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Glasmalerei I

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Aus meiner Kindheit hatte ich keine Erinnerungen an Mikolaj, deshalb bezeichnet der Tag, an dem die Glasmalerei geputzt wurde, für mich unsere erste Begegnung. Es war an einem Herbsttag Ende der neunziger Jahre. Vorboten waren ungebetene Gäste in unserem Treppenhaus.

Sie kamen nachts, das neue Ziffernschloss an der Haustür hielt sie nicht ab. Offenbar kannten sie die Zahlenkombination. Sie tranken eine farblose Flüssigkeit aus Plastikflaschen, die sie auf der Treppe liegen ließen, und warfen bis zum Filter aufgerauchte Zigaretten weg. Manchmal konnte man hören, wie sie Lieder von Nirvana auf der Gitarre spielten. Sie pinkelten im Hof in die Ecken. Sie suchten das Weite, wenn Luba mit der Scheuerbürste einschritt. Immer mal wieder ging Luba zur Dienststelle auf der anderen Straßenseite, um sie bei den Milizionären anzuzeigen.

»Sie machen Dreck!«, rief sie. »Drogenabhängige! Asoziales Verhalten!«

Die Ordnungshüter in ihren zerknitterten blauen Hemden mit den schief angesetzten Schulterstücken standen während ihrer stundenlangen Zigarettenpausen unter unserem Balkon. Sie hatten die traurigen Gesichter von Hirten fernab der heimischen Karpaten, pflichteten Luba bei, spuckten auf den Boden und übersäten den Bürgersteig mit Kippen der gleichen Marke, die auch die nächtlichen Besucher rauchten. Sie hatten ihre Gründe, warum sie nicht eingriffen.

Nach jedem nächtlichen Besuch fehlten ein oder zwei Glasstücke aus dem Mosaik.

Barbaren, ärgerte ich mich. Stecken sich ein Kunstwerk in ihre löchrigen Taschen. Einfach so zum Spaß. Bald haben sie alles weggetragen, und was dann?

Eines Nachts ging Aba im Schlafrock zu ihnen.

»Ein Meisterwerk!« Ich hörte nur einzelne Worte. »Einzigartig! Hundert Jahre alt! Unersetzlich und für die Ewigkeit!«

Die jungen Leute nickten gleichgültig, so wie die Milizionäre, aber von da an verschwanden keine Glasstücke mehr – die Gesellschaft hatte sich woandershin verzogen. Doch nach wie vor ging von den Leerstellen der gestohlenen Teile ein Gefühl der Bedrohung aus.

Ein paar Monate später tauchten neue Gäste im Haus auf. Sie kamen tagsüber. Sie hatten Fotoapparate, machten Aufnahmen, maßen das Mosaik aus und zeichneten etwas auf einen Bristolkarton, der auf dem Fensterbrett ausgebreitet war. Ich fürchtete sie mehr als ihre Vorgänger. Sie sahen aus wie Wissenschaftler, und das verhieß nichts Gutes. Sie haben sich eine Genehmigung zum Abbau des Mosaiks bei der Stadt erschlichen, dachte ich entsetzt. Sie wollen es in irgendein Museum in Kiew bringen, es wird beim Transport kaputtgehen, und dann stürzt unser ganzes Haus ein, denn niemand kann eine Operation überleben, bei der ihm das Herz herausgeschnitten wird. Luba beobachtete die Neuankömmlinge nur halbherzig, denn sie machten keinen Dreck.

»Haben Sie eine Genehmigung für die Untersuchungen?«, konnte sich Aba einmal nicht beherrschen zu fragen.

Ihr antwortete ein großer Mann mittleren Alters, der wirkte, als sei er mit der Leitung betraut. Er sprach leise, ich konnte ihn kaum verstehen, obwohl ich mich mit meinem ganzen Gewicht gegen den Spion lehnte.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Wir dokumentieren die Glasmalerei im Auftrag des Lehrstuhls für Glas der Lemberger Akademie der Künste. Wir registrieren jeden Abschnitt. Wir wollen fertigwerden, bevor es zu spät ist.«

Zu spät? Wie konnte er so etwas sagen?

»Ich habe Sie nicht erkannt, guten Tag.« Abas Ton änderte sich plötzlich.

Ich sah ihn mir genauer an: groß, lange Haare. Warum hatte ich nicht solche Dozenten? Meine trugen zerknitterte Anzüge und erweckten den Eindruck, zufällig an der Hochschule gelandet zu sein. Dieser hier schien bereit, für jedes seiner Worte mit dem Leben einzustehen. Vielleicht hatte er das schon getan und es auf einem mir unbekannten Altar abgelegt.

Ich stand noch immer am Spion. Aba bot ihm an, auf einen Tee hineinzukommen, doch er lehnte ab.

Als er auf dem Weg nach oben an unserer Tür vorbeikam, sah ich mir seine Schuhe an. Unnatürlich lange Lederschuhe. Einst streckten sie ihre Fühler durch den halben Flur, wuchsen stundenlang auf der gestreiften Fußmatte, ängstigten mich mit ihrer unbestreitbaren Männlichkeit. Schuhe aus vergangenen Jahren.

Am nächsten Tag kam er in Turnschuhen, sportlich gekleidet, und holte Lappen und einen Eimer aus einer großen Tasche. Er klingelte an unserer Tür.

»Darf ich um etwas Wasser bitten?«

Ich führte ihn ins Badezimmer und wieder zurück, ließ die Wohnungstür angelehnt und beobachtete, wie der Schaum im Eimer aufstieg und er begann, das Mosaik zu putzen. Er hatte einen Stab, mit dem er auch die unzugänglichsten Partien erreichte. Ich weiß, dass Luba ihn dieses Mal durch den Spion beobachtete.

Ich stand auf der Türschwelle, als er die weißen und lila Wolken und die Berggipfel scheuerte. Ich setzte mich auf die Stufen, als die Seifenströme mit dem Blau des Sees zusammenflossen. Ich trat ans Fensterbrett, als sich herausstellte, dass die schrägen Dächer der auf dem Berghang verteilten Hütten einen hellgelben Ton hatten und keineswegs einen smaragden, wie ich immer gedacht hatte. Ich hielt den Eimer, als seine langen Finger den alten Schmutz zwischen den Wurzeln des braunen Baumes entfernten. Sie waren gleich groß, er und die gläserne Eiche, sie rangen miteinander wie zwei Kolosse, kämpften darum, wer wem mehr von dem Sonnenlicht nahm, das überraschend das ganze Treppenhaus durchflutete, und mir kam der Gedanke, dass in diesen Hauseingang eine kleine, aber wohlklingende Orgel passen würde. Die farblosen Gläser gegenüber von Lubas Tür reinigte ich selbst und versuchte zu verheimlichen, dass ich in meinem Leben noch kein einziges Fenster geputzt hatte.

»Was empfinden wohl die Leute, die Michelangelos Pietà abstauben?«, fragte ich ihn später, als er zu einer Tasse Tee hereingekommen war. Aba war nicht zu Hause, und Urgroßmutter hatte sich zurückgezogen.

»Ich war lange nicht mehr hier, nichts hat sich verändert«, sagte er zusammenhanglos.

Sein Haar, das ihm sanft auf die Schultern fiel, schimmerte grau. Im linken Ohr trug er einen winzigen Ring – eine unglaubliche Extravaganz für damalige Zeiten.

»Mir ist so, als hätte jemand die Windschutzscheibe des Autos gewaschen, mit dem ich fahre.«

»Und mir, als hätte jemand die Zeit zurückgedreht«, sagte er lächelnd, während er in Mamas Schallplattensammlung stöberte. »Die meisten dieser Platten habe ich vor langer Zeit selbst hierhergebracht.«

Bald darauf gingen wir ins Treppenhaus zurück, um die wiedergewonnenen Farben zu genießen.

»Ich habe überall gesucht, in Lemberg und im Ausland, aber dieses Mosaik ist einmalig. Man findet ab und zu kleinere Glasmalereifenster, aber keine elf Meter hohe Aussparung in der Fassade. Dieses Haus ist an die Malerei angepasst worden, nicht umgekehrt.«

Mich schauderte. Ich hatte schon immer etwas über das Mosaik erfahren wollen.

»Was die Farben angeht«, fuhr er fort, »habe ich zweiundsiebzig zählen können. Im Mittelalter verwendete man zehn. Das hier ist der reinste Impressionismus. Leider weiß niemand, wer es gestaltet hat.« Er hob die Stimme etwas, weil ich auf dem Treppenabsatz über ihm stand. »In den Krakauer Werkstätten der Żeleńskis, wo vor dem Krieg die meisten Lemberger Glasmalereien gefertigt wurden, weiß man nichts darüber.

Erde, Wasser, Himmel – das Bild entwickelt sich thematisch von unten nach oben. Der unterste Teil, die Unterwelt, fehlt – niemand weiß, was damit passiert ist. Dieses Mosaik ist eine Allegorie für den schwierigen Weg des Lebens. Es begleitet jeden, der die gewundene Treppe hinauf- oder hinuntersteigt.«

»Wo kann ich Ihre Vorlesungen hören?«, fragte ich, doch er antwortete nicht. Er nahm seinen Lappen und den Eimer und ging, ohne sich zu verabschieden. Ich kehrte in die Wohnung zurück und notierte alles, was er gesagt hatte.

Das Licht der Frauen

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