Читать книгу Liebe, Eis und Schnee - Annabelle Costa - Страница 8
ОглавлениеKapitel 3
Die nächste Stunde verbringen wir in angespannter Stille.
Nun ja, in relativer Stille. Billy Joel dröhnt immer noch aus den Lautsprechern, nur dass ich es jetzt nicht mehr besonders witzig finde, wenn er darüber singt, dass nur die Guten jung sterben. Da wäre mir echte Stille deutlich lieber, aber Chase lässt mich die Musik nicht ausschalten.
Mein Blick bleibt die ganze Zeit auf die Tankanzeige gerichtet, die immer weiter nach unten geht. Bald ist der Tank leer, und dann haben wir ein noch viel größeres Problem. Wir haben nicht mal genug Benzin, um durch die Nacht zu kommen.
Wenn Chase doch nur auf mich gehört und noch mal getankt hätte.
»Ich glaube, wir sollten den Motor ausmachen«, sagt er auf einmal.
Mir hämmert das Herz in der Brust. »Was? Warum?«
»Ich will nur …« Er kaut auf seiner Unterlippe herum. Ich weiß, dass er nervös ist, weil in seiner Stimme eine Spur Südstaatenakzent mitschwingt. Den kann man nur hören, wenn er gestresst ist – und das passiert so gut wie nie. Der Unerschütterliche Chase ist verschwunden, und das macht mir gerade am meisten Angst. »Ich will sehen, wie kalt es ohne Heizung wird.«
»Ich würde mal sagen, ziemlich kalt.«
»Klar, aber das Auto bietet einen gewissen Schutz. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm.«
Chase ist in einer Region aufgewachsen, wo es nie schneit. Und seit er hierhergezogen ist, parkt er sein Auto immer in Garagen, wo es vor dem Wetter geschützt ist. Er hat keinen blassen Schimmer, wie kalt ein Auto werden kann, wenn es über längere Zeit draußen abgestellt ist. In diesem Auto wird es sehr bald sehr, sehr kalt sein.
Er dreht den Zündschlüssel, und der Motor verstummt.
Anfangs ist es nicht so schlimm, da sich im Auto immer noch genug Wärme befindet. Idiotischerweise schöpfe ich ein bisschen Hoffnung, dass wir es doch durch die Nacht und vielleicht sogar länger schaffen können, bis uns hier jemand findet. Doch nach etwa zwanzig Minuten wird mir klar, dass das nicht der Fall ist. Im Auto wird es immer kälter. Ich stecke mir die Hände abwechselnd unter die Achselhöhlen oder hauche warme Luft auf sie. Meine verfluchte Kaschmirbaskenmütze von Inverni ist leider eher modisch als warm.
Ich habe für diese Reise wirklich schlecht gepackt. Allerdings hatte ich auch gedacht, dass wir uns in einer beheizten Hütte aufhalten würden.
»Es ist ziemlich k-kalt«, kommentiert Chase. Seine Zähne klappern, und seine Lippen werden ein bisschen blau.
»Ja«, murmele ich.
Ich schaue auf die Tankanzeige. Oh Gott, das Benzin muss fast alle sein. Wir stecken wirklich und wahrhaftig in der Klemme. Was sollen wir nur tun?
Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper, obwohl mir davon auch nicht wirklich wärmer wird. Was würde ich jetzt nur für eins meiner Burberry-Plaids geben! Ich habe sie nicht mitgenommen, weil ich sowieso schon zu viel Zeug gepackt hatte und außerdem davon ausgegangen bin, dass die Hütte ausgestattet ist.
Das Auto hält zwar den Wind ab, aber ansonsten bietet es kaum Schutz vor der eisigen Kälte. Mittlerweile ist der Schnee so hoch, dass ich mir Sorgen mache, dass wir die Türen bald nicht mehr öffnen können. Bis zum Morgen könnte der Porsche komplett begraben sein.
Die Möglichkeit, dass wir hier sterben könnten, ist sehr real. Nein, es ist nicht nur eine Möglichkeit. Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich hoch, weil keiner nach uns suchen wird. Vor Montag wird uns niemand vermissen, da unsere Freunde und Familien davon ausgehen, dass wir dieses Wochenende »in der Wildnis« verbringen. Bis Montag könnten wir ohne Weiteres erfroren sein.
Oh Gott.
Ich will hier nicht sterben. Ich hab noch so viel vor. Ja, mir ist nicht viel eingefallen, das ich vor meinem dreißigsten Geburtstag noch erleben kann, aber ich liebe mein Leben! Ich liebe meinen Catering-Service. Ich liebe meine Freunde und meine Familie. Ich will irgendwann heiraten und eine Familie gründen. Es kann doch nicht sein, dass mein Leben hier in diesem Porsche auf einer Schotterpiste in Vermont enden soll.
Ich schaue Chase an, dessen Gesichtsausdruck mir verrät, dass ihm gerade ähnliche Gedanken durch den Kopf spuken. Von seinem üblichen Selbstvertrauen ist nichts mehr geblieben.
»Was machen wir denn jetzt?«, flüstere ich.
»Wir müssen hier irgendwie weg«, sagt er. So ausgeprägt habe ich seinen schleppenden Südstaatenakzent noch nie gehört.
»Und wie?« Mein Handy ist nutzlos, seins sicher auch. Anders können wir nicht mit der Außenwelt kommunizieren.
»Vielleicht …« Chase beäugt die fallenden Schneeflocken und die wachsende Schneedecke auf der Windschutzscheibe. Alles, was jenseits davon liegt, ist in der nächtlichen Dunkelheit nicht zu erkennen. Anders als in Boston gibt es hier keine Straßenlaternen oder Autoscheinwerfer, die die Dunkelheit erleuchten. Hier sind nur die Sterne und der Mond mögliche Lichtquellen, was aber bedeutet, dass es momentan stockfinster ist. »Wir könnten versuchen, nach Hilfe zu suchen?«
Ich schüttele den Kopf. »Wie denn? Das Auto bewegt sich nicht von der Stelle.«
Er kaut auf seiner Unterlippe herum. »Zu Fuß.«
Mein Blick huscht wieder zum Fenster. »Im Ernst? Wir müssen kilometerweit von der nächsten größeren Straße entfernt sein.«
»So weit ist es bestimmt nicht.« Er zittert, weil ihm wahrscheinlich genauso kalt ist wie mir. »Und du musst ja nicht direkt jemanden finden. Du musst es einfach nur irgendwohin schaffen, wo du Empfang hast.«
Ich starre ihn aus zusammengekniffenen Augen finster an. »Was meinst du bitte mit ›du‹?«
»Na ja …« Chase rutscht auf dem Ledersitz herum. »Wie schon gesagt, du hast wärmere Sachen an.«
Das muss einfach ein schlechter Scherz sein. Chase Hollister ist der eindeutige Beweis dafür, dass Kavaliere längst ausgestorben sind.
»Draußen ist es wahrscheinlich gar nicht so viel kälter als hier drin«, fügt er hinzu.
»Ich werde dieses Auto ganz sicher nicht verlassen, Chase«, sage ich bestimmt.
»Sei nicht so egoistisch, Natalie.«
Mir bleibt der Mund offen stehen. Ich war mir schon fast sicher, dass ich unsere Beziehung nach diesem Ausflug beenden würde. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass ich nicht weiß, ob wir hier lebendig rauskommen, brauche ich wirklich nicht länger mit einer Lüge leben.
»Weißt du was, Chase?«, frage ich. »Das war’s mit uns.«
Jetzt ist es an ihm, schockiert auszusehen. Sein gebräuntes Gesicht wird ganz blass. »Du machst mit mir Schluss?«
»Du hast es erfasst.«
»Jetzt?«
»Was du heute kannst besorgen …«
Blinde Wut zeichnet sich auf seinem Gesicht ab, und für einen Moment bereue ich meine Entscheidung, das genau jetzt durchzuziehen. Was soll ich machen, wenn Chase hier übergriffig wird? Ich kann nicht weglaufen. Hastig gehe ich im Kopf durch, was ich im Selbstverteidigungskurs an der Uni gelernt habe, aber nichts davon lässt sich auf eine Situation im Auto anwenden.
Das Herz schlägt mir schon bis zum Hals, doch da sinken Chase’ Schultern nach unten. »Meinetwegen.« Er schüttelt den Kopf. »Dann muss ich wohl selbst raus und Hilfe holen.«
Jetzt, wo ich nicht mehr befürchte, dass Chase sich an mir vergreift, muss ich seine Worte einen Moment lang sacken lassen. Da draußen tobt ein Schneesturm. Wie weit meint dieser verwöhnte Junge aus Virginia denn, es in einem Blizzard zu schaffen?
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, sage ich. »Ich finde, wir sollten hierbleiben. Das ist unsere beste Chance.«
»Du meinst, hier im Auto bleiben und nichts tun?« Er schnaubt. »Die Hollisters sind Männer der Tat, Natalie. Ich werde hier nicht einfach rumsitzen und darauf warten, dass ich sterbe.«
Ich linse wieder aus dem Fenster. Sieht eher so aus, als ob ihn da draußen im Moment der sichere Tod erwartet. »Bleib wenigstens bis morgen früh hier, wenn der Schneesturm vorbei ist.«
»Bis zum Morgen könnten wir Frostbeulen bekommen.«
Seine Aussage erinnert mich an meine eiskalten Füße, die klatschnass sind, seit ich das Auto verlassen habe. Bisher habe ich nicht weiter darüber nachgedacht, aber jetzt fällt mir auf, dass ich meine Zehen nicht mehr spüre. Wie konnte ich das nicht bemerken? Ich versuche, mit ihnen zu wackeln … Hm, ich glaube, sie bewegen sich. Aber ganz sicher bin ich mir nicht.
Oh mein Gott, was, wenn ich Frostbeulen bekomme? Was, wenn man mir die Zehen amputieren muss? Das hier ist ein einziger großer Albtraum.
»Das ist unsere einzige Chance, Natalie.«
Der zuversichtliche Ausdruck ist zurück auf Chase’ Gesicht. Der Unerschütterliche Chase glaubt tatsächlich, dass er uns retten kann. Und vielleicht stimmt das ja auch. Nichts ist unmöglich, oder?
»Außerdem«, fügt er hinzu, »ist das allemal besser, als hier mit dir festzustecken.«
Falls ich noch Zweifel an der Entscheidung hatte, diese Beziehung zu beenden, verpuffen diese nun endgültig.
Trotzdem will ich nicht, dass Chase da draußen stirbt. Also reiche ich ihm den Schal, den ich mitgebracht habe. Er wehrt sich kurz dagegen, da der Schal rot ist und sehr feminin aussieht. Letztendlich macht er sich aber wohl doch größere Sorgen ums Erfrieren als um das Fashion-Desaster, denn schließlich wickelt er sich den Schal um den Hals. Ich gebe ihm auch meine Kaschmirbaskenmütze, von der ich mich zwar nur ungern trenne, aber er braucht sie dringender.
Ich kann Chase’ Augen kaum erkennen, als er mich vom Fahrersitz aus fixiert. Er ist in meine Mütze und meinen Schal eingemummelt, und seine Jacke und Slipper sind für dieses Wetter absolut nicht ausreichend. Möglicherweise sehe ich ihn nie wieder. Mein Ärger von vorhin verfliegt. Chase ist kein schlechter Mensch – nur ein bisschen arg verwöhnt. Er ist nicht der Richtige für mich, aber ich bin mir sicher, dass irgendwo die richtige Frau auf ihn wartet. Immerhin stellt er sich einem Schneesturm, um uns zu retten – er ist fast schon ein Held. Ich hoffe, dass er es schafft.
»Dann gehe ich jetzt mal.«
Ich nicke. Am liebsten würde ich ihn anflehen, im Auto zu bleiben, da, wo es sicher ist. Aber er hat recht: Das ist unsere einzige Hoffnung.
»Bist du sicher, dass du das nicht übernehmen willst?«, fragt Chase. »Deine Jacke ist viel wärmer als meine.«
Okay, vielleicht ist er doch kein Held.
»Chase!«, knurre ich.
»Ist ja schon gut.« Er seufzt tief und müht sich dann ab, um die Autotür aufzubekommen. Als er schließlich aussteigt, wird mir flau im Magen. Es ist absolut unmöglich, dass dieser Mann, der noch keinen einzigen Tag in seinem Leben gearbeitet hat, es bis in die Zivilisation schaffen wird … oder wenigstens irgendwohin, wo sein Handy Empfang hat. Er rennt in seinen sicheren Tod.
»Chase«, sage ich mit heiserer Stimme. »Tu’s nicht. Es ist zu gefährlich. Bleib hier, okay? Bitte.«
Aber wenn der Unerschütterliche Chase das Kommando hat, lässt er sich natürlich von niemandem was sagen. Er richtet sich so gut wie möglich in dem Wind auf, der ihm entgegenbläst, und strafft die Schultern. »Mach dir keine Sorgen, Natalie. Es wird schon gut gehen.«
Er schließt die Autotür, und während seine Silhouette in der Dunkelheit verschwindet, macht sich in mir das fürchterliche Gefühl breit, dass dies die letzten Worte waren, die ich je von ihm gehört habe.