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Die Türen

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Jeden Abend verschloss Urgroßmutter die Wohnungstür nach ihrem eigenen, ausgeklügelten Ritual – als glaubte sie, sie könnte uns vor ungebetenen Gästen schützen, den gleichen, die ihr Haus im Jahr 1937 aufgesucht und ihren Mann mitgenommen hatten, für immer. Sie selbst kam nie auf diese Geschichte zu sprechen, Aba dagegen rief sie uns regelmäßig in Erinnerung:

»Abends klingelte es an der Tür. Papa sagte, das sei ein Irrtum, er komme gleich zurück, küsste mich zum Abschied und ging mit den Unbekannten weg. Ich habe ihn nie wiedergesehen.«

Das war in Leningrad gewesen, wo Aba und Urgroßmutter vor dem Krieg gelebt hatten. Kein Wunder, dass ich schon früh Angst vor unerwartetem Klingeln an der Tür hatte.

Urgroßmutter prüfte nun immer zuerst, ob die äußere, dunkel gestrichene Tür richtig geschlossen war, dann drehte sie den Schlüssel zweimal im Schloss, hängte die massive Metallkette ein und besiegelte dies mit der anderen, weißen Tür, die sie ebenfalls, aber mit einem anderen Schlüssel verschloss. Diese Konstruktion ließ sich von außen nicht öffnen, worüber Mama sich ärgerte, weil sie gern spät nach Hause kam und dann entweder das ganze Haus wecken oder zulassen musste, dass Urgroßmutter stundenlang aufblieb und auf ihre Rückkehr wartete.

Jede von uns hatte einen eigenen Satz Schlüssel: Der lange und dünne sang im Falsett und öffnete die dunkle Tür, der kurze mit der untypisch runden Endung seufzte im Bass und war für die Haustür unten, der moderne flache Schlüssel passte in den Briefkasten und war schlichtweg unfähig, einen Laut hervorzubringen. Den Schlüssel zur weißen Tür besaß nur Urgroßmutter, und niemand wusste, wo sie ihn tagsüber versteckte.

Diese Türen waren für mich eine furchtbare Qual. Zweifach verschlossen und verriegelt, verstärkten sie mein Gefühl der Unsicherheit noch. Als wäre ich in einer belagerten Festung, und wenn ich sie nur einfach abschlösse, würden die Samen der Gefahr gesät werden und wir dem Eindringen von Fremden ausgesetzt sein, in deren Macht es stand, unsere Welt zu vernichten.

Die äußere, dunkle Tür war leicht. Ich konnte sie schwungvoll zuknallen, um meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen – wenn ich sauer auf Aba war, weil sie mich zwang, mich wärmer anzuziehen, bevor ich das Haus verließ. Die dunkle Tür enthielt ein »Auge« – einen runden Spion aus gewöhnlichem Glas, der von innen mit einem Stück abgewetzter Pappe abgedeckt wurde. Auch darin witterte Urgroßmutter Gefahr: Erstens merkte der Mensch auf der anderen Seite, wenn der Pappvorhang angehoben wurde, dass er beobachtet wurde, und erfuhr so, dass jemand zu Hause war. Und zweitens hatte er die Möglichkeit, wie Urgroßmutter meinte, durch den Spion anzugreifen.

»Mach erst nur einen winzigen Spalt auf, um dich zu vergewissern, ob es ein Fremder ist oder einer von uns«, brachte sie mir bei. »Ein Fremder steckt einen Metallstab hindurch und sticht dir das Auge aus.«

Der Fremde war immer ein Mann.

Wenn jemand an unserer Gegensprechanlage klingelte, galt es, auf den Balkon zu laufen und nachzuschauen, wer da vor der Haustür stand, und wenn es ein Unbekannter war, zu rufen:

»Zum wem?!«

Das diente der Einschüchterung: Die Person unten wusste nicht, woher die Stimme kam, und suchte verwundert mit der Miene eines Blinden nach dem Fragesteller. Einen Stock höher zu sein verschaffte uns einen Vorteil, ermöglichte uns, die Attacke abzuwehren:

»So jemand wohnt hier nicht!«

Irrtümer kamen häufig vor und beunruhigten Aba und Urgroßmutter sehr. Angenommen, da kam ein Herr, der einen gewissen Pawel Iwanowitsch Pietrow suchte. Nichts Außergewöhnliches, aber man hörte sofort die Anspannung in ihren Stimmen. Lange überlegten sie, wer der Fremde sein und was das alles verheißen könnte – nichts Gutes, natürlich.

Wir wohnten im Stadtzentrum, und nicht selten begann jemand, mitten in der Nacht an unsere Tür zu klopfen. Die unerwartete Störung, wenn wir alle schon im Bett waren, donnerte wie die Engelstrompeten vor dem Jüngsten Gericht, trennte das weiche, häusliche Ebengerade von dem gewalttätigen Jetzt. Das konnten sie sein, und sie besaßen absolute Macht über die Menschen und durften alles: entführen, töten, foltern. Die Knechte der Finsternis waren zwangsläufig schwarz gekleidet.

Die nächtliche weiße Tür war trist und von Melancholie durchdrungen. Sie hing schwer in den Scharnieren, gab einen dumpfen Laut von sich, hatte keinen Spion, und der lange Schlüssel ließ sich nur mit Mühe im Schloss drehen. Wenn ich nachts aufstand und sah, dass die weiße Tür verschlossen war, erfassten mich Hoffnungslosigkeit und Klaustrophobie. Ihre einförmige Fläche ließ mich an das russische Wort глухомань denken, »Einöde«. Die weiße Tür enthielt das weite, grenzenlose Sibirien, die langen Etappen der Zwangsarbeit, endlose weiße Ebenen, das Klicken der Handschellen.

Wie schon gesagt, zwischen der dunklen und der hellen Tür war noch eine Kette. Tagsüber half sie beim Lüften unserer erbärmlichen fensterlosen Küche. Dank der Kette gab es einen Spalt, der Laute und Luft, nicht aber Menschen durchließ: die perfekte Illustration dieses Schwebezustands, der beunruhigenden Existenz hier und zugleich dort. Ich suchte nach Gelegenheiten, diese Ungewissheit zu beenden, öffnete zum Beispiel die Tür sperrangelweit, angeblich, um die Küche gründlich zu lüften, oder ich schloss sie, unter dem Vorwand, dass mir zu kalt sei. Welche Lust lag in diesem eigenmächtigen Öffnen oder Schließen der Tür, welche süße Illusion von Macht! Wenn ich sie öffnete, zeigte der im Flur hängende Spiegel die Glasmalerei im Treppenhaus, und die Küche begann, statt nach gekochten Mohrrüben nach Wald zu duften, während nach dem Schließen für einen Augenblick der kindliche Glaube zurückkehrte, im Haus wären wir sicher.

Urgroßmutter traute der Kette nicht. War sie zwischen Tür und Außenwelt gespannt, sagte sie, wir sollten horchen, ob da nicht jemand komme und sie mit einer Metallzange zerschneiden wolle.

Und tatsächlich waren bisweilen rasche Schritte auf der Treppe zu hören und jemand erschien auf der anderen Seite. Zwei wendige Finger glitten durch den Spalt und tasteten in allen Richtungen nach dem eingehängten Ende der Kette, einer reckte sich, um es zu fassen zu bekommen, während ich nur zusah, statt die Hand auszustrecken und von innen zu helfen. Und wenn dann das Gezerre begann und die Finger mit dem Metall kämpften, begann ich vor Aufregung auf der Stelle zu tanzen, bis es zur Auflösung kam: Die Finger lösten die Metallfessel, besiegt schlug die Kette ans Holz, die Tür öffnete sich weit und herein schritt eine Göttin – luftige, laute und lebhafte Mama.

Die Rituale beim Schließen der Türen wurden jahrelang unverändert vollführt, aber je heftiger es in allen Fugen der Sowjetunion krachte, desto mehr Herzblut legte Urgroßmutter hinein. Sie hat es nie laut gesagt, aber ich kann mir denken, dass sie keine Anhängerin des Sowjetsystems war, allerdings auch nicht mit denen sympathisierte, die es stürzen wollten. Höchstwahrscheinlich gehörte sie zu den Menschen, die das Gesicht des Systems, in dem sie zu leben haben, erst dann erkennen, wenn es in ihr eigenes Fenster blickt. Was sie im Jahre 1937 gesehen hatte, hat sie für immer geprägt. Je öfter also die Menschen in Lemberg auf die Straße gingen, je lauter sie Dinge aussprachen, die zuvor von Schweigen umhüllt waren, desto eifriger prüfte sie abends, ob unsere Wohnungstüren fest verschlossen waren.

Als Mama ungefähr ein Jahr vor ihrem Tod unerwartet vom Russischen zum Ukrainischen wechselte, wurde die Zeremonie des Abschließens um ein neues Element erweitert. Nach der Beendigung des gewöhnlichen Rituals lehnte Urgroßmutter einen Weidenkorb mit schmutziger Wäsche an die Tür, und vom nächsten Tag an tat sie das immer. Damals begann sie auch, immer häufiger von den Banderowzen zu sprechen, womit sie alle ukrainischen Freiheitskämpfer über einen Kamm scherte. Wenn wir allein waren, erzählte sie mir, dass der Waggon, in dem sie im Jahre 1944 nach Lemberg kam, von ihnen beschossen wurde und sie große Angst vor ihnen hatte – fast so große wie vor den Deutschen. Jetzt ging es ihr ähnlich: Wieder wollten sie in ihren Waggon, und wenn sie den Kopf aus dem Fenster steckte, sah sie, dass an ihrer Spitze niemand anders als ihre Enkelin stand – meine Mama. Das Mädchen, mit dem sie seit vielen Jahren kein Wort gesprochen hatte. Das Mädchen, das gegen ihren Willen Sängerin geworden war und sich ihren Vorstellungen vom Leben widersetzte, indem sie für eine unabhängige Ukraine kämpfte. Der Wäschekorb wurde ein weiteres Bollwerk der Barrikade, die sie seit Jahren zwischen sich errichteten.

Damals war es auch, dass Urgroßmutter sich angewöhnte, mich verbal einzuschüchtern. Sie fing mich im Flur ab und stellte sich mir in den Weg.

»Sprich niemals laut Russisch!«, belehrte sie mich. »Eh du dich versiehst, ziehen sie dich in einen leeren Hauseingang und massakrieren dich!«

Beim nächsten Mal fragte sie, ob ich Schewtschenkos Gedicht Zapowit auswendig könne.

»Sie fangen Frauen und Kinder, verschleppen sie an einen geheimen Ort und befehlen ihnen, es aufzusagen. Machst du nur einen Fehler, vergewaltigen und foltern sie dich.«

Ich hatte keine Angst: Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mir jemand auf der Straße Vorhaltungen wegen meiner Literaturkenntnisse machen würde, und ich glaubte nicht, dass Poesie und Gewalt etwas gemein haben könnten.

Am Abend des Tages, an dem Mamas Leiche in eine blau-gelbe Flagge gewickelt in unser Haus getragen wurde, vernachlässigte Urgroßmutter das Ritual der Sicherung der Wohnungstüren, sie wurden nicht einmal ordentlich geschlossen. Das war ein Zeichen ihrer Kapitulation: So sehr Urgroßmutter sich auch bemüht hatte, sie waren dennoch gekommen und hatten ihre Welt zerstört. Mama wurde im mittleren Zimmer auf den Tisch gelegt, an den Seiten wurden lange Kerzen angezündet. Das geschmolzene Wachs hinterließ helle Spuren auf dem Eichenparkett. Viel später erfuhr ich, dass Aba mehrere Entscheidungsträger bestechen musste, damit von einer Obduktion abgesehen und die Leiche nicht im Totenhaus zurückgehalten wurde. Es gelang ihr dank ihrer Beziehungen in medizinische Kreise, sie war eine gefragte Ärztin gewesen.

Dass der KGB nicht intervenierte, überraschte sie dennoch. Man hätte meinen können, jetzt würden sie dafür sorgen, den Tod, an dem sie schuld waren, zu leugnen, zu vertuschen, zu verwischen. Dieser Schuss war in jeder Hinsicht absurd gewesen: Nicht nur, dass er sein Ziel verfehlt hatte, er erklang für Lemberg auch wie ein Glockengeläut, das den Rest der Unentschlossenen auf die Straßen rief. Mama hätte sich nichts anderes gewünscht (anders Aba, ich oder Urgroßmutter). In den ersten Tagen nach dem Schuss sprachen alle von den Umständen ihres Todes: von der illegalen Demonstration auf der Klumba, dem Lemberger Hyde Park, bei der freie Wahlen gefordert wurden; von dem Scharfschützen auf dem Dach des nahegelegenen Wohnhauses, in dem sich vor dem Krieg das prachtvolle »Wiener Café« befunden hatte. Der Scharfschütze, so hieß es, sollte den Befehl bekommen haben, auf Tschornowil zu schießen, aber Marianna bewegte sich so energisch auf der Ladefläche des Lastwagens, dass sie den Dissidenten verdeckte. Man hatte eine Luftdruckwaffe benutzt, deshalb hörte niemand den Schuss. Erst beim Anblick des blutigen Flecks, der auf dem beigen Kleid der Sängerin erblühte, suchte ein Teil der Leute das Weite. Wjatscheslaw Maksimowitsch setzte die Versammlung fort. Er hatte den Tod akzeptiert. Nicht im Sinne einer inneren Gleichgültigkeit, aber er hatte in den Jahren im Lager einen unerschütterlichen Mut entwickelt. Ehemalige Mithäftlinge sprachen sogar von einem »pathologischen« Mut. In der Menge meldete sich ein Arzt. Tschornowil gab Marianna in seine Obhut und setzte die Versammlung fort. Man versuchte, ihn abzuschirmen, wollte ihn sogar mit Gewalt vom Lastwagen ziehen. Aber es fielen keine weiteren Schüsse – bis heute weiß niemand, warum. Jedenfalls bekam Tschornowil an jenem Tag von meiner Mama zusätzliche elf Lebensjahre geschenkt. Ich denke, er wird im Jahr 1999, als sein Auto auf der Strecke nach Borispol von einem Lkw erfasst wurde, daran gedacht haben.

Andere erinnerten sich auch, aber nicht lange. In den ersten Tagen redeten die Leute und schrien, sie riefen an und kamen zu uns. Das verschlimmerte die Situation für mich derart, dass ich in hilfloser Wut versteinerte. Auch nach vielen Jahren geriet ich erneut in diesen Zustand, wenn ich flüssiges Wachs auf den Boden tropfen sah. Entgegen der Tradition, die eine Bestattung drei Tage nach dem Tod vorsah, sollte die Beerdigung schon am nächsten Tag stattfinden. Und niemand – o Wunder – widersetzte sich, als Aba sich um einen Platz auf dem Lytschakiwski-Friedhof bemühte, der wichtigsten Begräbnisstätte Lembergs. Zwar waren Beerdigungen dort in den achtziger Jahren noch nicht verboten, aber schon damals benötigte man viele Sondergenehmigungen, die Aba blitzschnell beschaffte. Gewiss, die Demonstration, zu der sich die Beerdigung auswuchs, wurde brutal zerschlagen, gewiss, jemand von ihnen kam zum Direktor der Oper und bedrängte ihn mit Fragen über Marianna, gewiss, in den folgenden Monaten beseitigte immer wieder jemand die dicke Schicht Kunstblumen, die das Grab jeden Tag aufs Neue bedeckte. Aber über letzteres habe ich mich sogar gefreut. Die Plastiknarzissen gefielen mir nicht und schienen mich noch weiter von Mama zu entfernen. Später ließen sie auch das, und die Blumen blieben dauerhaft auf der Steinplatte liegen. Der Herbst breitete seine Laubdecke über sie.

Vom ersten Tag an wartete Aba auf die Vorladung, du weißt schon wohin. Sie sagte mir später, diesen Besuch habe sie sich Tausende Male ausgemalt. Der Gedanke begleitete sie seit ihrer frühen Kindheit: Als sie sieben war und in Leningrad wohnte, ermordeten sie ihren Vater; als sie fast sechzig war und in Lemberg wohnte, töteten sie ihre Tochter. Zwischen dem einen und dem anderen Ereignis hatte sie nie aufgehört, sie zu hassen und das auch mehr oder weniger offen zum Ausdruck zu bringen. Als sie im Jahre 1944 nach Lemberg kam, beschloss sie, eine Ein-Frau-Widerstandsbewegung zu werden. Sie fertigte Flugblätter an und verteilte sie persönlich in die Briefkästen. Darin hieß es, Stalin sei ein Verbrecher. Bis heute begreife ich nicht, warum sie nie dafür belangt wurde. Ich habe keine andere Erklärung als die besondere Fürsorge eines Schutzengels. Das graue Gebäude in der Dzierżyńskistraße besuchte sie nur ein einziges Mal, kurz nach Stalins Tod: Sie bombardierte sie mit offiziellen Anfragen nach dem Schicksal ihres Vaters. Doch auf dem Weg dorthin entfernte sie den Hass aus ihrem Gesicht und grundierte es neu, wie eine Leinwand. Sie malte einen neuen Ausdruck darauf – alles nur, um ihnen irgendeine Information zu entlocken. Dort empfing sie ein zynisch lächelnder Major. Er hielt die Akte ihres Vaters in der Hand – trotz ihrer Bitten ließ er sie nicht darin lesen. Geheimnisvoll erklärte er, ihr Vater sei »irgendwo im Norden« gestorben. Von jetzt an, so fügte er hinzu, sei sie nicht mehr als Tochter eines »Volksfeindes« gebrandmarkt – die Opfer des Stalinterrors wurden rehabilitiert. Nach wie vor kannte sie weder das Datum noch den Ort, an dem ihr Vater gestorben ist. Sie legten großen Wert darauf, dass die Menschen über Jahre im Schatten ihrer gleichsam halbtoten Angehörigen lebten.

Ganz anders war es bei Mama: Ihr Tod wurde in eine Leere gesogen, er versank in der Kluft zwischen den Epochen. Dieses Mal wurde Aba nirgendwo vorgeladen – sie hatten plötzlich andere Sorgen.

Nach jenem Schuss begann eine neue Zeitrechnung. Das ist schwer zu beschreiben, denn sie galoppierte wie wild und stand dennoch auf der Stelle, verschwand womöglich ganz. Im Rijksmuseum in Amsterdam gibt es eine seltsame Uhr: Hinter dem matten Glas des Zifferblatts kommt ein Menschlein hervor, das den Minutenzeiger wegwischt und ihn an einer neuen Stelle aufmalt, dann verschwindet und nach einer Minute erneut erscheint, um das Ritual zu wiederholen. Ich frage mich, wie diese Amsterdamer Uhr in den Tagen, die ich hier beschreibe, ausgesehen haben könnte, und ich glaube, das Menschlein konnte die neuen Zeiger zeichnen, ohne die alten wegzuwischen. Und sobald das Zifferblatt einer Sonne mit sechzig Strahlen ähnelte, hat es von seiner Arbeit abgelassen und war irgendwo in der Ecke eingenickt. Die Gegenwart war weich und warm geworden – die steinernen Träger, auf denen sie ruhte, schmolzen wie Wachs. Die Vergangenheit wurde neu geschrieben. Mit jedem Tag wurden neue Lügen entlarvt, auf die sich das alte System gestützt hatte. Die Zukunft, frisch und anders, schien zum Greifen nah – als wären wir auf einem Schiff, von dessen Deck man eine wunderbare Insel sehen konnte, so klar, dass man sogar die Farben der Blumen dort erkennen konnte. Auf dieser neuen Erde sollte alles von selbst gut werden! Wie auch sonst, wenn das Böse besiegt war, die Ketten zerrissen waren und das Gefängnistor offenstand? So trieben wir auf dem Gewässer zwischen den Felsen zweier Epochen, und selbst ich konnte mich der Begeisterung und Ekstase hingeben, denn ich sah diese neue Zukunft so, wie Mama es getan hätte, deren Hoffnungen sich sämtlich vor unseren Augen erfüllten. »Karneval« war draußen auf der Straße und zugleich auf dem Fernsehbildschirm: Die letzten sowjetischen Panzer verließen Afghanistan. Die Berliner Mauer fiel – Mstislaw Rostropowitsch spielte dazu auf dem Violoncello. Die Polen nahmen an den ersten freien Wahlen teil. Die Rumänen brachten ihren Diktator Ceauşescu um. Litauen erklärte seine Unabhängigkeit. Die russischen Städte legten ihre sowjetischen Namen ab.

Mitte Juli 1988 war auf Wjatscheslaw Tschornowil, ein Gegner des Systems, geschossen worden. Anfang September gründete er den Narodnyj Ruch, die Nationalbewegung und erste Alternative zu der einen und herrschenden Partei, und wurde im April 1990 als ihr Kandidat zum Vorsitzenden des Lemberger Bezirksrats gewählt. Er hatte seinen Amtssitz in dem Gebäude, in das er früher zu unangenehmen Gesprächen vorgeladen wurde, und wurde von Lehrerinnen und einer Schar Knirpse in bestickten Trachten mit Brot und Salz begrüßt.

Sie hatten natürlich auch Wind vom geänderten Zeitenrhythmus bekommen. Den Befehl, Tschornowil zu erschießen, musste irgendein wirklichkeitsfremder Altkommunist erteilt haben, geblendet von falschen Machtphantasien. Die anderen hatten Dringenderes zu tun. Sie verbrannten die Archive, bereiteten sich auf die Flucht oder den Farbwechsel vor und machten Pläne zur Privatisierung der Unternehmen. Niemand hielt die Fernsehteams auf, die das Echo vom Tod der Lemberger Sängerin erst nach Moskau und von dort in alle Winkel des Imperiums trugen. Sie wurde zur Hauptnachricht – für einen Tag. In der Oper tat man schon am nächsten Tag so, als hätte es sie nie gegeben. Nur wenige ihrer Kollegen kamen zur Beerdigung. Ihre Rollen wurden sofort neu verteilt, ihr Name vom Spielplan getilgt. Was hatte es schon zu bedeuten, dass die Menge ihren Namen auf den Straßen skandierte?

Ich begann zu rebellieren. Ich schrieb an Zeitschriften und an den Operndirektor. Ich spielte in der Schule Kassetten vor, auf denen Mamas Stimme noch lebendig war. Ich schnauzte den Geschichtslehrer an, einen Kommunisten, der sich spöttische Bemerkungen über ihren Tod erlaubt hatte. Ich trug ihre Kleider und ordnete ihre Papiere. In ihrem Zimmer richtete ich so etwas wie ein Museum ein mit ihren Lieblingssachen an den Stellen, wo sie gelegen hatten. Dieser Kampf gegen das Vergessen wurde zu meiner Obsession und half mir durch die ersten schrecklichen Jahre ohne sie. Doch auch das musste zwangsläufig enden – das Schiff segelte weiter.

Es kamen die neunziger Jahre: Hunger, Kälte und geplante Stromausfälle. Ich war älter geworden, und alles Ukrainische kam mir rückständig, hässlich und fremd vor. Ich habe in meiner Erinnerung jenen ohnehin lautlosen Schuss zum Verstummen gebracht, und auch all ihre Opernarien. Ich wusste nicht, wie ich der Frage entkommen sollte, ob Mama für die richtige Sache gestorben war. Ich zog in ihr Zimmer. Statt des Porträts von Salome Kruschelnytska hängte ich dort Freddie Mercury und Jesus Christus auf.

In den ersten Jahren nach dem Schuss vernachlässigte Urgroßmutter das rituelle Türabschließen. Wir legten uns ohne zusätzliche Sicherungen schlafen, und ich fand das in gewisser Weise erleichternd: Das Schlimmste war schon passiert, fürs Erste brauchte man keine Angst mehr zu haben. Doch irgendwann begann alles von Neuem: die dunkle Tür, die Kette, die helle Tür. Vielleicht tat sie das meinetwegen. Nur den Wäschekorb stellte sie nicht mehr dazu. Das morsche Weidengeflecht war schon so löchrig, dass man ihn nicht mehr hin- und herschieben konnte – er wäre sonst bestimmt auseinandergefallen.

Das Licht der Frauen

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