Читать книгу Beyoncé - Crazy in Love - Anna Pointer - Страница 7
ОглавлениеDer elektrifizierende Augenblick, als sie ihren ersten landesweit ausgetragenen Wettbewerb in einem Houstoner Veranstaltungssaal für sich entscheiden konnte, kam schließlich 1988. Er lieferte die Initialzündung zu ihrem weiteren Leben. Veranstalter des Wettbewerbs war People’s Family Workshop, eine prominente Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, Kunst in Houston zu fördern. In der Kategorie „Baby Junior Talent“ – die Altersklasse für Siebenjährige und noch Jüngere – zu gewinnen, war eine enorme Leistung, doch Beyoncé nahm das gelassen zur Kenntnis. Die alten Videoaufnahmen ihrer Dankesrede zeigen, wie ihr kleines Gesicht gerade so über das Podium ragt. Sie spricht mit ihrem starken texanischen Akzent: „Ich möchte mich bei den Juroren dafür bedanken, dass sie sich für mich entschieden haben, und bei meinen Eltern, die ich sehr liebhabe. Ich liebe euch, Houston!“ Diese finalen Worte wurden begleitet vom bereits erwähnten Kusshändchen, das sie wie ein routinierter Profi ins Auditorium warf.
Als sie im Jahr darauf für den Gastauftritt zum selben Wettbewerb zurückkehrte, berichtete die Präsentatorin der Show dem Publikum von der beeindruckenden Leistung, die Beyoncé im Vorjahr abgeliefert hatte. „Jedes Mal, wenn ich ihren Namen sagte, brandete Applaus auf“, sagte sie. Als Beyoncé schließlich die Bühne betrat, war sie kaum mehr als das Kind, das zwölf Monate zuvor auf der Bühne gestanden hat, zu erkennen. Sie sang „Home“, eine alles andere als leichte Nummer aus dem Musical The Wiz, und trug ein von der Hauptfigur Dorothy beeinflusstes Outfit bestehend aus einem blauen Trägerrock über einer weißen Bluse mit Puffärmeln. Sie war geschminkt, trug glitzernde Ohrringe und ihre Haare waren glänzend und gelockt. Ihr Look und ihr Gesang ließen sie wie einen jungen Star erscheinen. Sie wirbelte über die Bühne, ohne dabei auch nur eine Note nicht zu treffen.
Obwohl ihr Talent für sich selbst sprach, hielten Mathew und Tina es für eine gute Idee, für ihre Tochter einen professionellen Gesangslehrer anzuheuern, um sicherzustellen, dass ihre Stimme richtig geschult würde. 1989 wandten sie sich also an einen Mann namens David Lee Brewer, einen international auftretenden Operntenor, der mit der Houston Ebony Opera zusammenarbeitete und nun auch Privatstunden gab. Wenig überraschend versetzte Beyoncé, deren Stimme als Mezzosopran – eine mittlere Stimmlage und die herkömmliche bei Frauen – eingestuft wurde, ihren neuen Gesangslehrer in Erstaunen. „Beyoncé war ein achtjähriger Engel, als wir uns zum ersten Mal trafen“, vermerkt David auf seiner Website. Tina bat ihn, ihrer Tochter beim Singen zuzuhören. Dieser Bitte kam David ein paar Tage später gerne nach. „Dieses kleine Mädchen in einem Rüschenkleid und dazu passenden Söckchen holte langsam Luft und öffnete dann den Mund, um loszulegen. Was sie nun entfesselte, war einer der beeindruckendsten Klänge, den ich je von einem Kind zu hören bekommen hatte. Irgendetwas dabei ergriff mich und ließ mich nicht mehr los. Der Sound erinnerte an geschmolzenes Gold, sie hatte ein ganz besonderes Timbre. Außerdem besaß Beyoncé anscheinend eine angeborene körperliche Verbindung zur Musik. Das hier war mehr als nur eine Stimme, dachte ich, es war eine Seele.“
Irgendwann zog David sogar in das Apartment über der Garage der Familie und mit seiner Unterstützung erhielt Beyoncés Stimme noch einen zusätzlichen Schliff. Ihre Eltern kauften ihr eine Karaoke-Maschine, mit deren Hilfe sie nun versuchte, die Leistungen ihrer Vorbilder aus dem R&B-Genre zu toppen. „Karaoke machte mir viel Spaß“, erzählte sie dem Guardian. „Ich verbrachte den ganzen Tag damit, nahm mich zu den Songs anderer auf und schrieb gelegentlich die Texte ein wenig um.“
Aber als sie schließlich regelmäßiger bei Talentshows aufzutreten begann, benötigte sie etwas, das ihr dabei half, mit ihrem Lampenfieber, das sie seit jeher vor jedem Auftritt plagte, umzugehen. Und so entstand ihr Alter Ego – Sasha Fierce. Dabei handelt es sich um eine imaginäre Figur, die das Kommando übernahm, wann immer Beyoncé in der Öffentlichkeit sang. Sasha war eine mutige, unbeirrbare Persönlichkeit mit einer kräftigen Stimme, die auch gegen die herbste Kritik immun war. Ihre Cousine Angie ließ sich den Namen einfallen und Beyoncé bekannte in einem TV-Interview mit ABC, dass diese Taktik sie vor dem intensiven Druck, mit dem sie sich als Kind auseinandersetzen musste, beschützte. „Sasha ist so selbstbewusst und furchtlos und hat eine Menge Dinge drauf, die ich nicht draufhabe“, erklärte sie. „Sie beschützt mich. In meinem Kopf sage ich: ‚Okay, jetzt übernimm bitte, bitte, bitte. Ich bin Sasha, ich bin Sasha.‘ Ich muss mich selbst in diesen Zustand versetzen, wenn ich Angst habe.“ Im Grunde genommen wurde Sasha ein allgegenwärtiger Bestandteil von Beyoncés Leben – bis zum Jahr 2010, als sie die große Entscheidung fällen würde, Sasha in den Ruhestand zu schicken.
Beyoncé schlug sich in der Schule weiterhin durch. Eine ihrer wichtigsten Rollen war es außerdem, ebendort auch ein Auge auf ihre Schwester Solange, die ein paar Klassen unter ihr war, zu haben. „Ich kann gar nicht sagen, wie viele Jungs und Mädchen davon berichten können, dass Beyoncé ihnen eine Tracht Prügel androhte, wenn sie mich nicht in Ruhe ließen“, vertraute Solange GQ an. Solch eine Bindung mag selten sein, und auch Beyoncé selbst betonte regelmäßig öffentlich ihre Gefühle gegenüber ihrer Schwester, wie etwa gegenüber Harper’s Bazaar: „Ich war immer die große Schwester. Ich bin fünf Jahre älter als Solange und hatte einfach immer das Bedürfnis, sie zu lieben und zu beschützen. Ich hatte nie den Wunsch, mit meiner Schwester zu streiten. Wir sind beide sehr verschieden in Bezug auf die Dinge, die uns gefallen oder wie wir Dinge angehen, aber diese Unterschiede tragen zu unserer Freundschaft nur noch bei. Die Liebe, die ich für sie empfinde, ist unbeschreiblich.“
„Sie ist schon immer – seit ich ein Baby war – so fürsorglich und protektiv in Bezug auf mich gewesen“, sagte Solange. „Wenn du dich meiner Schwester gegenüber respektlos zeigst, werde ich dir gegenüber komplett durchdrehen“, bestätigt Beyoncé diese Aussage.
1990 kam die neunjährige Beyoncé an die Parker Elementary School in Houston, die dafür berühmt war, das musikalische Talent ihrer Schüler zu fördern. Während es den meisten ihrer Mitschüler jedoch in erster Linie darum ging, ihre Hausübungen rechtzeitig abzugeben, als eine Musikkarriere zu planen, war Beyoncé vollkommen anders gestrickt. Ihr Ziel war es, eine berühmte Sängerin zu werden. Es genügte ihr nicht länger, in der überschaubaren Szene lokaler Talent- und Schönheitswettbewerbe zu bleiben, und ihre Ambitionen wuchsen rapide, als sie auf ihre Klassenkameradin LaTavia Roberson traf. „Wir lernten uns in der Grundschule kennen und wuchsen praktisch miteinander auf“, erzählte LaTavia der Zeitschrift Black Beat.
Das Duo liebte es, gemeinsam zu singen. Als Mathew und Tina von einem Vorsingen für eine Girlband in der Stadt hörten, nahmen sie die beiden dorthin mit. Nachdem sie die Jury mit ihren ansteckenden Harmonien verblüfft hatten, wurden Beyoncé und LaTavia mit drei anderen Mädchen auch prompt in die neue Gruppe Girls Tyme aufgenommen. LaTavia erzählte viele Jahre später auf MTV: „Da waren richtig viele Mädchen, ich meine, richtig viele. Aber von den 65 Mädchen schafften es Beyoncé und ich in die Band.“ Auch LaTavias Cousinen, die Schwestern Nikki und Nina Taylor, sowie ein Mädchen namens Ashley Támar Davis gehörten zum Line-up. Zwar wurde die Besetzung in den kommenden Monaten regelmäßig verändert, doch war es wohl unvermeidbar, dass Beyoncé die Rolle der Leadsängerin zufiel.
Als die Gruppe zusammengestellt wurde, entschloss sich die Geschäftsfrau Andretta Tillman dazu, etwas Geld in die Mädchen zu investieren und im Gegenzug auch den Posten der Managerin zu übernehmen. Nur wenig später wurde die Formel von Girls Tyme um eine weitere Variable erweitert: Kelly Rowland, eine von LaTavias Freundinnen. Sie sollte nicht nur zu einem wichtigen Mitglied der Band, sondern überhaupt zu einer Schlüsselfigur in Beyoncés Leben werden. LaTavia und Beyoncé hatten begonnen, sich regelmäßig mit Kelly zu verabreden. Die Mädchen trafen sich im örtlichen Schwimmbad, spielten gemeinsam mit ihren Barbies oder stellten Zelte im Freien auf. Kelly war ein großer Fan von Whitney Houston und stimmte jedes Mal, wenn sie miteinander spielten, eines ihrer Lieder an. LaTavia schlug Kelly nach einer dieser Demonstrationen ihrer harmonischen Stimme vor, Beyoncés Eltern vorzusingen. Nachdem sie das getan hatte, wurde sie schließlich umgehend ebenfalls ein Mitglied von Girls Tyme.
Kelly, deren eigentlicher Name Kelendria lautete, war erst unlängst mit ihrer Mutter von Atlanta nach Houston gezogen. Sie war sieben Monate älter als Beyoncé und legte, seit sie mit vier im Kirchenchor zu singen begonnen hatte, eine ähnliche stimmliche Begabung wie sie an den Tag. Und genau wie Beyoncé träumte auch sie davon, berühmt zu werden – so wie ihr Idol Whitney Houston. Allerdings hatte Kelly einen schwierigeren Background: Ihre Mutter Doris hatte ihren Vater Christopher, einen Trinker, verlassen, da er ein unberechenbares Gemüt hatte. Das Geld war immer knapp und Doris mühte sich als Kindermädchen ab, um über die Runden zu kommen. Nachdem sie nach Houston übersiedelt waren, sah Kelly ihren Vater nur noch selten. Später sprach sie darüber, dass sie die Trennung sehr traurig gemacht habe: „Ich sah die anderen Kids in der Schule und wie sie von ihren Dads abgeholt wurden. Das war etwas, das mir abging. Jedes kleine Mädchen braucht ihren Papa“, erzählte sie der Daily Mail. „Musik war meine Flucht. Das ist sie immer noch. Ich fühlte wahrscheinlich, dass ich etwas verpasste, weil mein Vater nicht da war.“
Allerdings wurde Kelly stets warmherzig beim Knowles-Clan willkommen geheißen und es dauerte nicht lange, bis sie mehrere Male die Woche dort übernachtete. Sie und Beyoncé blieben bis spät in die Nacht wach, kicherten und erzählten sich Geschichten. Außerdem sangen sie regelmäßig gemeinsam mit Mathew und Tina. Viele Jahre später erinnerte sich Kelly in der Autobiografie von Destiny’s Child daran, dass es wie eine allabendliche Pyjama-Party gewesen sei – und eine ziemlich lautstarke dazu.
Mit Kelly an Bord und Andrettas Unterstützung begannen Girls Tyme in jeder freien Minute, das heißt, so oft es ihre Stundenpläne gestatteten, zu proben. Während sie Pop- und R&B-Nummern sangen und rappten, gingen einige von Mathews und Tinas wertvollen Gegenständen, darunter sogar eine gläserne Kastentür, zu Bruch, da sie bei den Proben im Vorraum der Familie Knowles gerne wild herumsprangen. Die Girls testeten ihre energiegeladenen Performances außerdem gerne an Tinas Kundinnen im Haarsalon aus, wobei sie mitunter für ihren Aufwand mit großzügigen Geldspenden belohnt wurden. Während Tina Haare schnitt, choreografierte Mathew die Moves der Mädchen und bat danach um ehrliches Feedback. „Manchmal wollten die Leute auch gar nicht zuhören“, vertraute Tina dem Texas Monthly an. „Die Mädchen schrien, dass sie mitklatschen sollten, und die Kundinnen verdrehten die Augen. Das war ein zähes Publikum.“
Stets lerneifrig in Bezug auf neue Tanzschritte, sahen sich die Mädchen in ihrer Freizeit alte Musikvideos an, um von Gruppen wie den Jackson Five und den Supremes zu lernen. Da klar war, dass auch das Image eine Rolle dabei spielen würde, die Aufmerksamkeit der Vertreter der Musikbranche auf sich zu ziehen, erklärte sich Tina bereit, die Mädchen in ihrem Salon zu stylen. Darüber hinaus entwarf sie noch ihre farbenfrohen Kostüme. Sie entwickelten sich langsam zu einem perfekten kleinen Pop-Paket.
Obwohl es harte Arbeit war, betonte Beyoncé stets, dass der Fokus trotz allem darauf lag, eine gute Zeit zu verbringen. Sie bestand darauf, dass ihre Eltern sie zu nichts drängten, wie es manchmal unterstellt wurde. „Ich empfand die Proben als Vergnügen“, schrieb sie in Soul Survivors. „Es war die Zeit, in der ich mir Tanzeinlagen und Gesangsarrangements ausdachte. Das war wie eine Spielstunde.“
1991 zog Kelly bei den Knowles ein und begann damit, Tina „Tante“ und Mathew „Onkel“ zu nennen. Ein Arrangement, das allen entgegenkam. „Meine Mom wohnte als Kindermädchen bei einer Familie“, erzählte sie später dem Magazin Interview. „Wir probten jeden Tag und wegen ihrer Arbeitszeiten konnte meine Mom mich nicht ständig zu den Proben hinbringen und dann wieder abholen. Deshalb erkundigte sich meine Mom bei Tina: ‚Kann Kelly den Sommer über bei euch wohnen?‘ Und aus dem einen Sommer wurde … wie lange noch mal? Aber es war wie eine große Familie, weil Mom jeden Abend vorbeikam, um mir einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. Ich sage gerne, dass ich drei Elternteile habe – Tina und Mathew und meine Mom – drei weise Menschen, die mich unterstützen.“ Beyoncés Eltern liebten sie jedenfalls wie eine eigene Tochter. Tina bekannte später: „Kelly bringt große Freude in mein Leben. Ich werde sehr traurig sein, wenn der Tag kommt, an dem sie bei uns auszieht.“ Obwohl es hartnäckige Gerüchte gab, denen zufolge sie und Mathew Kelly adoptiert oder die rechtliche Vormundschaft für sie übernommen hätten, verneinte Tina dies stets. „All diese Gerüchte sind verrückt“, ärgerte sie sich im Magazin Ebony. „Kellys Mom hatte Schlüssel zu unserem Haus und zu unserem Auto. An den meisten Wochenenden wohnte sie bei uns. Sie nahm jeden Tag an Kellys Leben teil.“
Beyoncé war ihrer besten Freundin nun näher als je zuvor. „Wir schliefen im selben Bett, wachten jeden Morgen gemeinsam auf, sangen den ganzen Tag und liebten jede einzelne Minute“, erklärte sie der Zeitschrift Blender. Außerdem waren sie für jede Menge Chaos verantwortlich, wie sie Jahre später bei einem Besuch in Graham Nortons Show kichernd gestand: „Wir waren böse kleine Bälger, aber wir hatten Spaß … Wir schafften etwa alle Matratzen aus dem Haus und bauten uns Rutschen. Aus Vorhängen bastelten wir Schaukeln. Wir versuchten, kleine Kätzchen in unser Haus zu locken – meine Mom kam nach Hause und da waren bereits so um die 20 Katzen, die durchs Haus rannten!“
Die Mädchen unterhielten sich auch über ihre Hoffnungen. Ungefähr zu dieser Zeit hielt Beyoncé ihre Ziele für die Zukunft akribisch auf einem Videoband fest. Anstatt nur zu verkünden, dass sie ein Popstar werden wolle, erklärte sie auf für ihr Alter überraschend detaillierte Weise, dass es ihr Ziel sei, ein Album aufzunehmen, das eine Goldene Schallplatte gewinnen würde. Das nächste Album solle dann schon Platin einfahren und das dritte wolle sie gänzlich selbst schreiben und produzieren. Niemand – nicht einmal Mathew und Tina – hätten je vorhersehen können, dass sie all diese Ziele noch vor ihrem 21. Geburtstag erreichen würde.
Ihre Mitschüler hatten jedenfalls keine Ahnung von ihren geheimen Plänen, weil Beyoncé es vorzog, ihre Talente für sich zu behalten. Als Schülerin der Welch Middle School war sie genauso scheu wie eh und je und mühte sich mit den Fächern ab, sogar wenn sie ihren Verstand nicht herausforderten. Sie achtete darauf, nicht aufzufallen, nachdem ihre Cousine sie eingehend gewarnt hatte, dass sich andere Mädchen durch sie bedroht fühlen würden und ihr sogar ihre langen Haare abschneiden könnten, wenn sie von ihren gesanglichen Ambitionen erfahren würden. Das wirkte sich so stark auf Beyoncé aus, dass sie ihre Haare für die ersten sechs Monate an der neuen Schule in einem Dutt zusammengebunden trug. Erst nachdem der Unterricht beendet war und sie zu den Proben mit Girls Tyme davongeeilt war, kam ihre wahre Persönlichkeit wieder zum Vorschein.
Abseits der Schule fand die fromme Beyoncé immer noch Zeit, um wöchentlich die St. John’s United Methodist Church zu besuchen. Das war auch der Ort, an dem ihr Kelly 1993 einen hübschen Jungen namens Lyndall Locke vorstellte. Mit seinen 13 Jahren war er ein Jahr älter als sie, aber die beiden verstanden sich auf Anhieb und begannen, sich so oft wie möglich nach der Schule zu treffen – solange es ihre Proben zuließen. Beinahe jeden Abend unterhielten sie sich am Telefon – oft sogar so lange, dass einer der beiden mit dem Hörer in der Hand vor Müdigkeit einschlummerte. An den Wochenenden liebten sie es, ins Kino zu gehen oder einfach bei ihr zuhause abzuhängen, Musikvideos anzusehen und „Vier gewinnt“ zu spielen. Nachdem sie ein Jahr befreundet gewesen waren, fragte Lyndall Beyoncé offiziell, ob sie seine feste Freundin sein wolle. Sie willigte ein. Trotzdem änderte sich nur wenig, da ihre kleinen „Dates“ weiterhin sehr unschuldig blieben. Letzten Endes blieben sie sieben Jahre lang ein Paar. Beyoncé meinte später: „In diesem Alter ist das eine lange Zeit. Ich war ein bisschen reifer als er und ihm gegenüber immer sehr treu.“ Lyndall erzählte der Sun, wie verknallt er gewesen sei, und verglich sie mit einem Engel. Für ihn war sie das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte.
Im frühen Stadium ihrer Beziehung verbarg Beyoncé allerdings noch ihr Doppelleben als Sängerin, da sie fürchtete, er würde sie für arrogant oder lächerlich halten. „Sie war einfach so schüchtern und in der Schule ein bisschen eine Außenseiterin. Sie sang nicht einmal im Chor. Zwei Jahre lang wusste ich nicht, dass sie überhaupt singen konnte“, sagte er. Immerhin war ihm nicht entgangen, dass sie eine gute Tänzerin war, da er sie und Solange endlose Nummern bei ihnen zuhause aufführen gesehen hatte.
Obwohl sie damals vielleicht wie ein Traumpaar gewirkt haben mochten, spielte Beyoncé in späteren Jahren ihre Beziehung herunter, indem sie etwa sagte, dass ihr erster gemeinsamer Kuss „ätzend“ gewesen sei. Gegenüber Elle enthüllte sie: „Es war schrecklich. Ich biss die Zähne zusammen, damit er mir nicht seine Zunge in den Hals stecken konnte … Ich erzählte Kelly, dass es das Schlimmste auf der Welt sei.“
Lyndall erinnerte sich an diesen Kuss ganz anders. Er erzählte später in der Sun, dass er Beyoncé zu einem Konzert mitgenommen habe und ihm ein Eimer mit Popcorn auf den Boden gefallen sei. „Als wir uns beide bückten, um ihn aufzuheben, stießen wir mit den Köpfen zusammen und küssten uns zum ersten Mal. Wir hatten uns beide einfach angesehen und hatten begriffen, dass die Funken zwischen uns beiden nur so sprühten. Es war ein märchenhafter Kuss, wie man ihn sonst nur aus Filmen kennt. Das war der erste Moment wahrer Liebe zwischen mir und Beyoncé. Bis heute habe ich nie mehr einen so leidenschaftlichen Kuss wie diesen erlebt.“
Beyoncé äußerte sich in einem Interview mit COSMOgirl wiederum weniger schmeichelhaft über Lyndall: „Mein erster Freund war echt zum Vergessen. Er passte einfach nicht zu mir. Wir unterhielten uns am Telefon und es lief ungefähr so: ‚Hallo?‘ ‚Hallo.‘ ‚Was machst du so?‘ ‚Nichts.‘ Das war echt nervig. Er war öde und hatte null Ehrgeiz.“
Obwohl sie Lyndall in den frühen Jahren gemocht hatte, ließ sie es nicht zu, dass er ihrem größeren Plan im Weg stehen würde. Während ihre Eltern der Beziehung mit ihrem Freund ziemlich entspannt gegenüberstanden, waren sie doch rigoros bezüglich dessen, was sich unter ihrem Dach abspielte. Seitdem ihre Mädchen auf der Welt waren, hatten sie Beyoncé und Solange Sinn für Moral eingetrichtert, was sich auch in ihren musikalischen Projekten widerspiegelte. In diesen frühen Tagen war Tina unerbittlich in Bezug auf Schimpfwörter oder sexuelle Inhalte in den Liedern, die die Mädchen sangen.
Nach vielen weiteren Monaten intensiven Übens und einem Level an Hingabe, das über ihr Alter hinwegtäuschte, gelang es Girls Tyme, eine Reihe von kleineren Auftritten, darunter etwa bei einem Schönheitswettbewerb zur Miss Black Houston, an Land zu ziehen. Zu dieser Zeit begannen sie auch generell, auf sich aufmerksam zu machen. So flog etwa ein R&B-Produzent namens Arne Frager ein, um sie zu sehen, und war höchst beeindruckt vom Engagement der Mädchen. Auch ihr Gesang und ihre raffinierten Dance-Moves hinterließen bei ihm einen bleibenden Eindruck. Vor allem war er von Beyoncés Stimme und ihrer Persönlichkeit begeistert.
Nachdem die Gruppe seiner Einladung nach Kalifornien gefolgt war, entschied er, dass sie im großen Stil der Öffentlichkeit vorgestellt werden müsse, wenn sie einen Plattenvertrag einheimsen wolle, weshalb er sie bei einer großen, landesweit im Fernsehen übertragenen TV-Talentshow namens Star Search anmeldete. Dieser Vorläufer von Shows wie etwa The X Factor und American Idol wurde während der Achtziger und Neunziger ausgestrahlt und präsentierte miteinander konkurrierende Acts, die von vier Juroren mit Sternen ausgezeichnet wurden. Neben Beyoncé und ihren Bandkolleginnen bei Girls Tyme traten im Laufe der Jahre zahllose aufstrebende Auftrittskünstler sowie künftige Weltstars, wie etwa die noch sehr jungen Alanis Morissette, Britney Spears, Justin Timberlake und Jessica Simpson, in der Show auf.
Girls Tyme trugen bunte Regenmäntel, dazu passende Shorts und glänzende, handgefertigte Stiefel, in denen sie über die Bühne tanzten und rappten. Jedoch lief es für sie nicht ganz so wie gewünscht und sie landeten mit nur einem Stern weniger als die schroffe Heavy-Metal-Combo Skeleton Crew, die den Sieg davontrug, auf dem zweiten Platz. Natürlich waren die Mädchen am Boden zerstört und Beyoncé erinnert sich an den Schmerz, den die Mädchen angesichts ihrer Konkurrenz empfanden: „Wir verkniffen uns unsere Tränen und rangen uns ein geheucheltes Lächeln ab.“ Nachdem die Show vorüber war, wurde es zu viel und die Mädchen rannten hinter die Bühne, wo schließlich alle Dämme brachen und sie in bittere Tränen ausbrachen. Doch rückblickend waren sie alle der Meinung: „Wir haben es verhaut.“ LaTavia stellte in den Raum, dass womöglich die Wahl des Songs ihren jungen Stimmen nicht sonderlich entgegengekommen war. „Sie ließen uns einen Rap-Song performen, obwohl wir lieber etwas gesungen hätten“, sagte sie. „Sie installierten für uns sogar eine neue Hip-Hop-Kategorie. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, halte ich es aber dennoch für eine wichtige Lernerfahrung, die wir nie vergessen werden.“
Beyoncé äußerte sich viel später in einem Video, das 2013 zeitgleich mit ihrem Album Beyoncé erschien, folgendermaßen über diesen Schlüsselmoment: „Es war ein absolut prägendes Erlebnis meiner Kindheit. Ich hatte mir ausgemalt, dass wir bei Star Search auftreten, gewinnen und einen Plattenvertrag bekommen würden. Das war damals mein Traum. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass die Möglichkeit bestünde, nicht zu gewinnen. Ich war erst neun Jahre alt, weshalb ich damals nicht begriff, dass man für etwas superhart arbeiten, alles geben und trotzdem verlieren konnte. Das war für mich die wichtigste Erkenntnis.“ Sie fügte noch hinzu: „Die Realität sieht so aus, dass man manchmal eben verliert. Man ist nie zu gut, um nicht auch mal verlieren zu können. Man ist nie zu groß, um zu verlieren. Man ist auch nie zu clever dafür. Es passiert einfach. Und es passiert dann, wenn es eben passieren muss. Man muss das auch zu schätzen wissen.“
Im Anschluss an diese Niederlage hätte man den Mädchen durchaus verzeihen können, wenn sie gedacht hatten, ihr Traum sei vorüber, bevor es überhaupt richtig losgegangen war. Aber dem stets optimistischen Mathew schwebten ganz andere Dinge vor. Er hatte einen flüchtigen Blick auf die blendende Zukunft seiner Tochter werfen dürfen und war nun nicht bereit, kampflos die Segel zu streichen. Während eines Vortrags an der Thornton School of Music, die zur University of Southern California gehört, sagte er 2011: „Aus irgendeinem Grund raffen sich diejenigen, die bei Star Search unterliegen, erneut auf, um schließlich Erfolg zu haben.“ Um diesen Erfolg einfahren zu können, beschloss er, sich mehr einzubringen, und bat Andretta, als Co-Manager einsteigen zu dürfen. Es heißt, dass Mathew sogar damit gedroht habe, Beyoncé aus der Gruppe zu nehmen, nachdem sie dieser Idee anfänglich ablehnend gegenübergestanden war, was dazu führte, dass sie schließlich einwilligte. Nachdem Andretta nach jahrelangem Leiden an ihrer Lupus-Erkrankung, einer seltenen Autoimmunerkrankung, verstorben war, sagte ihr Bruder Lornonda Brown, dass ihr gar keine Wahl geblieben sei als zuzustimmen: „Sie wusste, dass sie musste. Mathews Tochter war seine Trumpfkarte.“
Nun, da er am Steuer saß, wusste Mathew, dass er mit der Band noch einmal ganz von vorne beginnen müsse, vor allem, da die Mädchen noch einmal Zuwachs in Form eines neuen Mitglieds bekommen hatten. Es handelte sich mit LeToya Luckett dabei um ein talentiertes Mädchen, das mit Beyoncé in der Grundschule in dieselbe Klasse gegangen war. In einem Interview mit dem Independent meinte LeToya: „Beyoncé fand heraus, dass ich singen konnte, als wir beide für Pinocchio vorsangen. Wir teilten uns die Hauptrolle in dieser Schulaufführung und lernten dafür gemeinsam die Songs und Tanzschritte.“
Durch das neue Mitglied erhielt die Band eine neue Dimension und Mathew und Andretta entschieden daraufhin, die Originalbesetzung der Band drastisch zu dezimieren. Nachdem die Anzahl der Bandmitglieder von sieben auf nur mehr vier verringert worden war, bestand die Gruppe nun aus Beyoncé, LeToya, Kelly und LeTavia. Jedes der Mädchen brachte eine andere Qualität mit und so deckten sie endlich die gesamte gesangliche Bandbreite ab. Kelly verfügte über ein breites Spektrum, was sich gut für die schnelleren Nummern eignete, sie konnte auch die tiefen Töne noch singen. LeToya erreichte mit ihrer Sopranstimme luftige Höhen. Und was Beyoncé betraf, so vermochte sie es mit ihrem nunmehr kultivierten, souligen Gesang, einem jeden in Hörweite befindlichen Individuum eine Gänsehaut über den Rücken zu jagen.
Von nun an als Vierergespann unterwegs, begann die richtig harte Arbeit. Mathew war von Anfang an hundertprozentig fokussiert: Das war nun nicht länger eine Gruppe von Mädchen, die einfach nur ihren Spaß haben wollten. Im Verlauf der folgenden 18 Monate schleifte er sie in eine Art „Mini-Bootcamp“, indem er sie vor der Schule durch die Parks von Houston hetzte und sie während des Joggens zusätzlich auch noch singen ließ, damit sie lernten, auch bei körperlicher Anstrengung nicht aus der Puste zu kommen. Sie fingen an, einen fettreduzierten Speiseplan einzuhalten. Beyoncé aß nun üblicherweise kalorienarme Tiefkühlmahlzeiten sowie zuckerfreie Götterspeise zum Abendessen und verzichtete auf die herzhaften, frittierten Gerichte, die sie so liebte. Die Mädchen wurden außerdem darin unterwiesen, ihre energiegeladenen Tanznummern in High-Heels zu proben, was ein paar verdrehte Knöchel zur Folge hatte. „Jedes Mal, wenn er mich pushte, wurde ich noch stärker“, sagte Beyoncé später über Mathews Führungsstil. Sie berichtete auch davon, dass sie viele Opfer bringen mussten, wie etwa das Cheerleading aufzugeben. Für gesellschaftliche Ereignisse im Kreise der Schulfreunde gab es nur mehr wenig Platz. „Mein Leben bestand aus Arbeit. Ich ging also nicht einmal wirklich auf einen Schulball“, erzählte sie dem Daily Telegraph. „Nun, ich ging auf den Ball meines Freundes als sein Date, aber dort kannte ich nicht wirklich jemanden und musste früh zu Hause sein!“
Teil von Mathews großem Plan war, dass er mit den Mädchen an eigenen Songs, die sie zusätzlich zu den Nummern anderer Künstler performen sollten, arbeiten würde. Die Hauptinspiration für die Texte ihrer Songs fand Beyoncé in Tinas Haarsalon, in dem sie die Unterhaltungen, die die Kundinnen über ihre missratenen Männer führten, belauschte. „Frauen sind beim Frisör viel offener als Männer“, verriet sie Elle. „Sie blättern in Modezeitschriften, hören Anita Baker und plaudern über ihre untreuen Männer. Da geht es viel pikanter zu als bei den Männern.“
Mathew schrieb den Mädchen auch vor, dass sie mindestens einmal in der Woche ein lokales Konzert – in der Schule, der Kirche oder bei einer Modenschau – zu absolvieren hätten. Und in den Schulferien sogar noch öfter. „Nichts war zu klein oder zu groß“, meinte er im Gespräch mit Forbes. „Üben, üben. Beyoncé war schon immer so leidenschaftlich bezüglich ihrer Musik gewesen, dass sie sich nie über die vielen Wiederholungen beschwert hätte.“
Sie traten sogar zu verschiedenen Anlässen in Beyoncés liebstem Themenpark, Six Flags AstroWorld, auf – allerdings musste sie dort auch eine der schlimmsten Erfahrungen ihres Bühnenlebens über sich ergehen lassen. Dem Fernsehmoderator Graham Norton erzählte sie von dem peinlichen Auftritt: „Meine Freunde waren im Publikum und es war eiskalt. Mein Gesicht war taub. Bevor ich mich versah, bemerkte ich, dass sich vor mir etwas aufblähte. Meine Nase war echt rot … und da ist plötzlich eine riesige Schnodderblase. Es war mitten während unserer Performance und ich rannte von der Bühne, um die Sache in Ordnung zu bringen, aber alle meine Freunde konnten es sehen. Es war schrecklich peinlich.“
Aber obwohl viele behaupteten, dass Mathew die Mädchen zu hart rannahm, besteht Beyoncé darauf, dass stets alles in ihrem Sinne gewesen sei, wie sie auch gegenüber dem Magazin Scholastic Action bestätigte: „Als ich jünger war, gingen die meisten Leute auf Partys. Ich konzentrierte mich auf die Proben. Während andere Kinder draußen spielten, wollte ich drinnen sein, um Songs zu schreiben und Tänze zu trainieren.“
Indem er seine ständig zunehmenden Kontakte spielen ließ, gelang es Mathew, eine höchst einflussreiche A&R-Managerin bei Columbia Records namens Teresa LaBarbera Whites davon zu überzeugen, von New York nach Houston zu fliegen, um sich einen Auftritt der Mädchen in einem jüdischen Gemeindezentrum anzuhören. Allerdings lief es nicht wie gewünscht: Die Mädchen waren am Vortag gemeinsam beim Schwimmen gewesen und hatten deshalb nasale Stimmen. Während eines Videos, das den Auftritt zeigt, kann man einen erzürnten Mathew hören, wie er inmitten eines Songs ruft: „Es ist mir egal, ob Teresa da ist. Merkt ihr, was der Preis dafür ist, dass ihr schwimmen wart?“
Ein paar Jahre später gestand LeToya, wie hart der Drill für sie gewesen sei. „Es war sehr anstrengend, schon so jung Mitglied einer ernsthaft arbeitenden Band zu sein“, erklärte sie dem Independent. „Wir mussten um sechs Uhr früh zu Gesangsstunden erscheinen und opferten einen Teil unserer Kindheit. In der sechsten Klasse wurden wir aus dem Schulleben gerissen, weshalb wir nichts mit dem ganzen Abschlussball- oder Ballköniginnen-Kram zu tun bekamen. Es war aber schon aufregend. Wir waren sehr brav und konzentriert für einen Haufen Kids.“
Da sie alle im selben Maße fromm waren, beteten die Mädchen zu Gott, dass er ihnen einen Plattendeal bescheren solle. Die Situation der Mädchen erinnerte an die ähnlich strikt geregelten Anfänge der Jackson Five. „Wir nannten Mathew ‚Joe Jackson‘“, gab LaTavia zu. „Er war sehr streng. Beyoncé war die einzige, die mutig genug war, sich gegen ihn zu stellen.“ LaTavia, die Mathews Ansatz gegenüber vermutlich am kritischsten eingestellt war, meinte außerdem: „Wir arbeiteten echt hart. Immer nur proben, proben, proben. Es gab da uns vier Mädchen, und er war unser Drill-Sergeant. Als es Sommer war, holte er uns in ein Camp bei sich zuhause in Houston. Er weckte uns früh am Morgen auf und fuhr uns in den Herman Park. Da gab es eine dreieinhalb Meilen [5,6 km] lange Laufstrecke. Wir mussten singen, während wir liefen. Dann fuhren wir zurück zum Haus und probten. So sahen unsere Tage aus, sieben Tage die Woche. Rückblickend hat uns diese harte Arbeit unsere Kindheit gekostet. Aber damals konzentrierten wir uns darauf, unseren Traum zu leben.“