Читать книгу Das Licht der Frauen - Żanna Słoniowska - Страница 7

Das Haus

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Ihr Schaffellmantel ähnelte der Haut eines Tieres, ihre Haare waren tief unters Kopftuch geschoben. Sie hatte keinen Vor- und keinen Nachnamen, keine Adresse, aber von Zeit zu Zeit erschien sie in ihren Gummistiefeln in unserem schwach beleuchteten Flur und hinterließ nasse Flecken. Sie nahm den Beutel aus dreckigem Stoff von den Schultern und breitete ihn auf dem Tisch aus.

»Frisches Kalb, die Dame, nehmen Sie!«

Das Fleisch lag da: Die zerhackten Stücke waren mit weißem Fett übersät, als wären sie mit Schnee bestäubt, voll Fell und Blutspuren.

»Erst heute Morgen habe ich das Kalb geschlachtet, die Dame, nehmen Sie!«

Ich weiß noch, wie sehr es mich wunderte, dass Aba sie als »junge Frau« bezeichnete. Das konnte sie nicht ernst meinen. Sie war weder Mann noch Frau, weder jung noch alt, nicht Teil dieser Welt, in der man Straßenbahn fährt, Kuchen in der Konditorei kauft und kleine Hunde an der Leine führt.

»Ganz frisch, die Dame, ich mache Ihnen einen guten Preis!«

Ich schaute auf dieses Etwas im Laken, das heute früh noch ein lebendiges Tier gewesen war. Ich stellte mir vor, wie sie sich ihm mit gewetztem Beil nähert.

»Frisch, liebste Dame!«

Zack, zack – Blut fließt, die Beine des Kälbchens geben nach, sie schneidet es in Stücke, packt sie in ihren Beutel und eilt damit zur Vorortbahn. Niemand hält sie auf, prüft ihre Papiere, obwohl braune Flüssigkeit ihren Weg markiert.

Aba handelte hartnäckig:

»Gebt’s ein bisschen billiger, Frau!«

Sie legte die abgehauenen Stücke vom Laken auf die Küchenwaage, betrachtete sie ohne Ekel von allen Seiten.

Ich dachte an die Beinchen des getöteten Kalbes, das nie mehr laufen würde. Die Fremde trug dicke Wollstrümpfe – so etwas hatten in der Stadt nur Kinder an, ein weiterer Beweis, dass sie keine Frau sein konnte.

Über den Preis wurde man sich einig, die Teile des Tieres wurden für immer getrennt: ein paar kleine Stücke wanderten in unseren Kühlschrank, der Rest zurück in das Laken. Nun war es an der Zeit für Höflichkeiten.

»Mann? Kinder? Mutter? Schon gesät? Aufgegangen?«

»Gut! Gut! Gut!«, antwortete die Frau und seufzte schwer, als würde sie in Wahrheit sagen: »Schlecht! Schlecht! Schlecht!«

Niemals legte sie den Schafpelz ab, niemals betrat sie einen anderen Raum als den dunklen Flur.

Zack, zack mit der Axt, dachte ich, und auch wenn sie schon gegangen war, hörte ich noch ihre Stimme:

»Frisches Kalb, gut, erst heute früh erschlagen.«

Ein Bild in Urgroßmutters Zimmer: ein dunkles Gesicht, blutüberströmt.

»Böse Menschen haben ihn getötet, haben ihm die Hände mit spitzen Nägeln gespalten.«

Wann? Wie? Wofür? Weiß man nicht. Ich durfte Urgroßmutter nicht zuhören und das Bild auch nicht ansehen, denn es war böse. Die Alte mit dem Fleisch war nicht böse.

In Urgroßmutters Zimmer wurden fast nie die Vorhänge aufgezogen und auch nicht gelüftet. Das ungemachte Bett mit dem schmutzig gelben Laken, daneben stand ein großer emaillierter Nachttopf mit Deckel. Von früh bis spät lief Urgroßmutter im Schlafrock herum und verließ nur selten das Haus. Wie ein Weihnachtsbaum mit Girlanden war sie mit Lappen weißer runzliger Haut behängt, die sich gut anfühlten. Am Kopf war ihre Haut straff und rosig, bedeckt von dünner werdenden weißen Haaren, zu einer Pagenfrisur geschnitten. Ihre Augen, verzerrt durch dicke Brillengläser, ähnelten zwei Algenfressern, die sich an der Aquariumscheibe festgesogen haben.

Ich wollte dort Klavier spielen, aber zuerst musste ich mir etwas über den Gott auf dem Bild anhören: grünes Gesicht, lange Haare, ein Kranz aus Ästen auf dem Kopf.

»Es hat dem Jesuslein sehr, sehr wehgetan, als die bösen Menschen ihm die Hände durchbohrten. Das Blut spritzte in alle Richtungen. Und sie schlugen ihm weiter mit dem Hammer Nägel in die Hände.«

Urgroßmutter drängte mich sanft an die Wand, und ich starrte ihre zwei dunklen Zähne an, die einzigen, die ihr im Oberkiefer geblieben waren. Über Gott sprach sie immer auf Polnisch.

»Sie setzten ihm eine Krone aus spitzen Dornen auf, die ihn fürchterlich verletzten. Das Blut rann ihm in die Augen.«

»Es gibt keinen Gott. Gagarin war im All und hat das überprüft.«

»Er hat diejenigen bestraft, die es überprüfen wollten! Hat schreckliches Unheil über sie gebracht, Krankheiten, Behinderungen.«

Während sie das sagte, nahm sie den emaillierten Deckel vom Nachttopf, hob die Schöße ihres Baumwollschlafrocks und pinkelte im Stehen. Sie hatte kein Höschen an, ich sah den warmen, stinkenden Flaum, der sich zwischen ihren faltigen Beinen verbarg.

»Du möchtest gern spielen, mein Liebes?«

Ich legte die schwarz-weißen Zähne des Klaviers frei. Das Instrument war verstimmt, und ich konnte keine Noten lesen. Urgroßmutter nahm auf dem Bett Platz und setzte ein liebliches Gesicht auf, das jederzeit in Tränen der Rührung zerfließen konnte. Es kam vor, dass sie ein gewöhnliches Küchenmesser vom Tisch nahm und sich damit mit einem Ausdruck sinnlicher Lust den Rücken kratzte.

Mir war es verboten, Urgroßmutter zu besuchen, aber wenn Mama nicht zu Hause war, tat Aba so, als wüsste sie nicht, wo ich war.

Es war Aba, die das Porträt von Jesu mit der Dornenkrone gemalt hatte. Sie hatte sich das Blut und das grüne Haar ausgedacht, ebenso wie den halb geöffneten Mund, durch den man die Lücke zwischen seinen Vorderzähnen sehen konnte. Sie hatte auch viele andere Bilder gemalt, die in unserer Wohnung an den Wänden hingen.

»Wenn ich sterbe, tragt ihr sie alle in den Keller«, sagte sie, wenn sie schlecht gelaunt war. Und ich stellte mir den Tod als einen Keller voller Gemälde vor.

Aba sammelte auch Bildbände. In einem davon sah ich das Bildnis einer Frau in einem indigoblauen Kleid, eine ihrer Hände war fünfmal so groß wie die andere:

»Warum ist ihre Hand so groß?«

»So hat der Künstler sie gesehen. Künstler sehen die Welt anders als gewöhnliche Menschen.«

»Ich will auch Künstlerin werden!«

»Du wirst, wer du sein willst!«, rief Aba, und Zorn verdunkelte ihren Blick.

Sie wäre sehr gern Malerin geworden, aber Urgroßmutter hatte es nicht erlaubt. Das muss etwa so ausgesehen haben:

»Mama, ich habe mich bei der Akademie der Schönen Künste beworben, im Fachbereich Grafik.«

»Kommt nicht infrage.«

»Mama, ich habe mich schon beworben.«

»Dann gehst du hin und ziehst die Bewerbung zurück.«

»Mama, ich bin Malerin. Das ist meine Berufung.«

»Du hast kein Talent, du wirst in Armut leben.«

»Mama …«

»Schluss jetzt, meine Liebe. Vergiss nie, dass ich dir im Krieg den letzten Bissen Brot gegeben habe.«

Wie von Urgroßmutter vorgesehen, wurde Aba Ärztin. Bald darauf ereilte sie eine unheilbare Gelenkerkrankung. Jede Bewegung bereitete ihr solche Schmerzen, als würde sie von Tausenden spitzen Messern gestochen werden. Abas Hände waren überproportional groß und geschwollen wie die Hand der Frau aus dem Album, und dennoch machte sie alles mit ihnen: Gemüse und Fleisch schneiden, Wäsche waschen, den Fußboden schrubben. Ihr Gesicht war aus warmem und durchsichtigem Stoff gewebt, die Gesichtszüge entzogen sich jeglicher Beschreibung, und über ihrem Kopf leuchtete Tag und Nacht ein leicht in Mitleidenschaft gezogener Heiligenschein. An ihren Körper dagegen erinnere ich mich gut – schwer und klobig, grob gezimmert, wie alle sowjetischen Geräte, die immerzu kaputtgehen. Sie sprach immer Russisch, betonte aber häufig:

»Ich bin Polin mit Haut und Haar.«

Dabei traten ihr immer Tränen in die Augen, und so dachte ich lange, Polnisch zu sein sei so etwas wie eine unheilbare Krankheit, gegen die es keine Medikamente gab.

Ein anderer Pole war Tadeusz Kościuszko von dem Bild über ihrem Bett. Er und seine Gefährten trugen Sensen auf dem Rücken. Auch die eleganten Herren mit Hüten waren Polen, die sogar einer Halbwüchsigen wie Aba die Hand küssten, als sie 1944 nach Lemberg kam und sich endlich wie zu Hause, das heißt in Polen, fühlte. Doch in den folgenden Jahren verschwand Polen mit seinen schicken Männern aus Lemberg. Wohin? Irgendwohin weit weg, ins Ausland. Warum? Weiß man nicht. Aba blieb zurück, weil sie nicht mitgenommen wurde.

»Wenn ich weggegangen wäre, würde es weder deine Mutter noch dich geben«, tröstete sie sich. »Oder ihr wärt jemand völlig anderes.«

Als Mama erwachsen war, beschloss sie, Sängerin zu werden, doch das war auch nicht einfach. Es muss mehr oder weniger so ausgesehen haben:

»Großmutter, ich will mich am Konservatorium bewerben.«

»Kommt nicht infrage.«

»Großmutter, ich habe meine Bewerbung schon eingereicht.«

»Dann gehst du hin und ziehst sie zurück.«

»Großmutter, ich bin Sängerin. Das ist meine Berufung.«

»Du hast kein Talent, du wirst in Armut leben.«

»Großmutter …«

»Schluss jetzt, meine Liebe. Ich habe dir mein ganzes Leben geopfert, so dankst du es mir?«

»Ich werde Sängerin, auch wenn du dafür sterben musst.«

Als Antwort riss Urgroßmutter das Fenster auf und schrie mit schriller, lauter Stimme:

»Hilfe! Rettet mich! Ruft die Miliz! Mord und Totschlag!«

Aber niemand nahm ihre Schreie zur Kenntnis. Mama blieb stur, kam ans Konservatorium und redete nicht mehr mit Urgroßmutter.

Wenn ich mit Aba zur Premiere ins Theater ging, dachte ich bisweilen an Selbstmord. Jemand hatte mir erzählt, dass sich der Architekt Zygmunt Gorgolewski das Leben genommen habe, nachdem das nach seinen Entwürfen gebaute Große Theater wegzusacken und zusammenzubrechen drohte. War das womöglich die Strafe dafür, dass Gorgolewski die Peltew unter die Erde verlegt hatte, fragte ich mich, während wir die mit leuchtenden Nelken, den Symbolen der Oktoberrevolution, verzierte Allee entlanggingen? Genau hier war sie einst geflossen, aber er hatte sie in ein Korsett aus Steinplatten gezwängt. In den unterirdischen Fluss wurden die Abwässer geleitet, deshalb stank die Leiche der Peltew ständig. Wer schön sein will, muss leiden, sagte Aba, während sie mir Zöpfe flocht. War die Oper vielleicht so eine Schönheit, die Zygmunt Gorgolewski verschlungen hatte, nachdem er zuvor die Peltew vertilgt hatte?

Mama war auf der Bühne viel größer als im wahren Leben, und ehrlich gesagt, war sie nicht Mama. Ich schloss die Augen, um nicht zu sehen, wie unecht sie in ihrem Kostüm aussah. Ich faltete die Hände auf der Brust – ihre Stimme drohte mein Innerstes zu zerreißen. Zu Hause sang Mama keine Opernarien, sodass ich bei jeder Vorstellung aufs Neue diese andere Stimme in ihr wiederentdeckte. Sie durchdrang mich trotz des Schutzschildes meiner Finger, ließ mich an die Sirenen denken, die die Seeleute mit ihrem Gesang zu den steilen Klippen locken. Der Zuschauerraum war das Schiff und die Bühne die Insel der Sirenen. Ich segelte auf die im Orchestergraben verborgenen Felsen zu, das gewaltige Vibrato wurde schneller, und ich konnte ihm nicht widerstehen. Die Vorahnung einer drohenden Katastrophe schmeckte süß wie die rosa Barbaris-Fruchtbonbons, die ich heimlich lutschte und deren scharfe Ränder mir in Zunge und Gaumen schnitten. Wenn das Schiff kurz vor dem Untergang war, hielt ich mir mit einer raschen, diskreten Bewegung die Ohren zu, öffnete dann die Augen und musterte das seidige Bordeauxrot der Sessellehnen.

Nach der Vorstellung drehte Mama sich in der Garderobe auf ihrem Stuhl um, wusch die Schminke ab und setzte mir das Diadem der Aida oder die Perücke der Carmen auf. Auch jenseits der Bühne hatte sie eine volle Stimme. Ihr kurzes, helles lockiges Haar schien sie nach oben zu ziehen, statt nach unten zu fallen, sodass ich dachte, sie besitze die Gabe, über der Erde zu schweben. Wenn ich sie nicht sehe, stellte ich mir vor, wohnt sie bestimmt in einem Palast aus Wolken und Eis, so wie die Schneekönigin.

»Habe ich heute gut gesungen?«, fragte sie.

Statt zu antworten gab ich mich jünger, als ich war: Ich senkte den Blick, knabberte an meiner Bluse. Dann ließ sie angewidert von mir ab und fragte Aba.

»Großartig, Marianna«, bekam sie zur Antwort. »Ausgezeichnet. Wunderbar.«

Ich hätte auch gern aufrecht dastehen und würdevoll sagen mögen:

»Großartig. Ausgezeichnet. Wunderbar.«

Doch das war unmöglich. Schon vor längerer Zeit war entdeckt worden, dass ich kein Gehör für Musik hatte – absolut gar keins, ohne Aussicht auf Besserung. Aus diesem Grund wurde das Klavier in Urgroßmutters Zimmer getragen, wo ich keinen Zutritt hatte. Ich musste mit meinem Geklimper in den Untergrund gehen, wie die Peltew. Ich war der Oper nicht würdig, der Premieren nicht und Mama nicht. Ich wollte nach Hause.

Die Topografie unserer Wohnung stand ein für alle Mal fest: So wie Meere, Berge und Wüsten ihre Position auf der Landkarte nicht verändern, so war bei uns die Verteilung der Möbel, Geräte und Einrichtungsgegenstände unveränderlich. Diese Beständigkeit der Dinge war vermutlich die Antwort auf die Instabilität der menschlichen Schicksale. Der Mann meiner Urgroßmutter, mein Urgroßvater, wurde 1937 in Leningrad bei der »polnischen Säuberung« verhaftet und ist danach spurlos verschwunden. Der Mann meiner Großmutter, also mein Großvater, hat als Offizier der Roten Armee den Krieg überlebt und ist bis nach Berlin gekommen, um dann Mitte der sechziger Jahre an etwas zu sterben, was wir heute als chronische Depression und Leberzirrhose bezeichnen würden. Was meinen Vater betrifft, so hatte ich Zweifel, ob es ihn überhaupt gegeben hatte.

Ich war die Frucht einer kurzen, poetischen Romanze im Sommer 1977. Am 1. Juni lernten meine Eltern – Mama war im letzten Jahr ihres Gesangsstudiums, mein Vater war ein junger Architekt aus Moskau – sich auf einer Party kennen und trugen sich anschließend den ganzen Monat, Nacht für Nacht, russische Gedichte aus dem Silbernen Zeitalter vor, die sie auswendig kannten. Mama kannte sich am besten mit Zwetajewa aus, mein Vater zog Blok entschieden vor. Die Legende besagt, dass sie keine Nacht ausließen. Ich weiß nicht, ob sie tagsüber neue Gedichte auswendig lernen mussten oder ob ihr bisheriger poetischer Vorrat ausreichend groß war. Man muss schon eine Menge Gedichte auswendig können, damit es für dreißig Nächte reicht. Ich weiß nicht, ob Zwetajewa und Blok überhaupt so viele geschrieben haben. In dem Sommer damals machten Aba und Urgroßmutter Urlaub am Schwarzen Meer, sodass der poetische Marathon, dem ich mein Leben verdanke, in unserer Wohnung stattfinden konnte.

Das letzte Mal haben meine Eltern sich am 30. Juni auf einem Bahnsteig am Hauptbahnhof getroffen. Der Zug von Lemberg nach Moskau bebte von den Schlägen des Bahnmitarbeiters, der den Zustand der Waggons überprüfte, die befruchtete Eizelle vibrierte in meiner Mutter, mein Vater zitterte. Ihre Abschiedsworte waren von Majakowski:

»Hört mal! Wenn die Sterne entzündet werden – heißt das, jemand braucht sie des Nachts?«, fragte Mama.

»Es heißt: Für jemanden glitzert diese Spucke gleich Perlen«, rief mein Vater zurück, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Danach haben sie sich nie wieder gesehen.

Bemerkbar habe ich mich das erste Mal gemacht, als Mama einen Tag vor ihrem Examen ihre weiße Nylonbluse bügelte und sich die Welt vor ihren Augen drehte. Die gemeine Toxikose hielt man anfangs irrtümlicherweise für eine gewöhnliche Lebensmittelvergiftung und glaubte später noch lange, es handele sich um ein Symptom einer anderen chronischen Krankheit.

Es wäre kein Problem gewesen, mich abzutreiben, doch Mama schaltete auf stur. Alle Argumente von einem verfehlten Start ins Leben blieben ungehört. Sie sagte auch meinem Vater nichts. Wie sie später erklärte, wollte sie in ihrer beider Poesie keine Prosa. Und alle Entscheidungen, die meine Mutter je getroffen hatte, waren unverrückbar wie ein Fels.

Als dann der Schnee taute und die alten Frauen auf die Straßen gingen, um die Krokusse zu verkaufen, über die sie schützend ihre Hände hielten, wurde ich nach Hause gebracht. Der Überlieferung nach war es der erste richtige Frühlingstag, eine Sintflut von Wärme und Licht. Als wäre die Sonne zur Überprüfung in die Wohnung eingefallen, um jeden auch noch so unscheinbaren Fleck auf den Fensterscheiben zu durchleuchten. Aber zu meiner Ankunft waren die Fenster perfekt geputzt. Im Gegensatz zu der Glasmalerei in unserem Treppenhaus – sie musste viele Jahre warten, bis jemand mit einem Lappen kam und sie gründlich säuberte.

Erst viel später erfuhr ich, dass nicht in jedem Wohnhaus eine Glasmalerei verborgen ist, und wenn eine da ist, dann eine viel kleinere. Unsere nahm das ganze Treppenhaus ein. Wie ein Vorhang trennte sie das Innere des Hauses vom Hof, zog sich durch alle Stockwerke von oben nach unten – oder umgekehrt. Wir wohnten im ersten Stock und brauchten nur die Tür zu öffnen, um ihren Mittelteil zu sehen: Reste einer feurig-braunen Unterwelt, aus der ein langer, einsamer Baumstamm herauswuchs, der einen türkisblauen See in der Mitte durchschnitt. Die Nachbarn über uns sahen das gegenüberliegende Ufer, an dem grüne Berge mit blauen Tannen aufragten. Wenn jemand auf den Dachboden stieg, sah er sie in das Weiß und Lila der Wolken übergehen. Die Nachbarin von unten, die verrückte Luba, sah gar nichts – der unterste Teil der Glasmalerei war vor langer Zeit verlorengegangen. An seine Stelle hatte man durchsichtige Scheiben eingesetzt, die die Enge unseres Innenhofs bloßlegten. Aus dieser Perspektive sahen die Hausmeisterin und ihre zahlreichen Kinder das Mosaik. Jeden Morgen zeigte sich eines von ihnen mit einem großen zu entleerenden Eimer am Abwassergitter und hob den Blick zur Unterseite des Mosaiks. Es war grau und ausgebaucht.

»Sie haben keinen Komfort zu Hause«, sagte Aba in einem Ton, der mehr verurteilend als mitfühlend war.

Das Licht der Frauen

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