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Der Tod

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Am Tag ihres Todes erklang ihre Stimme und übertönte viele andere lärmige Laute. Der Tod aber, ihr Tod, war kein Laut, sondern eine Farbe. Sie trugen ihren Körper in einer großen blau-gelben Flagge nach Hause – der Flagge eines Staates, den es noch auf keiner Karte der Welt gab. Sie war straff darin eingewickelt wie eine ägyptische Mumie, an einer Stelle war ein dunkler blutiger Fleck nach außen gedrungen. Als ich da stand und auf diesen Fleck starrte, dachte ich, hier müsse ein Irrtum vorliegen. In der Schule wurde uns erklärt, alle Flaggen wären rot, weil sie in Heldenblut getränkt wären. Sie erzählten uns die Geschichte von dem Arbeiter, der erschossen wurde, als er auf die Straße ging, um mit einer weißen Flagge für seine Rechte zu kämpfen. Als die Schüsse der Gendarmen fielen, färbte sein Blut die Flagge rot. Aber seitdem ist alles anders geworden, inzwischen wusste ich, dass die rote Farbe öfter für Terror als für Befreiung stand. Und dennoch, als ich neben Mamas Leichnam stand, musste ich daran denken, dass Rot besser gepasst hätte. Die rote Flagge war erhaben und tragisch, die blau-gelbe lässig und kitschig. Sie hatte etwas von einem heißen Sommertag, von Ferien auf dem Land. Das Blau sei der Himmel, das Gelb die Getreideähren, sagte Mama. In manchen Augenblicken des Lebens kommt man auf seltsame, manchmal sehr unpassende Gedanken. Hätte Mama erfahren, was ich damals dachte, sie wäre empört gewesen. Kurz darauf, als die Männer, die sie ins Haus trugen, die Flagge abwickelten, um uns die offene Wunde am Schulterblatt zu zeigen, hörte ich auf, mich auf die Farben zu konzentrieren, und begann, an ihre Haut zu denken.

Mama zog sich oft vor dem großen Spiegel aus, ohne sich vor mir zu genieren, und stand nackt da, betrachtete sich und sang bisweilen währenddessen. Ich setzte mich neben sie und streichelte mit meinem Blick ihre weiße, sommersprossige Haut, ihre kleinen, festen Brüste, ihre langen Beine mit den feinen roten Härchen. Sie war meine persönliche Schneekönigin und zugleich all die nackten Venus und bekleideten Madonnen aus den Kunstbänden im Bücherregal. Ihr Leib sprach davon, dass er Geist war, und er wäre vollkommen gewesen, wenn es nicht einen bestimmten Makel gegeben hätte. Auf ihrem Rücken, neben ihrem linken Schulterblatt, verbarg sich eine satinweiße Vertiefung von der Größe eines Ahornblatts – die einzige Stelle ihrer Haut, die nicht von Sommersprossen übersäht war, und sie sah aus wie ein nachlässig angenähter Flicken. Ich verstand, dass das ein Makel war, aber ich liebte ihn von allem am meisten. Oft fragte ich Mama, woher er komme. Die Spur eines feindlichen Geschosses, erwiderte sie dann lächelnd. Als ich klein war, nahm ich diese Antwort sehr ernst und stellte mir vor, wie die Feinde unseres Systems sie eines dunklen Abends verfolgen, Hunde auf sie hetzen, wie sie sich in einer Telefonzelle versteckt, wie die Kugel das Glas in tausend scharfe, glitzernde Splitter zertrümmert, unter deren Hagel ihr Körper wehrlos zu Boden sinken muss. Die Wahrheit aber war eine andere: Als Mama ein Mädchen war, wuchs ihr auf dem Rücken eine Kette von Leberflecken – etwa so wie das Mal, das Gorbatschow auf der Stirn trug –, und die Ärzte beschlossen, sie herauszuschneiden. Auf diese Weise entstand die seidig-helle Delle.

Als nun ihr Leichnam, in eine ukrainische Flagge gewickelt, zu uns nach Hause getragen und vor unseren Augen enthüllt wurde, galt mein zweiter Gedanke genau dieser Stelle ihrer Haut. Ein echtes Geschoss war in ihr rechtes, sommersprossiges Schulterblatt eingedrungen, und ich verstand nicht, dass es auf diese Weise für eine Art Symmetrie gesorgt hatte: die seidige Delle links, das klaffende Loch rechts. Dieser Gedanke war – so wie der mit der Flagge – der Situation ganz sicher nicht angemessen. Ich stand also reglos und angespannt im Zimmer, wo trotz des grellen Sonnenlichts alle Lampen eingeschaltet waren, und versuchte alle unangemessenen Gedanken zu verdrängen. Das führte dazu, dass ein absolut leerer weißer Bereich in meinem Kopf entstand – ähnlich jener sommersprossenlosen Vertiefung in ihrer Haut, ich wusste nur nicht, ob in meiner rechten oder linken Gehirnhälfte. Es war Juli 1988, meine Mutter war im ungleichen Kampf gegen den sowjetischen Totalitarismus gefallen.

Am Tag ihrer Beerdigung fühlte es sich so an, als ob die Klänge des Militärorchesters die verschnörkelten Fassaden der Häuser in unserer Straße wegblasen würden. Die ersten Noten öffneten viele Fenster, in denen Gesichter von Menschen erschienen, die ein Erdbeben oder Schlimmeres erwarteten.

»Feiertag, das sind für mich die Klänge eines Blasorchesters«, pflegte Mama zu sagen, wenn wir uns am ersten Mai oder am siebten November durch das Spalier der Milizionäre im Zentrum zu unserem Platz auf der Tribüne kämpften. Die Paraden waren damals die einzigen Massenveranstaltungen, die mir keine panische Angst einjagten. Da gab es Ballons, Fähnchen, vor allem aber eine unangreifbare, von vornherein festgelegte Ordnung. Bei der Menschenmenge von heute war das anders. Wenn eine Sintflut käme, wie in der Bibel, sähe es ähnlich aus. Auch da gäbe es keine Fluchtmöglichkeit. Ich stand am geschlossenen Fenster im ersten Stock, und die Flut an Menschen stieg immer höher. Obendrauf trieb der offene Sarg mit Mama.

Gegenüber unserem Wohnhaus befand sich eine Milizdienststelle, und einige Uniformierte drängten sich auf dem runden Balkon genau auf der Höhe meines Fensters. Was wäre, wenn einer von ihnen jetzt seine Waffe zöge und auf mich schösse, fragte ich mich. Müßige Phantasien! Ohne zu zögern wäre ich statt Mama gestorben, aber ich wusste nur zu gut, dass sie am Tag der Abrechnung Dutzende wie mich gegen eine wie sie gegeben hätten. Sie war groß. Sie wollte sterben. Und es war ihr gelungen.

Der Strom unbekannter Köpfe zog vorbei, seufzte, raunte. Jede seiner Bewegungen war an die in mir aufsteigende Angst gekoppelt. Er hatte die Macht, mich zu verschlingen. In der Menge waren schwanger aussehende Frauen mittleren Alters, eingehüllt in wadenlange Mäntel und graue Kopftücher. Ich wusste, was sie unter ihrer Kleidung verbargen. Dort waren auch schwarz gekleidete Männer mit angelähnlichen Stöcken unter den Armen. Ich konnte mir denken, was das bedeutete. Und zugleich hatte ich keine Ahnung, wer diese Leute waren und was sie mit Mama zu tun haben konnten. Mit ihrem Mezzosopran und der Plattensammlung aller Opern der Welt, mit ihrer hellen Haut und der Angewohnheit, beim Essen zu lesen, mit ihren sehr langen, mandelförmigen Fingernägeln. Sie hatte diese Leute nie nach Hause eingeladen, und sie waren nie auf ihren Konzerten gewesen. Sie hatten sich nie auf der Straße gegrüßt und auch nie gemeinsam Kaffee in der »Armenierin« getrunken. Sie hatten nicht mit ihr zusammengearbeitet und hatten ihr keines der Manuskripte gebracht, die in einer Nacht durchzulesen waren. Und jetzt waren sie hier und klagten, als wären sie ein Ast gewesen, der von ihrem Baum abgeschnitten worden ist! Gestern hatte eine unbekannte Frau an unserer Tür geklingelt und gefragt, wann das letzte Geleit für »unsere Marianna« beginne.

Waren sie schuld an ihrem Tod?

Ich weigerte mich strikt, an der Beerdigung teilzunehmen. Ich stand so lange am Fenster, bis der letzte junge Mann mit Angel hinter der Ecke des Gebäudes, das einem Transatlantik-Schiff ähnelte, verschwunden war, die Trompetenklänge sich in Luft aufgelöst hatten und auf den Pflastersteinen nur einige zerdrückte Zigarettenschachteln der Marke Orbita zurückgeblieben waren. Dann wandte ich mich ab und ging Klavier spielen. Niemand außer mir hätte diese Katzenmusik so bezeichnet, abgesehen vielleicht von meiner Urgroßmutter. Wir verbrachten den Tag in ihrem Zimmer, ohne ein Wort miteinander zu sprechen. In den Übungspausen hörte ich, wie sie mit ihren manikürten, gelben Fingern an der Wand kratzte und wie der Baum auf unserem Hof wuchs.

Aba kam am Nachmittag nach Hause, mit dunklen Ringen unter den Augen, denen ich den frisch gefassten Entschluss ablas, mir von nun an ihr ganzes Leben zu widmen. Von der Beerdigung erzählte sie mir Folgendes:

Die Menschenmenge, die Mamas Sarg zum Lytschakiwski-Friedhof trug, wuchs zusehends an. Als ihr Anfang bereits auf der Hälfte der Piekarskastraße war und sich Medizinstudenten aus allen Institutsgebäuden der Reihe nach anschlossen, wand sich das Ende noch immer am Halicki-Platz. Gerüchte besagten, dass am Friedhof schon Milizeinheiten warteten, aber konnte das irgendetwas an der Ausbreitung des Tsunamis ändern? Ungefähr auf Höhe des Museums für Pathologische Anatomie, in dem seit vielen Jahren, immun gegen den Systemwandel, die Hände des städtischen Henkers in einem Glas mit Formalin schlummerten, hörte das Orchester auf, Chopin zu spielen. Auch die üblichen Sowjetmärsche blieben aus. Stattdessen stimmten die Trompeter das verbotene Tscherwona Kalyna an:

Wir aber sagen – Kopf hoch, Roter Schneeballstrauch,

Heiter soll unsere ruhmreiche Ukraine sein!

Nach und nach setzte der Gesang ein und begleitete die Trompeten – dramatisch und böse. Die Frauen holten Ikonen unter ihren Mänteln hervor, und bald flogen die Gesichter des Heiligen Georg und des Heiligen Mikolaj in die Höhe, aber auch das des Erzengels Michael, blass vom jahrelangen Liegen in Kellern und auf Dachböden.

»Schande über Mariannas Henker!«, rief jemand.

»Schaaande!«, riefen Tausende Kehlen zurück.

»Rächen wir Marianna?«

»Wir schwören, sie zu rächen!«

Wie zur Bestätigung dieser Worte begannen die Männer, vorsichtig die Angelruten zu schwenken und die daran befestigten verbotenen blau-gelben Flaggen zu zeigen. Der Trauerzug schritt voran und näherte sich unaufhörlich den drei Bögen am Haupteingang des Friedhofs. Auf einer Querstraße der Piekarska, der Miecznikowa, war bereits der Straßenbahnverkehr eingestellt worden, und an der gesamten Länge der Friedhofsmauer stand eine Milizionärskette, abgeschottet von einer Reihe gepanzerter Fahrzeuge. Ungeachtet dessen bewegte sich der Demonstrationszug vorwärts.

Als die Sargträger die Höhe der Gleise erreicht hatten, riss der Dirigent, ein kleiner, kahlköpfiger Herr, die Hände in die Höhe. Das war ein unmissverständliches Zeichen: Die Menschen stimmten Noch ist die Ukraine nicht verloren an.

Auch die Milizionäre schienen auf diesen Moment gewartet zu haben. Dem Zeichen gehorchend, begannen sie, den Frauen die Ikonen und den Männern die Flaggen zu entreißen. Dies wiederum setzte die Herren in den schwarzen Kunstlederjacken in Bewegung, die große Schäferhunde an der Leine hielten. Sie stürzten sich auf jene, die in die Seitengassen flohen, sich die bunten Stoffe unter die Arme klemmten und im Laufen die Angelstöcke wegwarfen. Wer gefasst wurde, landete in ihren Wagen.

Aba erinnerte sich an einen Jungen mit einer Flagge, der auf der Flucht zu einem Telefonhäuschen rannte und, da es besetzt war, auf sein Dach kletterte. Dort fühlte er sich sicher: Er steckte sich den Fahnenmast zwischen die Beine und zeigte den Beamten fröhlich den Mittelfinger. Ein Mann in Schwarz gab ein kurzes Kommando, und nach wenigen Sekunden war sein abgerichteter Hund schon auf dem Dach des Häuschens. Wie diese Szene ausging, bekam Aba nicht mehr mit – der Trauerzug hatte den Friedhof erreicht und schritt den Berg hinauf, vorbei an den Gräbern der polnischen Schriftstellerin Maria Konopnicka, des ukrainischen Dichters Iwan Franko und der ukrainischen Opernsängerin Salome Kruschelnytska. Der Dissident Wjatscheslaw Tschornowil, heute mit dunklen Schatten unter den Augen, ging den ganzen Weg neben dem Sarg her. Das erste Mal im Leben schien er nicht zu bemerken, dass seine Leute von Hunden gehetzt, mit Knüppeln verprügelt und in Gewahrsam genommen wurden. Er schritt voran, den Blick geradeaus gerichtet. Gewiss dachte er, dass er hätte sterben sollen, nicht Marianna.

Nur wenige Menschen kamen bis zur Grabstätte, vor allem diejenigen, die Mama persönlich gekannt hatten. Von hier, vom Hügel aus, sahen sie den verwüsteten Friedhof der Jungadler, die Endhaltestelle der Sieben und die abgelegenen Villen von Pohulanka.

»Das ukrainische Volk kann stolz sein auf seine Tochter Marianna, die ihr Leben geopfert hat«, sagte Tschornowil würdevoll, und niemandem wäre es in den Sinn gekommen, darauf hinzuweisen, dass Mama diesem Volk de facto gar nicht angehört hatte.

»Diejenigen, die sie getötet haben, denken, sie hätten unser Lied zum Verstummen gebracht. Doch sogar heute konnten sie sich davon überzeugen, dass es nur umso lauter erklingt!« – In diesem Augenblick heulten wie in einer böswilligen Nachäffung seiner Worte die Milizsirenen auf: Der Abtransport der Demonstranten ging weiter. Ein Weißstorch flog durch den klaren Julihimmel. Heute war Mama nicht mehr in die Flagge gewickelt, das blutdurchtränkte Tuch lag über ihr wie ein Laken. Die Totengräber schlossen den Sarg und ließen ihn vorsichtig in die Grube hinab. In dem Moment fing Aba an zu weinen. Viel später erfuhr ich, woran sie damals gedacht hat: So wie eine schwangere Frau leichter wird, wenn sie niederkommt, so beginnt eine Mutter, die ihr Kind der Erde übergibt, weniger zu wiegen. Vielleicht gelang es ihr deshalb, ohne fremde Hilfe die gewundenen Pfade des Friedhofs nach unten zu gehen, dorthin, wo große orangefarbene Wagen mit der Aufschrift »Wasser« riesige Fontänen auf dem Schlachtfeld verspritzten. Ihre Beine, von der rheumatoiden Gelenkentzündung hässlich verbogen, schritten energischer als üblich. Sie hatten es eilig, zu mir zurückzukommen.

An jenem Tag passierte noch etwas. Ich bekam zum ersten Mal meine Regel. Doch wider Erwarten zierten statt eines majestätischen Stroms von Purpur und Karminrot zwei spärliche schmutzig braune Streifen meine Unterhose. Die Welt schien ein anderer Ort zu sein, als ich mir vorgestellt hatte.

Das Licht der Frauen

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