Читать книгу Wer hilft mir, was zu werden? - Annamarie Ryter - Страница 10
ОглавлениеAlain Studer
Jennifer 16 hat auf Sekundarstufe I die Werkklassen 17 und ein privates zehntes Schuljahr besucht. Weil sie im Anschluss trotz großer Bemühungen noch immer keine Lehrstelle fand, trat sie im Sommer 2008 ins Motivationssemester 18 ein. Bei einem schulischen Test zu Beginn zeigte sie für den besuchten Schultyp überdurchschnittliche Leistungen in Deutsch. In Mathematik traten hingegen deutliche Schwächen hervor. Auf den ersten Blick wirkte Jennifer meist sehr skeptisch, was Neues anbelangte, und zeigte sich in sozialen Kontakten sehr zurückhaltend. In Bezug auf die Lehrstellensuche war sie aber überaus motiviert, arbeitete zuverlässig und ausdauernd. Ihr großer Traum war eine Ausbildung in einer Autogarage, am liebsten als Lackiererin.
Verschiedene Lehrmeister aus dem Karosseriebereich attestierten Jennifer eine vorbildliche Arbeitshaltung. Sie beklagten allerdings ihre mangelnden Mathematikkenntnisse, die sich im praktischen Berufsalltag zeigten. Eine Ausbildung im EFZ-Bereich 19 sei deswegen auf keinen Fall möglich – als Werkklassenschülerin schon gar nicht. Ein Multicheck zur Abklärung der schulischen Voraussetzungen für eine Berufsausbildung stützte diese Aussage. Über die Beziehungen des Motivationssemester-Anbieters zu Arbeitgebern ließ sich am Ende eine Vorlehre in einer Autogarage im mechanischen Bereich finden – mit Blick auf Jennifers wachsende Zahl von Zwischenjahren eine unbefriedigende Lösung.
Im Rahmen einer weiteren Nachbetreuung im ersten Halbjahr nach dem Austritt aus dem Motivationssemester fand sie aufgrund der sehr guten Rückmeldungen aus dem Vorlehrbetrieb einen Ausbildungsplatz als Lackiererin mit eidgenössischen Fähigkeitszeugnis (EFZ). Die Ausbildung verläuft laut Lehrmeister sehr gut, Jennifer wird ihre Berufslehre im Sommer 2014 abschließen können.
Die Erfahrungen zeigen, dass oft unklar ist, wie die Eignung und die Leistungen beurteilt werden sollen. Die im Beitrag von Thomas Meyer beschriebene starke Gewichtung des besuchten Schultyps bei der Lehrlingsselektion ist in der Praxis gut spürbar. Vonseiten der Schulen sind in einigen Kantonen Bemühungen um einen einheitlichen Leistungsausweis im Gange. Demgegenüber legen Betriebe und Berufsverbände zusehends mehr Gewicht auf eigene Selektionswerkzeuge oder solche externer Anbieter. Die Hauptproblematik all dieser Berufseignungstests ist, dass sie oft nur wenig über das Entwicklungspotenzial der Jugendlichen beim Einstieg in die Berufsausbildung aussagen. Um dieses einschätzen zu können, braucht es oft mehr. Die Begleitung der Jugendlichen in diesem Suchprozess und die Vermittlungstätigkeit in enger Zusammenarbeit mit Lehrbetrieben bieten dazu eine große Chance, welche in dieser Qualität und Intensität im Schulbereich nicht möglich ist. Praktische Erfahrungen aus längeren Schnuppereinsätzen oder Praktika lassen qualitativ bessere Beurteilungen bezüglich Berufseignung und Entwicklungsmöglichkeiten zu. Die Jugendlichen erhalten im Betriebsalltag eine Fülle von Rückmeldungen, die es ihnen erlauben, ihre Berufswünsche zu reflektieren. Den meisten gelingt es nach einer gewissen Zeit, anstehende Entwicklungsschritte anzugehen oder sich gegebenenfalls nach beruflichen Alternativen umzusehen, falls sich eine Ausbildung im Wunschberuf als nicht realistisch erweist. Oft können Rückmeldungen von Arbeitgebern und Coachs in Form von schriftlichen Bewertungen oder Referenzen die Auswirkungen des besuchten Schultyps im Bewerbungsprozess aufweichen.
In diesem Prozess tragen die Fachpersonen, welche die Jugendlichen im Motivationssemester begleiten, eine große Verantwortung für die Nachhaltigkeit der gefundenen Lösung. Es ist wichtig, in der Zusammenarbeit mit potenziellen Lehrbetrieben auch kritische Punkte anzusprechen und nach Lösungen zu suchen. Dies schafft Vertrauen auf Arbeitgeberseite und ist im Sinne der Nachhaltigkeit zwingend. Im Spannungsfeld zwischen Vermittlungsquote und Nachhaltigkeit ist dies nicht immer einfach. Meine Erfahrungen der letzten Jahre sprechen für eine eher defensive Grundhaltung bei der Wahl des Ausbildungsniveaus.
Drei Jahre in der »Warteschleife« sind eine lange Zeit. Das hat von Jenny außergewöhnlich viel Durchhaltewillen und von ihrem privaten, schulischen und beruflichen Umfeld viel Zuspruch und Motivationsarbeit gefordert. In Bezug auf die Kompensationsfunktion zeigt ihr Fall, dass es ihr gelungen ist, mithilfe der verschiedenen schulischen Angebote im zehnten Schuljahr, im Motivationssemester und in der Vorlehre ihre mathematischen Defizite so weit aufzuarbeiten, dass ihr das erfolgreiche Durchlaufen einer EFZ-Ausbildung möglich wurde. Auch bezüglich ihres Kommunikationsverhaltens gegenüber Erwachsenen hat Jennifer in dieser Zeit durch gezielte Unterstützung große Fortschritte machen können. Biografisch betrachtet, waren diese Jahre für Jennifer sinnvoll.
Wie das Beispiel zeigt, können Berufsintegrations- oder Übergangsmaßnahmen eine Chance sein. Sie liefern einen wichtigen Beitrag zur Begleitung von anforderungsreichen, riskanten Übergangsphasen und tragen zur Chancenoptimierung bei.