Читать книгу Liebe, Eis und Schnee - Annabelle Costa - Страница 6

Kapitel 1

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Wir sind seit etwa zwei Stunden unterwegs, und ich würde Chase am liebsten sagen, dass dieser Ausflug ein furchtbarer Fehler ist und wir nach Hause fahren sollten.

Fast hätte ich es sogar gesagt.

Die Worte liegen mir auf der Zunge. Sie vermischen sich mit den Liedtexten von Billy Joels Album »Greatest Hits Volume III«, das Chase angemacht hat, als der Empfang von Radio Pandora vor einer halben Stunde immer schlechter wurde. We didn’t start the fire. Das Feuer, also dieser Ausflug, war nicht meine Idee, und ich will das Wochenende nicht in einer Hütte in Vermont verbringen.

Aber ich bekomme meinen eigenen Text nicht über die Lippen. Und mit jeder weiteren Sekunde, die verstreicht, schwinden meine Chancen mehr und mehr, aus dieser Nummer rauszukommen. Wann ist es noch in Ordnung, zu sagen: »Vergiss es, lass uns umkehren und nach Hause fahren«? Nach zwei Stunden Fahrt läuft das wohl schon unter unangebracht, aber nach drei Stunden ist die Grenze definitiv überschritten. Wenn wir erst mal drei Stunden in diese Sache investiert haben, sitze ich fest.

»Ich liebe diesen Song«, sagt Chase, während er die Lautstärke für »And So It Goes« hochdreht.

Chase ist der einzige Mann, den ich kenne, der Billy Joel mag. Es gibt da draußen sicher noch mehr männliche Billy-Joel-Fans, aber Chase ist der erste, der mir persönlich über den Weg gelaufen ist. Er ist auch der einzige Kerl in meinem Umfeld, der den Liedtext von »Uptown Girl« mitschmettern kann, ohne jegliche Ironie und ohne sich hinterher dafür zu schämen.

Noch skurriler ist es, wenn er laut zu Billy Joel mitsingt, während er mit 140 Sachen in seinem roten Porsche die Straße entlangbrettert. Billy Joel ist einfach keine Musik für schnelle Sportwagen.

»Können wir was anderes hören?«, frage ich.

»Was denn?«

»Irgendwas anderes als Billy Joel.«

Chase schnappt nach Luft. Zuerst glaube ich, dass es sarkastisch gemeint ist, aber da habe ich mich wohl geirrt. »Natalie, Billy Joel ist der beste Sänger aller Zeiten! Nein, wir können nichts anderes hören.«

»Billy Joel ist der beste Sänger aller Zeiten?« Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht stimmt.

Er tritt noch ein bisschen mehr aufs Gas, obwohl wir bereits mit Lichtgeschwindigkeit fahren und ich in der Schule gelernt habe, dass nichts schneller als Lichtgeschwindigkeit sein kann. »Billy Joel war der unangefochtene Superstar der Achtziger.«

»Und was ist mit Michael Jackson?«

»Michael Jackson!«, platzt es aus Chase heraus. »Du machst wohl Witze!«

Ich habe keine Ahnung, was er hat. Bis eben wusste ich nicht mal, dass man Zweifel daran hegen kann, dass Michael Jackson der Superstar der Achtziger war.

»Die beiden kann man nicht mal ansatzweise miteinander vergleichen«, sage ich. »Michael Jackson ist wie … ein Filet mignon an cremigem Kartoffelbrei und gedünstetem Spargel. Und Billy Joel ist wie … mit Käse gefüllte Jalapeños.«

Ich vergleiche alles mit Essen. Eine Angewohnheit, die ich mir auf der Kochschule zugelegt habe.

»Mit Käse gefüllte Jalapeños!« Chase sieht ernsthaft schockiert aus. »Natalie, ich werde jetzt einfach so tun, als hätte ich das nicht gehört.«

Warum ist er so sauer? Ich liebe mit Käse gefüllte Jalapeños. Allerdings sind sie kein Filet mignon.

Egal. Diesen Streit kann ich wohl ohnehin nicht gewinnen. Chase ist Billy Joel treu ergeben bis in den Tod, und ich bewundere das. Ich mag alle naselang eine andere Band, aber Chase ist seit der Grundschule eingefleischter Billy-Joel-Fan und konnte schon damals den Text von »We Didn’t Start the Fire« auswendig. Er ist schon auf sage und schreibe 23 Billy-Joel-Konzerten gewesen, da kann ich nicht mithalten. Ich habe ganze zwei Katy-Perry-Auftritte gesehen, und einer davon war im Fernsehen.

Ich gähne, während ich mich in meinem Sitz zurücklehne und das Profil meines Freundes studiere. Von all den Männern, die ich bislang gedatet habe – und das waren nicht gerade wenige –, sieht Chase Hollister zweifellos am besten aus. Er hat blonde Haare, die bei Tageslicht golden schimmern, und grün-braune Augen, von denen man sich nicht losreißen kann. Seine symmetrischen, wie gemeißelt wirkenden Gesichtszüge, eine römische Nase und ein Kinngrübchen tragen ihr Übriges zu seiner Attraktivität bei. Kinngrübchen sind eine heikle Angelegenheit – wenn das Grübchen zu groß ist, sieht der Kerl damit schnell wie ein aufgeblasener Wichtigtuer aus –, aber Chase’ Kinngrübchen ist absolut perfekt. Und er bezahlt einen Personal Trainer, der für einen durchtrainierten Körper sorgt. Ich sehe auch nicht schlecht aus, aber Chase ist da auf einem anderen Level. Als er mich bei unserem ersten Treffen angelächelt hat, war ich sofort verknallt. Ich konnte gar nicht anders.

Er sieht so gut aus, dass man eigentlich ein völlig neues Wort erfinden müsste, um auszudrücken, wie wahnsinnig und unfassbar attraktiv er ist. Wahntraktiv? Unfasstraktiv? Keine Ahnung.

Es ist mir peinlich, aber manchmal starre ich ihn einfach an und bin von seinem Aussehen wie hypnotisiert. So, wie ich mich auch an einem schön angerichteten Teller nicht sattsehen kann.

Chase ist der Fünfzig-Dollar-Hummerhauptgang oder das Steak im teuersten Restaurant der Stadt. Doch wenn man dann reinbeißt, fragt man sich, was der ganze Wirbel eigentlich soll und ob das Essen vom Diner die Straße runter vielleicht genauso gut schmeckt. Oder sogar noch besser.

Zu seiner Verteidigung muss ich allerdings vorbringen, dass Chase nur Augen für mich hat. Wenn wir zusammen ausgehen, flirten ständig fremde Frauen mit ihm, aber er steigt nie darauf ein. Er ist Mitte dreißig und redet oft von seinem Wunsch nach einer eigenen Familie. Kleiner Wink mit dem Zaunpfahl, Natalie.

»Können wir am nächsten Rastplatz anhalten?«, frage ich.

Chase legt zwar eine Hand auf die Gangschaltung, aber das Auto scheint nicht langsamer zu werden. Keine Ahnung, wie eine Gangschaltung funktioniert oder welche Vorteile sie hat, außer dass sie cool aussieht und Frauen beeindruckt. Ich bin noch nie mit Gangschaltung gefahren und kann schon von Glück reden, dass ich mit einem Automatikgetriebe halbwegs zurechtkomme. Ich habe Chase irgendwann mal gefragt, warum er sich ein Auto mit Schaltgetriebe ausgesucht hat, doch er hat mich nur angeschaut, als hätte ich etwas unfassbar Blödes von mir gegeben.

»Chase?«, sage ich noch einmal, für den Fall, dass er mich über Billy Joels Geschmachte hinweg nicht gehört hat. »Rastplatz? Por favor?«

Der Blick hinter seiner Ray-Ban-Brille bleibt stur auf die Straße gerichtet. »Warum willst du unbedingt zu einem Rastplatz?«

»Weil ich auf die Toilette muss.«

Er stößt einen langen, übertriebenen Seufzer aus. »Warum musst du so oft zur Toilette?«

Gutes Aussehen und Treue mögen zu seinen Tugenden gehören, Geduld eher nicht. »So ist das halt, wenn man regelmäßig was trinkt.«

Genau das ist das Problem daran – dreieinhalbstündige Autofahrten fördern gerne mal zutage, was in einer Beziehung schiefläuft. An Chase Hollister gibt es vieles, was ich mag, aber wenn er von Heirat und unserer Zukunft spricht, bekomme ich ein flaues Gefühl im Magen. Ich glaube nicht, dass er der Mann ist, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen will. Da bin ich mir sogar ziemlich sicher. Ich meine, der Kerl lässt mich doch noch nicht mal aufs Klo gehen.

Als wir dann an einem Schild vorbeifahren, das einen Rastplatz mit einem McDonald’s und einem KFC anzeigt, ramme ich Chase den Ellbogen in die Rippen – nur für den Fall, dass er wirklich nicht anhalten will. Das Auto wird minimal langsamer, als Chase sich sichtlich widerwillig auf der rechten Spur einordnet und die Ausfahrt nimmt. Er parkt vor dem KFC, und noch bevor ich die Autotür öffne, weht mir der verführerische Duft von frittiertem Hühnchen um die Nase.

»Hey«, sage ich. »Wollen wir Huhn fürs Abendessen mitnehmen?«

»Bei KFC?« Mein Freund verzieht das Gesicht, als ob ich gerade vorgeschlagen hätte, dass wir Käfermist zum Abendessen verspeisen. Oder irgendeinen anderen Mist. »Ganz bestimmt nicht, Natalie. Außerdem wurde in der Hütte schon alles für uns vorbereitet.«

Das überrascht mich nicht. Fast Food ist bei Chase nicht drin. Ich finde nichts dabei, wenn ich ab und zu einen Big Mac verdrücke, aber er würde so was nicht mal mit einer Kneifzange anfassen. Sein Personal Trainer würde ihn umbringen – der Kerl ist streng!

»Ach, komm schon.« So schnell gebe ich nicht auf. »Ich hatte bestimmt seit einem Jahr kein KFC mehr. Wahrscheinlich sogar noch länger.«

Chase wirkt immer noch angewidert. »Du weißt schon, dass es ein Gerichtsverfahren gab, wegen dem KFC den Namen ›Kentucky Fried Chicken‹ aufgeben musste, weil die Vögel, die sie verarbeitet haben, nicht als Hühner durchgingen.«

»Klingt für mich nicht besonders glaubhaft.«

»Nein, ich hab’s gelesen.«

Ich verdrehe die Augen. »Glaubst du wirklich, dass das Hühnchenfleisch bei KFC von irgendwelchen mutierten Superhühnern stammt?«

»Ja, glaube ich.«

Billy Joel war nicht beliebter als Michael Jackson, und KFC frittiert keine mutierten Hühnchen. Ich bin versucht, mein Handy rauszuholen und Chase zu beweisen, dass er unrecht hat, aber meine Blase drückt. Also flitze ich zu KFC rein, während er auf seinem Smartphone im Internet surft oder sich Pornos anschaut, oder was auch immer er macht, wenn ich nicht da bin.

Zum Glück ist die Toilette frei, sodass ich nicht warten muss. Und das gelangweilt aussehende Mädchen an der Kasse interessiert es nicht, dass ich aufs Klo gehe, ohne etwas zu kaufen. Ich bezweifle, dass sie sich für irgendwas interessiert, außer vielleicht das entzündete Piercing in ihrer rechten Augenbraue.

Im Waschraum nutze ich die Gelegenheit und rufe meinen älteren Bruder Drew an. Viele meiner Freunde und Bekannten kommen mit ihren Geschwistern nicht besonders gut aus, aber Drew ist mein bester Freund. Ich bin eher das langweilige und verantwortungsvolle Geschwisterkind, während er der lustige Typ ist, den jeder mag. Man könnte meinen, dass ich ihm das übel nehme, aber ich kann’s nicht, denn er ist der lustige Typ, den jeder mag. Wenn Drew ein Gericht wäre, dann wäre er ein in Bierteig ausgebackener Kabeljau mit Kartoffelspalten. Ohne Gemüse.

Da ich nicht weiß, ob der Empfang in der Hütte auch nur halbwegs vernünftig ist, muss ich mit meinem Bruder reden, solange ich noch kann.

»Na, wie ist die Hütte?«, fragt mich Drew, bevor ich auch nur Hallo sagen kann. »Ist sie annehmbar?«

»Wir sind noch nicht da.« Ich betrachte mich im Spiegel der Damentoilette und spitze die Lippen ein wenig. Vor Kurzem habe ich einen neuen Monica-Lippenstift von Dolce und Gabbana entdeckt, mit dem die Lippen angeblich »voller« aussehen sollen. Ich habe mich extra für den Farbton »Pretty Kiss« entschieden und somit keine Kosten und Mühen gescheut, damit meine Lippen zum Küssen verführen. Ich hoffe, Chase weiß das zu schätzen. »Es dauert noch mindestens eine Stunde.«

»Wo bist du gerade?«

»In der Toilette eines KFC.«

»KFC!« Drew klingt genauso aufgeregt, wie ich mich beim Anblick des Restaurant-Schilds gefühlt habe. Unsere Eltern haben uns als Kinder nicht viel Fast Food essen lassen. »Du holst dir einen Bucket, oder?«

»Nein. Chase ist der festen Überzeugung, dass KFC Mutantenhühner verarbeitet und wir hier deshalb nichts essen können.«

Drew lacht schallend. »Warum nur überrascht es mich nicht, dass Armani KFC nicht mag?«

Als Drew Chase zum ersten Mal getroffen hat, hat er ihn »Armani« getauft, weil … nun ja, weil Chase echt viel von Armani trägt. Chase hingegen war der Meinung, dass Drew ein Säufer und Playboy ist. In den ersten paar Monaten konnten sich die beiden auf den Tod nicht ausstehen. Doch im Lauf der Zeit sind sie miteinander warm geworden, und inzwischen schauen sie sich sogar manchmal ein Footballspiel zusammen an.

»Und tust du auch brav, was dein zukünftiger Ehemann will?«, fragt Drew.

Mein Bruder behauptet steif und fest, dass ich Chase heiraten werde. Er mochte keinen meiner früheren Freunde, aber Chase hat er inzwischen notgedrungen akzeptiert. Oh, und meine Eltern lieben Chase. Ihrer Meinung nach ist er der erste anständige Kerl in meiner Beziehungshistorie.

Es stimmt schon, dass Chase und ich theoretisch das perfekte Paar abgeben. Das liegt vor allem an ihm, denn er sieht immer perfekt aus. Aber darüber hinaus ist er auch noch steinreich. Das Unternehmen seiner Familie … Nun, ich will keine Namen nennen, aber ich wäre überrascht, wenn nicht in so ziemlich jedem Haushalt mindestens eins ihrer Produkte stehen würde. Die Firma hat ihren Sitz in Virginia, wo Chase auch aufgewachsen ist, ist aber weit über die Grenzen hinaus bekannt.

Allerdings ist seine Familie nicht so steinreich wie meine. Nur die wenigsten sind das.

Das, hat mir meine Mutter schon vor Jahren eingetrichtert, macht dich zur Zielscheibe, Natalie. Egal, mit welchem Jungen oder Mann ich ausgegangen bin, ich hatte immer dieselbe Frage im Hinterkopf: Mag er mich, oder hat er es auf mein Geld abgesehen? In der Regel hatten sie es auf mein Geld abgesehen. Zumindest wenn man meine Eltern fragt. Das allein wäre schon verletzend genug, aber das Schlimmste ist, dass sie damit auch noch meistens recht hatten.

Chase scheint es jedoch um mich als Mensch zu gehen, da er selbst mehr als genug Geld hat. Meine Familie ist fest davon überzeugt, dass er mir bald einen Antrag machen wird, und ich weiß genau, was ich ihrer Meinung nach antworten sollte. Das Problem an der Sache ist nur, dass ich mir nicht sicher bin, ob Chase mir die Frage aller Fragen stellen würde, weil er mich wirklich liebt. Er sagt immer, dass wir gut zueinanderpassen. In letzter Zeit frage ich mich aber, ob sein Vater ihn wohl zu einer Heirat mit mir drängt, weil die gut für die Geschäftsbeziehungen wäre.

Ich will keinen Mann heiraten, nur weil wir theoretisch gut zusammenpassen. Und auch nicht, weil das gut für das Familienunternehmen ist. Mag sein, dass ich da altmodisch bin, aber ich will aus Liebe heiraten.

Wenn ich nur wüsste, ob Chase mich wirklich liebt.

»Wenn Chase nicht will, dass ich was von KFC mitnehme, dann lasse ich es eben. Ganz egal, wie viel Lust ich drauf hab.«

»Weißt du, was echt lustig ist? Du bist eine renommierte Spitzenköchin, aber ich höre dir an, wie gerne du dich bei KFC vollfressen würdest.«

»Nur weil ich eine gute Köchin bin, muss ich kein kulinarischer Snob sein.«

Ich liebe Essen. Essen in jeglicher Form, von Fast Food bis hin zu Gourmet-Speisen. Meine Eltern wollten, dass ich Wirtschaft studiere, aber ich habe lieber eine Kochausbildung gemacht und damit alle vor den Kopf gestoßen. Und anschließend habe ich ein Catering-Unternehmen aufgebaut, das mittlerweile sehr erfolgreich ist. Manchmal kann ich gar nicht glauben, dass ich mit dem, was ich so sehr liebe, Geld verdiene. Aber verrückterweise habe ich trotz meiner kulinarischen Arbeit auf höchstem Niveau immer noch die gleichen Vorlieben wie als Kind.

Was ich damit sagen will? Ich liebe KFC. Und auch wenn ich köstliche selbst gemachte Makkaroni mit drei verschiedenen Käsesorten und leckerem Topping zubereiten kann, ist Mac and Cheese aus der Tüte immer noch ein Seelentröster für mich.

Es bedeutet auch, dass ich Sport treiben muss, damit ich weiterhin durch Türen passe – Chase dagegen trainiert, um seinen perfekt bemuskelten Körper in diesem Zustand zu erhalten. Ich bin von Natur aus unsportlich, aber es lohnt sich, jeden Tag acht Kilometer zu joggen, wenn ich dafür essen darf, was ich will.

»Ehrlich, Drew, ich hab irgendwie keine Lust auf diesen Trip. Vielleicht sollten wir einfach wieder nach Hause fahren.«

Er lacht. »Warum überrascht mich das nicht? Ich hab dir ja gleich gesagt, dass du in einer Hütte ohne Internet keine zwei Minuten durchhältst.«

Stirnrunzelnd betrachte ich mein Spiegelbild. Die Mascara um meine hellbraunen Augen ist etwas verklumpt – das sollte ich in Ordnung bringen, bevor ich wieder rausgehe. Meine blonden Haare sehen ganz gut aus – die Keratinbehandlung letzten Monat hat Wunder gewirkt. »Könnte ich schon. Ich will nur nicht.«

»Hey, erinnerst du dich an deinen Vorsatz fürs neue Jahr?«

In knapp einem Monat werde ich dreißig. Am ersten Januar habe ich den Vorsatz gefasst, vor meinem Geburtstag dreißig Dinge auszuprobieren, die ich noch nie zuvor getan habe. Bis zum siebten Januar habe ich beschlossen, dass zehn neue Dinge wahrscheinlich auch genug sind. Jetzt ist Mitte Februar, und ich wäre schon froh, wenn ich es schaffe, wenigstens eine neue Sache bis zu meinem Geburtstag auf die Reihe zu bekommen. Sieht so aus, als ob dieser Ausflug meine letzte Chance ist. Vor zwei Wochen hätte ich fast eine Durianfrucht gegessen. Der Straßenverkäufer beteuerte zwar, dass sie köstlich schmeckt, aber ich konnte den Geruch nach Kanalisation einfach nicht ausblenden.

Hier bin ich also und versuche zumindest eine neue Sache auszuprobieren, bevor ich dreißig werde.

Vielleicht sollte ich der Durianfrucht doch noch eine Chance geben.

»Genieß dein romantisches Wochenende mit Armani«, sagt Drew. »Er hat sicher was total Übertriebenes geplant.«

Wahrscheinlich hat Drew recht. Chase kann ein kleiner Snob sein, wenn es um Autos und Fast Food geht, aber mit romantischen Gesten kennt der Mann sich aus. Er hat mich auf der Spitze des Empire State Buildings geküsst. Er hat in seinem Apartment eine Spur aus Rosenblütenblättern gestreut, die zu einer von Kerzenlicht beschienenen Badewanne führte. In der Hütte wartet wahrscheinlich ein romantisches Abendessen auf uns, und dann werde ich froh sein, dass ich mich nicht mit KFC-Mutantenhühnchen vollgestopft habe.

Ich beende das Telefonat und frische mein Make-up auf, so gut es geht. Chase’ Attraktivität gibt mir immer das Gefühl, dass ich mehr für mein Äußeres tun muss. Ich will auf keinen Fall, dass die Leute sich fragen, was er an mir findet, wenn sie uns zusammen auf der Straße sehen.

Rasch bringe ich meine Wimperntusche in Ordnung, trage eine neue Schicht »Pretty Kiss« auf meine Lippen auf und bürste mir schnell die Haare (die, im Gegensatz zu seinen, durch etwas Hilfe meines Friseurs so blond sind). Ich überlege, ob ich sie hochstecken soll, aber Chase mag es, wenn ich sie offen trage, also lasse ich es.

Seit ich sechzehn bin, deuten meine Eltern immer wieder an, dass ich mich unters Messer eines Schönheitschirurgen legen sollte, weil ich laut meiner Mutter das »Rochester-Kinn« geerbt habe. Bisher habe ich mich jedoch geweigert. Ehrlich gesagt mag ich mein Kinn, und mich stört daran nichts. Dieses Kinn sehe ich im Spiegel, seit ich denken kann, und ich kann mir auch nicht vorstellen, wie es anders aussehen sollte. Ich wäre einfach nicht mehr ich. Nicht für Chase, nicht für meine Eltern noch sonst irgendjemanden lasse ich mein Kinn richten! Und ich werde mir auch bestimmt kein Botox spritzen lassen. Lieber Himmel, ich bin noch nicht mal dreißig!

Der Duft von frittiertem Hühnchen ist in der Zeit, in der ich auf dem Klo war, irgendwie intensiver geworden. Ich kann die goldenen, panierten Hühnerbeinchen im Geiste vor mir sehen, und ein Korb voller buttriger Biscuits ruft nach mir. Natalie, bitte iss uns! Du weißt, wie lecker wir sind!

Es ist vollkommen aussichtslos, das Restaurant ohne Essen zu verlassen. Ich bin jetzt hungrig, und es dauert noch mindestens eine Stunde, bis wir in der Hütte ankommen.

Ich nähere mich dem Mädchen an der Kasse und versuche, nicht auf ihren entzündeten Brauenring zu schauen. Ich überlege, was ich bestellen kann, ohne dass Chase etwas davon mitbekommt. »Kann ich bitte ein Biscuit haben?« Wenn schon kein Hühnchen, dann wenigstens eins dieser leckeren Buttermilchbrötchen.

»Klar«, erwidert sie. »Kommt noch was dazu?«

»Vielleicht … doch lieber zwei Biscuits.«

Sie tippt meine Bestellung in die Kasse ein, und ich zahle bar. Da der Bon meinen kleinen Fehltritt verraten könnte, winke ich ab, als sie ihn mir geben will. Leise summend tütet das Mädchen die Biscuits ein, und ich versuche, die Melodie zu erkennen. Vielleicht Meghan Trainor?

»Hey, glauben Sie, dass Billy Joel der Superstar der Achtziger war?«, frage ich sie.

Das Mädchen blinzelt sichtlich irritiert, während sie die braune Papiertüte auf der Theke abstellt. »Wer ist Billy Joel?« Ich muss sie wohl ziemlich entgeistert ansehen, denn sie fügt hinzu: »Ich bin 2000 geboren. Mit den Achtzigern kenn ich mich nicht so aus …«

»Nicht so wichtig«, murmele ich und lasse die Biscuits in meiner Hermès Birkin Bag verschwinden. Wann ich Gelegenheit bekomme, sie zu essen, steht noch in den Sternen, da im Porsche striktes Essverbot herrscht. Chase liebt dieses Auto fast so sehr wie Billy Joel. Würden wir heiraten, hätte ich aber vielleicht eine Chance auf Platz Nummer drei.

»Seien Sie vorsichtig im Schnee«, wünscht das Mädchen mir noch, als ich mich zum Gehen wende.

Ich runzele die Stirn. »Schnee?«

Schnell werfe ich einen Blick durch die Fenster des Restaurants nach draußen. Und tatsächlich schweben kleine Schneeflocken vom Himmel herunter.

»Hab gehört, dass ein Blizzard im Anmarsch ist«, erklärt die Angestellte.

Nanu? Chase hat behauptet, der Wetterbericht hätte für das Wochenende hier in der Gegend nichts angesagt.

Ich danke dem Mädchen und eile nach draußen. Ich war wohl viel länger im Restaurant als gedacht, denn die Sonne steht tiefer am Himmel, und die Temperatur ist stark gesunken. Die kalte Luft schlägt mir ins Gesicht, und der dunkle Stoff meiner Jacke ist sofort mit weißen Flocken übersät.

So schnell ich kann, haste ich zum Auto. Ich bibbere, als ich mich auf den Ledersitz fallen lasse. Chase hat zum Glück die Heizung voll aufgedreht, und die Wärme umfängt mich angenehm.

»Es schneit«, keuche ich.

Chase zuckt mit den Schultern. »Laut Wetterbericht soll es ein paar Schneeschauer geben.«

Ich schaue auf die inzwischen großen, weißen Flocken, die vom Himmel fallen. »Bist du dir sicher, dass es klug ist, mit dem Porsche weiterzufahren?«

Chase sieht mich an, als ob ich verrückt geworden wäre. »Der Schnee bleibt ja nicht mal liegen. Wenn ich bei dem bisschen nicht mehr fahren kann, sollte ich dringend wieder zurück nach Virginia ziehen.«

Etwa ein Jahr bevor wir zusammengekommen sind, ist Chase aus seinem schneearmen Heimatbundesstaat hier hochgezogen, aber er hat sich hervorragend in Neuengland integriert. Er besitzt sogar eine Red Sox-Baseballjacke. Trotzdem mache ich mir Sorgen, dass er sein Auto im Schnee nicht so sicher beherrscht wie jemand, der hier aufgewachsen ist. »Es könnte schlimmer werden«, meine ich.

»Wird es nicht.«

»Könnte es aber.«

»Wird es aber nicht.«

Wenn es eine Sache an Chase gibt, die ich sowohl liebe als auch hasse, dann ist es sein unerschütterliches Selbstvertrauen. Wenn Chase von einer Sache überzeugt ist, dann lohnt sich keine Diskussion darüber. Drew und ich haben da einen Insider-Gag für solche Momente – wir nennen ihn dann den Unerschütterlichen Chase. Wenn man Chase fragt, was er zum Abendessen möchte, und er antwortet »Chinesisch«, dann schwingt in seiner Antwort keine Frage mit. Er fragt nicht, ob ich Lust auf chinesisches Essen habe oder ob mir Indisch vielleicht lieber wäre. Nein, es bedeutet schlicht, dass ich im Laufe des Abends Ming’s Palace anrufen werde, um unsere Bestellung durchzugeben.

Selbstbewusste Männer sind sexy, das gebe ich gerne zu. Andererseits … sollte ich nicht wenigstens manchmal aussuchen dürfen, was wir essen?

»Da drüben ist eine Tankstelle. Willst du noch tanken?«

Chase schaut auf die Tankanzeige. »Nein, wir haben genug. Der Tank ist halb voll.«

»Genau. Und wir haben noch eine lange Strecke vor uns.«

»Ein halber Tank reicht locker.«

Man könnte meinen, dass er ein Optimist ist und ich eine Pessimistin bin. Allerdings ist es wahrscheinlicher, dass er seinen kostbaren Porsche nicht betanken kann, solange der nicht komplett leer ist, oder ein ähnlich blöder Grund. Auf jeden Fall habe ich die Nase voll von diesen Nonsensdiskussionen. Meinetwegen – Billy Joel ist der Superstar der Achtziger, KFC verarbeitet Mutantenhühnchen, und wir brauchen kein Benzin.

Chase wirft mir einen Blick zu, und sein Gesichtsausdruck wird etwas liebevoller. Sicher, er hat ein paar Ecken und Kanten, aber er ist kein schlechter Partner. Jeder ist während einer langen Autofahrt gestresst. Ich kann ihm auch eigentlich keinen Vorwurf machen, dass er ein bisschen angefressen ist, wenn man bedenkt, wie schnippisch ich selbst gerade zu ihm war.

»Wir sind bald in der Hütte«, meint er versöhnlicher. »Dort wartet ein romantisches Abendessen auf uns. Nur wir zwei. Und dann …« Er zwinkert mir zu. »… eine romantische Nacht.«

Er greift nach meiner Hand und drückt sie. Für einen Mann hat er sehr weiche Hände – und sie sind angenehm glatt und warm. Genau wie seine Lippen.

»Ich kann’s kaum erwarten«, antworte ich. Und das meine ich auch so.

Liebe, Eis und Schnee

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