte niemand in der Runde erinnert werden. Was man gehört hatte, wollte man vergessen. Vom Ersten Konsul, der jetzt in Paris regierte, erwartete man Großes, nachdem er für Ruhe und Ordnung gesorgt und in Lunéville endlich Frieden mit dem Kaiser des Reiches geschlossen hatte. »Das Alte stürzt, es ändern sich die Zeiten.« »Ein wahres Wort. Wird das ein neues Stück für die Bühne?«, fragte ein älterer Herr, der behäbig, den Bauch vorgewölbt, in einem Lehnstuhl hing. Man sprach vom Reichstag in Regensburg und dem Ausgleich, den einzelne deutsche Länder dafür erhalten sollten, dass sie nach den Koalitions- und Revolutionskriegen ihren Besitz westlich des Rheins an Frankreich verloren hatten. »Eine Umordnung ist das, wie es sie noch nie in der Geschichte gegeben hat«, sagte der Geheimrat, »und manche Länder, wie Baden und Preußen, aber auch Württemberg und Bayern profitieren sehr von dieser Neuaufteilung. Baden gewinnt viel Land hinzu, und als Kurfürst wird der Markgraf von Baden siebenmal mehr Untertanen haben als zuvor.« Der Besitz der katholischen Kirche sollte aufgehoben, die Klöster aufgelöst, Mobiliar, Bücher, Gemälde verkauft werden. Die freien Reichsstädte würden ihre Selbständigkeit verlieren, auch viele der kleinen Fürstentümer. »Durch dieses Umverteilen und die neuen Grenzen werden Bayern und Preußen wahrscheinlich so stark, dass sie dem Kaiser in Wien Schwierigkeiten machen könnten«, sagte einer. »Das ist sicher Absicht«, vermutete ein anderer. »Und das ist erst der Anfang«, meinte der dicke Herr im Lehnstuhl. »Auf die große Politik hat der Einzelne wenig Einfluss«, wagte Sophie sich zu Wort, »wir Frauen gewiss nicht, aber auch die wenigsten unter den Männern können der Zeit ihren Willen aufprägen.« »Konsul Bonaparte wird es tun. Er wird der Zeit seinen Willen aufprägen«, sagte der Geheimrat und führte in einem längeren Monolog aus, dass es wohl das größte Verdienst eines Menschen sei, wenn er die Umstände bestimme, anstatt sich von ihnen beherrschen zu lassen. In gewissem Maße könne jeder Einfluss auf die Umstände nehmen, die ihn direkt umgeben, und solle es auch tun. Genauso sah es auch Schiller, musste sich nach weiteren Ausführungen aber gegen jene verteidigen, die dem Einzelnen so viel Freiheit und Gestaltungskraft nicht zugestehen wollten. »Doch«, beharrte er mit großer Geste, »jeder Mensch ist selbst Ursache der Umstände, in denen er lebt. Er ist verantwortlich für seine Lage. Er ist mündig und frei, zu entscheiden, was er gelten lassen will.«

Sophie hörte zu und überlegte. Sie hatte die Ehe hinter sich gelassen und lebte nun völlig frei, so wie sie es wollte. Die Umstände, in denen man lebte, bildete man sich vor allem auch durch die Sichtweise und Bewertungen, überlegte sie. Die Dinge änderten sich oft schon, wenn man sie unter einem anderen Blickwinkel betrachtete. Man musste wenigstens die Kraft aufbringen, die gewohnte Sicht, die herkömmlichen Ansichten zu ändern. War das nicht möglich, blieb nur Resignation.

Sophie beantwortete Clemens’ langen Brief. Sie überlegte, ihm von den Diskussionen beim Geheimrat zu berichten, entschied aber, es nicht zu tun. Dennoch machte sie ihm klar, dass sie sich das Schreiben nicht verbieten lassen werde. Niemand würde sie dazu bringen, Feder, Tinte und Papier gegen Nadel, Faden und Leinen zu tauschen.

Jeden Morgen saß Sophie am Schreibtisch, ab Mittag machte sie Besuche oder empfing selber Gäste, abends ging sie manchmal ins Theater oder in ein Konzert. Der Winter in Weimar ließ sich gut ertragen.

Schon bald kam wieder ein Brief von Clemens. Sophie ließ ihn unbeantwortet liegen, doch dann kam wieder einer, und in der nächsten Woche noch einer.

Seit Januar war Lotte wieder in Weimar. Es war ihr gelungen, ihren Mann davon zu überzeugen, dass sie eine kranke Verwandte pflegen müsse. Sie wollte so lange bleiben wie nötig, notfalls über den Frühling und Sommer hinaus bis zum Ende des Jahres. Darum hatte sie ihre beiden kleinen Söhne mitgebracht. Lottes Familie freute sich, die Kinder bei sich zu haben. Die Pflege der Kranken ließ Lotte Zeit genug, Bekannte zu treffen und sogar auf Bälle zu gehen.

Anfang Februar besuchten Sophie und Lotte den Ball im Stadthaus zu Ehren des jungen Erbprinzen. Hunderte von Kerzen warfen ihr Licht in den Saal und auf die Damen in hellen Kleidern nach klassisch-antikem Muster. Die Herren trugen dunkle Fräcke zu weißen Hosen. Nur die Diener in Livree erinnerten mit Puderperücken und traditionellen Fräcken ans vergangene Jahrhundert.

Sophie hatte sich ein Kleid aus gelber Seide mit braunen Rüschen an Decolleté und Ärmeln machen lassen. Dazu trug sie lange gelbe Handschuhe. Die Haare waren mit einem braunen Band lose hochgebunden, so dass die Locken in Stirn und Nacken fielen. Lottes Kleid schimmerte silbergrau, bestickt mit winzigen roten Blüten.

Sie plauderten mit Bekannten, aßen Eis und tranken Sekt und tanzten. Sophie bemerkte, dass Lotte sich immer wieder von dem jungen Mann zum Tanz führen ließ, der als Bild hauer für die Skulpturen und Dekoration aus Marmor in Schloss zuständig war. Er wirkte sehr sympathisch. In eine Pause unterhielt Sophie sich mit Lotte und ihrem junge Tänzer über Kunst und Literatur. Dabei stellten sie fest, dass Sophie den Bruder des Bildhauers kannte. Man redete über Bekannte und kam auch auf Clemens. »Wie geht es ihm?«, wollte Lotte wissen. Sophie erzählte, was sie wusste. »Ihr schreibt euch also. Das freut mich. Ich habe schon befürchtet, dass ihr euch nicht nur aus den Augen, sondern auch aus dem Sinn verloren hättet. Wann kommt er denn?« »Kommt? Wie meinst du?«, fragte Sophie und verschwieg, dass sie seine Briefe bisher nicht beantwortet hatte. »Nun ja, er hat doch viele Bekannte in Weimar und Jena, da wird er doch sicher demnächst mal hier sein. Oder meinst du, er fürchtet sich?« »Vor wem?« »Vor dir.«

Im Frühling luden Wiesen und Wälder zu langen Spaziergängen ein. Am Ufer der Flüsse und Bäche, befreit vom Eis, gluckste Wasser um Steine. Die Zeit für Ausflugsfahrten übers Land, für Ausritte, Picknicks und Tanzfeste auf den Dörfern brach an. Jette und Lotte saßen bei Sophie und tranken Tee. »Wann kommt Clemens denn nun endlich?«, fragte Lotte. »Er kann noch nicht kommen«, erklärte Sophie, »sein Bruder heiratet.« »Gut, da darf er natürlich nicht fehlen.« Lotte ließ sich durch nichts in ihrer Schwärmerei für Clemens’ Roman bremsen. Auch nicht von Jette, die keinen Zweifel daran ließ, dass ihr das Buch so wenig gefiel wie ein Aufenthalt von Clemens in Weimar. Sie machte Sophie Vorwürfe, dass sie ihn eingeladen, ihm überhaupt geschrieben hatte, und behauptete, Sophie werde es sicher bereuen, sollte sie ihn je wiedersehen.

Im Mai war es so weit. Nach zwei Jahren trafen Sophie und Clemens sich zum ersten Mal wieder. Er wohnte bei Wilhelm und zusammen kamen sie zu Sophies Teegesellschaft. Die meisten der Anwesenden kannten Clemens und begrüßten ihn wie einen alten Vertrauten. Sophie war fröhlich, fast kokett. Clemens gefiel ihr. Er war männlicher geworden und trug eine Narbe, die ihr früher nicht aufgefallen war. Ein Unfall? Eine Schlägerei? »Ach, das ist nichts«, winkte Clemens ab, »Narben zieht man sich zu. Wenn sie nur auf der Nase sind, ist es noch harmlos.« Er wirkte nervös. Einige Minuten lang sprach Sophie nur mit ihm, ehe ihr einfiel, dass sie sich auch um ihre anderen Gäste kümmern musste. Sie redete ohne Pause über alles Mögliche und lachte munter. Clemens sprach wenig, er schien lieber zuzuhören, was früher nicht seine Art gewesen war. Unverwandt sah er Sophie an, die sich mit ihren Gästen in bester Laune unterhielt. Hin und wieder kniff er die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Plötzlich stand er auf, um zu gehen. Sophie begleitete ihn hinaus. Wilhelm wollte noch bleiben, so wie alle anderen, die noch längst nicht an Aufbruch dachten.

»Du bist nicht die, die du warst, so laut, so lustig. Es langweilt, es ärgert mich«, zischte Clemens, als er neben Sophie im Flur stand, »es ist, als wäre eine leichtlebige Rokokosalonière zum Vorschein gekommen. Vor zwei Jahren warst du ganz anders. War alles Verstellung? Wo ist der magische Schleier der Melancholie? Damals schienst du geheimnisvoll, jetzt bist du«, er stockte, riss die Tür auf, »banal«, rief er und rannte die Treppe hinunter. Ehe Sophie ihn zurückrufen konnte, hörte sie die Haustür zuschlagen. Nachdenklich ging sie zu ihren Gästen zurück.

Schon am nächsten Tag kurz nach elf Uhr morgens kam Clemens wieder. Sophie saß am Schreibtisch. Sie erhob sich und ging ihm, als er das Zimmer betrat, ein paar Schritte entgegen. »Die Tür war offen«, entschuldigte er sich statt einer Begrüßung. Sie standen einander gegenüber, Auge in Auge. »Bitte setz dich«, sagte Sophie und wies mit der Hand auf einen Stuhl. Clemens blieb stehen, unfähig, einen Schritt auf Sophie zu oder von ihr weg zu tun. Er schien vorsichtig, als traue er ihr nicht. Gleichzeitig schien er zu brennen, seine Augen glühten, die Haut war gerötet. Schweiß stand in winzigen Perlen am Haaransatz auf der Stirn, und er rang die Hände. Sein ganzer Körper war ständig in Bewegung, selbst als er schließlich saß.

Eine Stunde später war nichts mehr wie zuvor. Grenzen waren aufgehoben, Geheimes offenbart, Gewohntes wie neu. Der Liebe gehörte das Leben, die Welt ließ sich ganz neu begreifen, Menschheit und Natur verbanden sich im Rausch des Frühlings. »Du erscheinst mir wie Licht aus den Wolken, rein und verheißend. Du hast Macht über mich. Zum Tugendhelden kannst du mich machen oder zum Schurken verkommen lassen«, sagte Clemens. Das erschien Sophie fast wie eine Drohung. Forderte er ihre Liebe wie eine Verpflichtung? An ihr lag es, was aus ihm werden sollte? Was für Erwartungen. Sie sollte sich gar nicht drauf einlassen. Aber Clemens wieder fortschicken? Ja, sie sollte vernünftig sein, Jette würde das freuen. Oder sollte sie die Liebe wählen? Waren Leben und Liebe, Liebe zur Menschheit und Freiheit nicht eins, ein Einzelner nicht Teil des Ganzen? Konnte sie anders, als ihn lieben? Ein Schurke würde er. Zum Schurken würde er verkommen ohne sie. Sie durfte ihn nicht abweisen.

Sie unternahmen Ausflüge in einer verzauberten Welt. Auch an bewölkten Tagen schien für sie die Sonne. Doch manchmal störten plötzliche Gewitter diese Harmonie, und Blitze von Hass und Verachtung zuckten auf. Dann wieder war alles heiter, böser Spott und aller Streit vergessen. Statt zu arbeiten, verbrachte Sophie viel Zeit mit Clemens, und wenn es nicht leicht war mit ihm, so war es umso besser, denn es forderte Kraft, Geschick und Mut.

Sie suchten Orte auf, an denen sie vor vier, fünf Jahren, als sie sich kennenlernten, gewesen waren. Sie besuchten Bekannte. Einmal fragte Sophie, warum Clemens im letzten Jahr so plötzlich im Theater aufgetaucht war und sofort wieder verschwand, ohne ein Wort zu sagen. »Das war doch merkwürdig. Was sollte das?« Clemens lachte. »Ach, das war nichts. Jemand hat mir weisgemacht, du wärest nach Italien gefahren. Stell dir vor, ich habe wirklich geglaubt, du fährst ohne mich nach Italien.«

Trotz der Fröhlichkeit und unbeschwerten Freude am Leben, die sie verband, spürte Sophie immer deutlicher, wie wichtig ihr Da-Sein für Clemens war. Er schien sie schon als seine Ehefrau zu sehen. Alles sollte sie für ihn sein, und sie wollte es, aber frei, nicht gesetzlich an ihn gebunden mit allen Pflichten unter den Regeln der Vernunft.

Clemens lachte bitter, wenn sie von ihrer Freiheit sprach. Sie belüge sich selbst, sagte er. Sie wisse gar nicht, wie sehr sie ihn liebe, dass sie ohne ihn gar nicht leben könne. »So habe ich es auch Achim nach Paris geschrieben.« »Was hast du geschrieben?« »Dass du mich mit jeder Faser deines Körpers liebst. Dass du dich dabei so sehr vergisst, als würdest du dich selbst vernichten.« »Das hast du nicht wirklich geschrieben?« »Oh doch. Ich weiß gar nicht, woher ich all den Liebreiz nehmen soll, um deinem Verlangen zu entsprechen. Und trotzdem willst du mir nicht gehören?« Verachtung blitzte in seinen Augen auf. Er musste verrückt sein.

An einem heißen Tag im Juni machten sie einen langen Spaziergang. Clemens hielt seine Gitarre im Arm und sang. Sophie summte mit. Sie trug ein himmelblaues, federleichtes Kleid. Das lockige Haar war mit einem braunen Band zusammengehalten. Im grünen Schatten tanzten Mücken wie glitzernder Staub. Im Schatten des Waldes folgten sie einem Bachlauf, an dessen Ufer Gräser und Blumen weiß, violett und winzig blau blühten. Es duftete holzig und frisch.

Sophie wollte von Philipp erzählen, von der Fahrt nach Berlin, von ihrer großen Liebe, und auch die Stunden mit Fritz wollte sie nicht verschweigen. Wahrhaftig wollte sie sein, keine Heimlichkeiten hegen. Clemens sollte alles wissen. Doch er wollte nichts hören und sang, als wollte er verhindern, dass etwas an ihn herankam, das ihm missfiel.

Süßer Mai mit Blumenglocken

Läutest du das Fest mir ein

Ich bekränze deine Locken

Will ein braver Gast auch sein.

Süßer Mai zum Liebesmahle

Trägst du Blumenkelche ein

Blütensäulen stehn im Saale

Drüber wölbt sich Sonnenschein.

Sie blieben stehen, küssten sich, ließen sich auf eine umgestürzte Buche nieder, umarmten sich, und das braune Band löste sich aus Sophies Haar.

»Ich wünschte, du wärst eine Quelle«, murmelte Clemens nah an Sophies Ohr, »und ich würde mich dir in den Weg legen. Ein silbernglitzernder, munterer Bach wärst du und würdest über mich hinwegfließen, mich ganz und gar umspülen und ich würde von dem Wasser belebt und gekühlt, so dass mein armes Herz nicht verglüht in der heißen Liebe zu dir.« Wieder umarmte er sie. »Hier im Wald sind wir frei. Den Bäumen sind die Menschen und die Moral egal, wir können sein, wie wir sind.«

Später, als sie am Waldrand entlang auf die Stadt zugingen, deren Dächer rot im Sonnenlicht glänzten, meinte Sophie, wie merkwürdig es sei, die Seligkeit des Augenblicks nie sofort in Sprache fassen zu können. »Schildern lässt sich nur das Glück der Vergangenheit, das man erlebt hat, im glücklichen Augenblick selbst passt kein Wort.« »Dann wollen wir schweigen«, sagte Clemens und legte im Gehen seinen Arm um Sophie. Die Gitarre trug er lässig über der Schulter.


Sophie hörte immer wieder von Gerüchten, die über sie umliefen. Doch wenn sie nachfragte, blieb man ihr klare Antworten schuldig. Sie müsse den oder den fragen. Aber auch wenn sie weiterfragte, antwortete man nur mit vieldeutigem Lächeln. Sie fand das nicht zum Lachen, auch wenn sie es versuchte. Das Gerede würde ihr schaden, als Frau und mehr noch als Dichterin. Obwohl sie herauszufinden versuchte, was man über sie redete und wer die Lügen verbreitete, kam sie nicht weit. Alles blieb vage und den Ursprung fand sie nicht. Sie musste es dulden. Nicht viel ließ sich tun, es musste ertragen werden. In ihrem Glück, die Tage mit Clemens zu verbringen, fiel ihr das nicht schwer. Sie trafen Freunde, fuhren nach Jena, besuchten Bauernfeste in den Dörfern der Umgebung. Zusammen mit anderen unternahmen sie Fahrten in offenen Kutschen. Wer reiten wollte, lieh sich ein Pferd. In fröhlichen Gruppen erkundete man die Gegend, als hätte man die altbekannten Orte noch nie gesehen. Meist war auch Lotte dabei – und Christian, der Bildhauer. Sie waren ineinander verliebt, Sophie merkte es sofort. Er hatte seine Arbeiten am Schloss nahezu beendet und musste sich nicht mehr stundenlang in der Werkstatt oder im Schloss aufhalten.

Als Sophie und Lotte bei einem Picknick unter einem Baum saßen, während die anderen Ball spielten, fragte Sophie, ob es Lotte in Weimar nicht viel besser gefalle als in Holstein. Lotte seufzte. Sie wusste nicht, was werden sollte. Am liebsten würde sie sich scheiden lassen, aber natürlich war das unmöglich, die Kinder, das Geld, wovon sollte sie leben. Wohl kaum von den wenigen Gedichten, die sie schrieb. »Nur diesen Sommer will ich leben, als wäre ich ungebunden. Dann gehe ich auf unser Gut in Holstein und bewahre alles wie einen geheimen Schatz.« »Du hast recht. Diesen Sommer wollen wir nehmen, als gäbe es nichts davor und kein Danach«, sagte Sophie, »als könnte alles so bleiben, wie es ist. Als ließe sich die Zeit anhalten.«

Auch Jette und Hermann waren bei den Ausflügen dabei. Hermann, immer noch ohne Anstellung, hatte mehr freie Zeit, als ihm lieb war, blieb aber zuversichtlich. Zum Herbst, spätestens zum neuen Jahr würde er sicher eine Stelle bekommen. Hermann und Jette, Lotte und Christian, Clemens und Sophie, romantische Paare. Sie sangen Lieder zur Gitarre beim Picknick im Grünen, die Liedertexte hatte Clemens geschrieben. »Sie wirken«, sagte Lotte, »als wären sie Hunderte von Jahren alt, so schlicht, ganz ohne Raffinesse nur einfach wahr mit ehrlichem Herzen und ohne Kunst oder Verstellung.« »Das Mittelalter, die alte Zeit kann uns viel geben. Man muss die alte Sprache, die alten Lieder wiederfinden. All dieses Künstliche, diese Schnörkel und Muscheln, zum Teufel damit. Weg mit den Marmorsäulen«, rief Clemens, »mit dieser Kunst ohne Fleisch und Blut. Wir ziehen aufs Land, unters Volk, da ist das wahre Leben, dort muss man die Kunst suchen. Das ganze letzte Jahrhundert kann man vergessen, den Firlefanz, das feine Getue. Was sollen wir mit den alten Griechen?« Er schlug ein paar kräftige Akkorde auf seiner Gitarre und stimmte ein neues Lied an. Die anderen sangen mit.

Es kam zum Streit, als Sophie endlich erfuhr, wer die Gerüchte gestreut hatte, die ihr schadeten. Sie konnte es nicht glauben und stritt mit Clemens. Er solle damit aufhören, verlangte sie, zwar liebe sie ihn, sie sei aber selbständig und frei. »Und das will ich auch bleiben. Aus freiem Willen treffe ich mich mit dir. Ich will mich nicht aus Angst zu dir flüchten, weil mir die Menschen verleidet sind. Vergifte mir die Welt nicht!« Wie leicht es doch war, sich zum Beschützer aufzuwerten, wenn man alle Mitmenschen in Feinde verwandelte. »Freiwillig liebe ich dich«, erklärte sie, »nicht aus Not. Liebe und Freiheit sind zwei Seiten eines Blattes, untrennbar voneinander, so dass man nicht eins haben kann ohne das andere, nicht eins nehmen und zerstören kann, ohne das andere zu vernichten.« Clemens schwieg betroffen. Dann sagte er trotzig: »Ich will dich. Nur dich. Und niemand sonst soll dich haben. Aber bist du meiner Liebe auch wert?«

An regnerischen Tagen trafen sich die Freunde reihum in den Häusern, oft bei Sophie. Clemens erzählte, zum trüben Wetter passend, Märchen von unheimlichen Geistern, die in Wäldern hausten, und von schönen Wasserjungfrauen in Flüssen und Seen. Seine Gitarre hatte er auch hier immer zur Hand. Solange Jette und Hermann nicht dabei waren, verhielt er sich entspannt, wurde er Jettes ansichtig, bekam seine Stimme einen schrillen Klang. »Sie mag mich nicht«, flüsterte er Sophie zu.

Er hatte recht. Sprachen Jette und Sophie über ihn, tat Sophie es mit guten Worten, Jette voller Argwohn. Sie verstand gut, dass Clemens meinte, ohne Sophie nicht leben zu können. Aber Sophie lebe besser ohne ihn, war ihre Meinung. Sophie jedoch ließ sich nicht irremachen und versicherte ihrer skeptischen Schwester, sie werde Clemens nicht aufgeben, nicht diesen Sommer.

Sophie und Clemens trafen sich, wann immer sie konnten, tagsüber und spät am Abend in mondhellen Nächten zu Spaziergängen, wenn alles geheimnisvoll wirkte. Sie besuchten Volks- und Tanzfeste, mischten sich unter die Bauern und Handwerker, die so viel lebendiger und kraftvoller waren als die fein gekleideten Bürger und die Damen und Herren bei Tee- und Abendgesellschaften. Ländlichkeit und Stallgeruch, Fleisch und Blut statt Marmorkälte, betonte Clemens immer wieder, seien das wahre Elixier für Kunst und Dichtung.

Immer wieder sprach er vom Heiraten, obwohl seine Familie in Frankfurt gegen eine Ehe mit Sophie sei. Eine Geschiedene, noch dazu eine, die Romane und Gedichte schrieb, war nicht die richtige Schwägerin für seine würdigen Brüder, die auf ihr Ansehen und die Ehrbarkeit der Familie achteten. Schlimm genug, dass Clemens noch keinen Studienabschluss hatte. Eine Ehe mit Sophie hätte diese unsichere Lage noch verschlimmert. Nur die Großmutter in Offenbach freute sich über Clemens’ Heiratspläne. Sie schrieb Sophie einen gewinnenden Brief und Sophie antwortete ihr ebenso freundschaftlich.

Bei einem Spaziergang erzählte sie Clemens vom Brief seiner Großmutter, aber er schien nicht recht zuzuhören. Sie setzten sich auf eine Bank. Sonntägliche Spaziergänger kamen vorbei. Kinder und Hunde spielten auf der großen Wiese und verscheuchten die Störche, die in seichten Wasserstellen nach Fröschen suchten. Jetzt könnte sie ihm vielleicht beichten, was er wissen sollte, und begann: »Ich habe dir nie erzählt, dass ich mit Philipp ...« Clemens fiel ihr ins Wort. »Wie kannst du es wagen, wenn ich bei dir sitze, an andere Männer zu denken. Die Vergangenheit ist vergangen, vorbei. Das sagst du doch selber immer. Dieser Philipp geht mich nichts an, weniger noch als Karl. Ich bin der Richtige für dich, du bist für mich geschaffen. Nur darum bist du es wert, dass ich dich liebe.« Sophie verschlug es die Sprache. Doch hätte sie etwas sagen wollen, hätte Clemens sie nicht zu Wort kommen lassen. »Lieben musst du mich. Unendlich lieben, wie du nie geliebt hast. Stumm musst du werden und fühlen, was deine Zunge nicht sagen kann. Kämpfe um mich, dass du mich verdienst.« Eine Ader an der Schläfe schwoll an. Seine Stimme vibrierte. Clemens wollte ohne sie nicht leben und forderte, dass sie sich ihm ohne Rückhalt überließ. »Alles musst du mir opfern können.« Das meinte er hoffentlich nicht ernst. »Du bist maßlos«, sagte Sophie. »Nein. Ich brauche einen Halt. Du hast es mir oft gesagt. Nur du kannst ihn mir geben.« Sophie überlegte kurz und sagte so ruhig wie möglich, obwohl ihre Stimme vor Wut zitterte: »Du willst nichts als deine Träume erfüllt sehen, und lässt dich dabei von widersprüchlichen Wünschen zerreißen. Das wirst du nicht lange aushalten.« Clemens sprang auf und lief vor Sophie hin und her, während sie weitersprach: »Du träumst zu viel. Mach etwas Handfestes. Versuch es mal mit Landarbeit, benutze deine Hände. Du liebst das einfache Leben der Bauern, wir gehen auf Bauernfeste. Versuch, wie sie zu leben. Lerne Pflügen und Holzhacken. Träum nicht nur vom einfachen Leben, probier es aus.« Clemens lachte schrill. »Aber ich bin Dichter. Du bist meine Muse. Soll ich wirklich solch grobe Arbeit verrichten und mit rauen Händen voller Risse und Schwielen deine zarte Haut berühren?« Clemens hielt ihr seine Hände hin. »Rate mir nicht solchen Unsinn«, schrie er, »und schmink dich nicht. Wie kannst du vom einfachen, wahren Leben reden und deine Augen und Lippen bemalen, so dass man ihre wahre Form und Farbe nicht erkennt. Wie kannst du dein Gesicht verfälschen mit Rouge und Puder? Du liebst die Natur, behauptest du. Dann versteck sie nicht, deine Natur, dein eigenes Gesicht. Bekommst du schon Falten?« Er beugte sich ganz nah zu ihr und sah ihre Augenlider prüfend an. »Man sieht es nicht unter der Schminke, wisch das ab.«

Clemens und Sophie verbrachten so viel Zeit zusammen, dass Sophie kaum an den Schreibtisch kam. Sie erledigte nur das Wichtigste, vor allem dringende Briefe. Doch sie opferte Clemens ihre Zeit gern. Er überraschte sie täglich mit lustigen Einfällen, sein Humor war spritzig und nicht zu bremsen. Die ärgerlichen Gespräche und Szenen vergaß Sophie schnell. Bis zum Herbst, wenn das Semester in Marburg begann, wollte sie für ihn da sein, würde seine Lieder hören, über seine Phantasien staunen. Sie verzieh ihm seine unmäßigen Forderungen schnell. Diesen Jugendsturm musste sie aushalten können. Was war die Liebe sonst wert?

Sophie und Clemens begleiteten Lotte, die Christian in seiner Werkstatt besuchte. Steinquader verschiedener Größe standen herum, halbfertige Skulpturen und in einem angrenzenden Raum einige überlebensgroße Statuen griechischer Götterfiguren. Clemens tanzte zwischen ihnen herum, mit großen Schritten, auf Zehenspitzen, verbeugte sich vor ihnen und reimte alberne Verse auf sie. Plötzlich streckte er den Götterbildern sein Hinterteil entgegen. Sophie und Lotte lachten. Christian sah verärgert zu. »Hör auf, du verstehst nichts davon«, sagte er zornig. Clemens machte eine letzte Verbeugung vor einer der weiblichen Götterfiguren – verkehrt herum, Kopf tief am Boden, den Hintern emporgestreckt, dem nackten Busen der Göttin zugewandt. »Clemens ist kein Verächter der Kunst«, versuchte Sophie zu vermitteln, als sie merkte, wie sehr Christian gekränkt war. Christian antwortete gepresst: »Ach, wirklich nicht? Zeigt sich auf diese Weise etwa Kunstverstand?« Clemens freute sich über Christians Ärger und ließ sich weitere Gesten einfallen, mit denen er beweisen konnte, dass antike Götterbilder keinerlei Respekt von ihm zu erwarten hatten. Sophie und Lotte versuchten ihn davon abzubringen und gleichzeitig Christian davon zu überzeugen, dass seine Arbeiten bewundernswerte Meisterwerke waren. Doch erst als sie später beim Tee zusammen im Garten saßen, gelang es Sophie, Christian völlig zu beruhigen. »Zur Strafe«, sagte Christian, »verlange ich deinen Kopf.« »Was?«, schrie Clemens. »Dein Kopf ist vollendet geformt, die Stirn, das Kinn. Edel das ganze Gesicht. Ich will eine Studie anfertigen.« »Aber ich brauche meinen Kopf selber. Ich kann ihn dir nicht zu Studienzwecken überlassen.« Wieder war Christian beleidigt und Sophie musste vermitteln. Nach längerem Überreden erklärte Clemens sich bereit, Modell zu sitzen. »Aber ich werde hier nicht stundenlang steif hocken und mich langweilen. Nur wenn du mich unterhältst, bin ich dazu bereit«, forderte er von Sophie. Sie versprach, ihn zu den Sitzungen zu begleiten, und auch Lotte würde dabei sein, so dass die Werkstatt zum Ort geselligen Beisammenseins wurde. Clemens musste mehrere Tage lang für ein oder zwei Stunden kommen. Manchmal nahm Sophie auch Gisela mit. »Er macht eine Puppe«, sagte sie, als sie erkannte, was geschah. Clemens gab ihr recht. »Er ist ein Puppenmacher. Er macht sie aus Stein. Willst du eine richtige mit weichem Bauch, mit Armen und Beinen und echten Haaren auf dem Kopf?«

Keine Sitzung ging ohne Streit und Witzeleien ab. Sophie bemühte sich, gleichzeitig Christian zu beschwichtigen und Clemens zu unterhalten, damit er nicht schon nach zehn Minuten wieder aufsprang. Es gelang ihr nicht immer. Und auch wenn er sitzen blieb, wechselte er immer wieder seine Position. »Schlimmer als ein Kasper oder Hanswurst«, stöhnte Christian. Aber er wollte sein Werk beenden und ließ sich durch nichts von seinem Vorhaben abbringen. »Vielleicht reicht es, wenn ich die wesentlichen Züge festhalte. Den Rest mache ich aus dem Gedächtnis«, erklärte er schließlich entnervt, »die hauptsächlichen Punkte und Merkmale habe ich. Nach dem Modell kann ich dann auch zwei oder drei Büsten fertigen, ohne dass Herr von Kasperhausen sich wieder herbemühen muss.« »Ich bin erlöst«, jubelte Clemens, »jetzt werde ich Gisela eine Puppe besorgen. Meine Schwester in Frankfurt soll mir eine schicken, eine schöne, so schön wie Sophie.«

Anfang August verabredete sich eine große Gruppe von Freunden zu einem Ausflug aufs Land. Mit Kutschen und Reitpferden sollte es durch die Dörfer der Umgebung, weit hinaus in die Landschaft gehen. Jette war dabei, zusammen mit Hermann, Wilhelm, Clemens, Christian, Lotte, und viele andere. Schiller fühlte sich nicht wohl und blieb deshalb zu Hause. Sophie entschied sich für ein Reitpferd, auch wenn fast alle Frauen in den offenen Kutschwagen Platz genommen hatten. Außer ihr nahmen nur zwei jüngere ein Reitpferd, so wie alle Männer außer Clemens. Er saß in der offenen Kutsche neben Gisela, den Platz auf der anderen Seite neben sich hielt er für Sophie frei. Die saß aber schon im Sattel auf einem hochbeinigen Wallach. »Komm hierher«, rief Clemens. Um keinen Preis wollte Sophie darauf verzichten, über die Wiesen zu galoppieren, und ließ das Pferd zu einer Gruppe von Reitern traben. Es wurde ein herrlicher Tag. Ihr Pferd flog über die Wiesen. Der Wind zerzauste ihr Haar.

Beim anschließenden Picknick unterhielt sich Clemens angeregt mit Lotte. Sie saßen auf einer Decke neben Jette und Hermann, doch Clemens tat, als sei Jette gar nicht da. Er wetteiferte mit Christian um Lottes Aufmerksamkeit. Auch Sophie schien er nicht zu bemerken, als sie sich, erhitzt vom Galoppieren, zu ihnen gesellte. Die Haare standen ihr zerzaust um den Kopf. Sie versuchte mit Clemens ein Gespräch zu beginnen, doch er schien sich nur für Lotte zu interessieren.

Erst als sie am Abend in die Stadt zurückkehrten, Sophie von ihrem Pferd absaß und einer der Männer es wegführte, verlangte Clemens mit Sophie zu sprechen. »Du hast den ganzen Tag kein Wort zu mir gesagt, warum jetzt? Jetzt bin ich müde.« Clemens blieb neben Sophie, bis sie ins Haus trat, wich nicht von ihrer Seite, als sie die Treppe hinaufging, und ließ sich auch an der Tür zur Wohnung nicht abweisen. »Ich muss mit dir reden. Allein!« »Dann musst du warten, bis Gisela im Bett ist.«

Als Gisela schlief und Sophie sich frischgemacht, das staubige Reitkleid gegen ein leichtes Kleid mit weiten Ärmeln getauscht hatte, setzte sie sich aufs Sofa, bereit, Clemens anzuhören. Auf den Tisch stellte sie eine Karaffe mit Wein und zwei Gläser. »Möchtest du etwas trinken?« Er schenkte ein und begann mit Betrachtungen allgemeiner Art über das Reiten. Während er im Zimmer auf und ab schritt, arbeitete er sich zu der Behauptung durch, dass Reiten unweiblich sei, dass Frauen es darum unterlassen sollten. Sophie beschrieb, wie viel Vergnügen es machte, schnell wie ein Vogel im Flug über die Wiesen zu jagen. Zornig rief er: »Genau das ziemt sich nicht für eine Frau. Das Langsame, Ruhige, Umsorgende, Bewahrende ist weiblich. Jagen und Kämpfen ist Männersache. Der Mann schweift kraftvoll ins Weite, erforscht die Welt. Die Frau bleibt an ihrem Platz und wartet. Nicht andersherum. Du stellst die Ordnung auf den Kopf.« Je länger er sprach, umso mehr redete er sich in Wut und schrie Sophie schließlich an. Eins der Gläser fiel um und der Wein floss über den Tisch. »Du bist doch keine Marketenderin, die mit marodierender Soldateska herumzieht!« Erfolglos versuchte Sophie ihn zu beschwichtigen. Sie war erschöpft und müde. Der vergossene Wein tropfte über die Tischkante. Clemens war so aufgebracht, dass er sich weder beruhigen noch wegschicken ließ. »Eine Furie, eine Windsbraut, mit wehenden Haaren und wehenden Kleidern. Ein Bild des Schreckens, wie kein Maler die Apokalypse entwerfen könnte.« Er stockte. Beugte sich vor und sagte leise, so dass Sophie es kaum hörte und der Klang seiner Stimme bei ihr eine Gänsehaut hervorrief: »Ich bekam Angst vor dir, um dich, deine Seele. Plötzlich sah ich dich durch die Wolken davonfliegen.«

Sophie war zu müde, um Clemens zu erklären, dass auch Frauen ein Recht auf heftigere Bewegungen als das Umblättern von Seiten in einem Gedichtband oder das Führen einer Nähnadel hatten, dass sie sich durch einen Tag zu Pferde nicht gleich in eine Furie verwandelten. Sie verstand nicht, was Clemens wollte. Ging es wirklich nur um diesen herrlichen Galopp? Sie wollte endlich ins Bett und schlafen. »Du sollst es nie wieder tun«, wiederholte er. Es war ihm ernst. So eine Wildheit, die rohe Natur hatte er nicht in ihr erahnt. »Ich werde den ganzen Sommer über auf kein Pferd mehr steigen. Aber es ist nicht so wild, wie es dir scheint«, sagte sie matt. »Frauen jagen nicht auf Pferden übers Land. Keine Frau, die ich lieben kann. Es ist ein unglaublich erschreckender Anblick. Hätte ich dich nur nie so gesehen. So ganz und gar anders als das Bild, das ich von dir habe. Warum bist du so uneins mit dem Bild, das sich meine Dichterseele von dir macht? Mein Innerstes sieht dich so sanft, so klug, voll treuem Mitgefühl. Du hast heute so viel zerstört.« Er schlug die Hände vors Gesicht und sackte in sich zusammen. »Das tut mir leid. Ich habe das nicht geahnt«, erwiderte Sophie und suchte seine Hand. Er ließ sich aufs Sofa fallen und packte ihre Schultern. »Versprich, mich nie wieder zu erschrecken. Ich habe Angst, du fliegst durch die Wolken fort von mir, fort aus der Welt.« Ihre Lippen berührten sich. Endlich hörte Clemens auf, Versprechungen zu fordern. Er bebte, sie versanken. Alle Zeit löste sich in Ewigkeit auf, stürzte ineinander, in einen einzigen Augenblick. Das Feuer, das in Clemens seit Monaten brannte, ergriff Sophie, machte sie zur Flamme des Lebens selber, aus der Erde hervorbrechend, in Funken aufwirbelnd zum Flug ins All.

»Mama, was hast du?« Gisela kniete neben Sophie. Die Kleine trug ein weißes Nachthemd. Das Sonnenlicht, das durchs Fenster ins Zimmer fiel, ließ ihre blonden Locken wie einen Lichtkranz um sie scheinen, so als käme das Licht aus dem Kind. »Mir ist heiß«, sagte Sophie, »es geht mir nicht gut.« »Warum liegst du hier auf dem Boden?« Sophie sah sich um. Stuhlbeine, Staub unter dem Sofa, die Tischdecke hing zu ihr herunter und versperrte die Sicht ins Zimmer. Sie versuchte aufzustehen. Gisela wollte helfen. »Das schaffst du nicht. Hol Grete.«

Sophie lag im Bett, als Lotte kam, um sie zu pflegen. Sie fühlte ihre Stirn und stellte fest: »Du hast hohes Fieber.« Lotte goss Wasser in die Schüssel am Waschtisch und machte kühle Umschläge. »Du musst etwas trinken.« Sie bat Grete, eine Kanne Tee zu kochen.

Am Nachmittag kam Clemens. »Es geht ihr nicht gut«, flüsterte Lotte. Er übernahm es, die kalten Wadenwickel zu machen, und hielt Sophies Hand. Er saß Stunden an ihrem Bett. Nie werde er sie verlassen, sagte er, jetzt, wo er sicher sei, dass sie ihm ganz gehöre, dass sie ihm alles gebe, sich opfere und sich ihm öffne ohne Rückhalt und mit vollem Herzen. Sophie versuchte zu lächeln.

Lotte und Clemens wechselten sich in der Pflege ab. Als Sophie sich wieder kräftiger fühlte, zog Clemens einen Zettel aus seiner Tasche und wollte ihr ein Gedicht vorlesen. »Es ist noch nicht fertig. Es wird ein Sonett. Sag mir, was du davon hältst:

In Liebeskampf, in Todeskampf gesunken?

Ob Atem noch von ihren Lippen fließt?

Was ist’s, das der gefallne Becher gießt?

Hat Balsam sie, Wein oder Gift getrunken?«

Clemens unterbrach sich und erklärte, für die zweite Strophe fehle ihm noch der entscheidende Einfall. »Was hältst du von den beiden letzten:

Und diese Arme sollen Flügel werden.

Nein, Falten sind es. Leichentuches Falten.

Um sie strahlt Glorienschein, zerraufte Haare.

Flamm Himmelslicht, blitz Hölle zu der Erden.

Brich der Verzweiflung rasende Gewalten.

Enthüll, verhüll das Freudenbett, die Bahre.«

»Schaurig«, flüsterte Sophie, »zerreiß es.«


Lotte versuchte Sophie mit dem Vorschlag aufzumuntern, eine kleine Reise zu unternehmen. Ende August musste sie mit ihren Kindern nach Holstein abreisen. Sie plante einen Umweg über Dresden, wo ihre beiden Brüder lebten. »Bis Dresden könntest du mitkommen. Es wäre eine schöne Abwechslung für dich. Keine große Reise nach Italien, doch fast eine Italienreise en miniature. Die Stadt ist wunderschön, die Lage am Wasser, die Fassaden der Häuser, die Kirchen, das Schloss. Du brauchst ein bisschen Veränderung.«

Sophie gefiel der Vorschlag, und mit der Aussicht auf die Reise wurde sie schnell wieder gesund. Bald fühlte sie sich wieder ganz bei Kräften. Sie saß mit Gisela am Tisch im Wohnzimmer vor einem Würfelspiel, als sich die Tür öffnete und Clemens das Zimmer betrat. Er erzählte, dass er am Vormittag in der Werkstatt von Christian gewesen sei, um seine Büste zu begutachten. Sie sei fast fertig und der Anblick habe ihn überwältigt. »Ich hätte ihn nicht so ärgern sollen. Er hat ein großartiges Werk erschaffen. Was ich gesehen habe, war nicht, was ich sehe, wenn ich in den Spiegel schaue. Aber ich erkenne mich darin. So wie in diesem Stein, so will ich für dich sein, so bin ich, nicht anders kannst du mich begreifen. Christian hat mich aus deinem Herzen gegriffen, wie du mich liebst und mich neu zur Welt bringst.«

Auch Lotte hatte die Büste gesehen und lobte das Meisterwerk. Es sei ein Bild von Clemens, wie Gott es vor sich gehabt haben müsse, als er ihn schuf. Nie zuvor habe Christian ein so edles Antlitz geschaffen. »Wenn es ganz fertig ist, sollst du es haben«, sagte Clemens, »zur Hochzeit.« »Welche Hochzeit?« Dass sie heiraten würden, war nie beschlossen worden. »Wie kannst du fragen? Du bist meine Frau, auch vor der Welt musst du es sein. Schon allein wegen meiner Familie.«

Sophie erinnerte sich, dass Clemens’ Familie gegen die Ehe mit einer geschiedenen Schriftstellerin war. Wieso meinte Clemens jetzt, der Familie wegen heiraten zu müssen? Wieder einmal stritten sie. Clemens musste nach Frankfurt zurück und dann nach Marburg. »Ich werde dich nicht mehr sehen können. Das wird mein Ende. Du musst mit mir kommen. Wir sind ein Paar. Du bist mein.« »Muss ich dich daran erinnern, dass die verbreitete Meinung ist, verheiratete Frauen dürften nicht schreiben, des möglichen Ruhmes wegen, der den Ehefrieden störe?«, bemerkte Sophie mit leichtem Spott. »Was geht mich die verbreitete Meinung an. Außerdem bist du doch schon berühmt.« »Weil Karl alles geduldet hat. Er war stolz auf seine schreibende Frau. Aber die Zeiten haben sich geändert, man ist vorsichtiger geworden, du selber willst eine Frau am liebsten im Häuslichen sehen, höchstens im Garten.« »Aber das ist doch ganz etwas anderes«, rief Clemens. Er werde ihr Schreiben dulden, viel mehr noch, er werde alles, was er zu Papier bringe, unter ihrem Namen veröffentlichen, im Namen seiner Muse werde er schreiben. »Wenn du nur meine Frau wirst! Wir wollen zu einem einzigen dichtenden Wesen verschmelzen und unsere Werke sollen deinen Namen tragen, so wie mein Roman den Namen Maria trägt.« »Du bist ein sonderbarer Despot«, meinte Sophie, »demütig und dämonisch, fromm und frivol in einem.« Clemens lachte verlegen und ließ für diesmal davon ab, Sophie zur Ehe zu überreden.

Zwei Tage später sprach er wieder vom Heiraten. »Lass uns zusammen leben. Komm mit mir.« Er schmeichelte und klang beinahe flehend. »Wenn du die Ehe nicht willst, gebe ich mich zufrieden damit, dich jeden Tag bei mir zu haben. Deine Freiheit soll dir bleiben, nur als Dichter wollen wir eins werden, du als meine Muse, ich als dein Geist.« »Du meinst, als Genie und Dämon willst du um mich sein?« »Lass mich eine Wohnung für dich suchen, es wird dir in Marburg gut gehen.« »Ich wohne noch nicht einmal ein Jahr hier.« »Du musst Savigny kennenlernen. Er ist mein bester Freund. Jedenfalls wenn Achim nicht bei mir ist. Ihn musst du auch unbedingt kennenlernen. Wenn er nur erst von seiner Reise durch Europa zurück wäre.« Clemens pries Marburg, die alten Fachwerkhäuser, die Burg oben auf dem Berg, die schon von weitem sichtbar war. Er malte Sophie aus, wie elend er sein werde ohne sie. Weimar sei viel zu weit weg. Er brauche sie in seiner Nähe. Es sei schlimm, dass sie nicht heiraten wolle, aber wenn sie nicht mal in derselben Stadt mit ihm wohne, werde er sterben. Sophie versuchte dem Drängen und Drohen standzuhalten. Ihr gefiel es gut in Weimar, abgesehen von den Gerüchten, die noch immer nicht verstummen wollten, ein Nachteil der vielen Teegesellschaften und Gesprächsrunden.

Sie mochte die Lage am Fluss, die Gärten, die Bibliothek, das neue Schloss, alles unter einem lichten Himmel in einem weiten Tal. Hier fühlte sie sich wohl und geborgen, hier hatte sie ihre Freunde und zu ihren Verwandten war es nicht weit. Wen kannte sie denn in Marburg? »Du liebst mich nicht!«, brauste Clemens auf. »Wenn du mich lieben würdest, wie du musst, würdest du nicht an Bekannte und Freunde denken.«

Nach vielen Gesprächen und Streitereien gab Sophie schließlich nach und sagte Clemens, er solle sich in Marburg nach einer Wohnung für sie umsehen. Als Dichtende wollten sie sich gegenseitig anregen und in freier Liebe leben. »Meine Familie besteht darauf, dass ich zu Semesterbeginn in Marburg bin. Ich kann nicht hier bleiben, es geht nicht, aber im September werde ich volljährig. Dann können mich meine Brüder endlich nicht mehr so gängeln.«

Jette schaute vorbei und Sophie erzählte ihr, dass sie nach Marburg ziehen würde, sofern Clemens dort eine passende Wohnung für sie fände. Entsetzt darüber versuchte Jette sofort, ihre Schwester von der Verbindung mit Clemens und den Umzugsplänen abzubringen. Es sei gefährlich, Clemens werde sie unglücklich machen, er sei jähzornig und unberechenbar. Sophie wunderte sich über den Eifer, den Jette an den Tag legte. »Du hast recht, dass man nie vorhersehen kann, was Clemens tun oder sagen wird. Aber gerade das liebe ich. Er ist kein bisschen langweilig. Manchmal ist es, als würden Engel und Teufel um seine Seele streiten. Und ich will den Engeln ein wenig helfen. Er glaubt, er braucht mich, und ich glaube, dass ich mit ihm glücklich werden kann.« »Für kurze Zeit vielleicht wirst du glücklich sein. Aber ob du glücklich bleiben wirst, das weißt du nicht«, ergänzte Jette. »Ich liebe ihn und ich bin kein junges Mädchen, das sich schutzlos einem rohen Kerl anvertraut. Ich kenne Clemens und seine beiden Seiten. Ohne mich kann er sie nicht zusammenhalten, er wirkt so zerrissen.« Jette setzte sich auf einen der Stühle am Tisch und tat so, als sei sie völlig erschöpft vom Kampf gegen Sophies Umzugsideen. »Aber du wirst dort wenigstens eine Wohnung für dich allein haben, ja?«, fragte sie, wobei sie Sophie einen schrägen Blick zuwarf.

Herbst in Heidelberg

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