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Als die Radiologietechnikerin den Raum verlässt, drehe ich meinen Kopf Richtung Bildschirm, um jegliches Neoplasma, die Nervennetzwerke, die kleinen beleuchteten Schriften, die meine Pathologie und/oder Zukunft und bevorstehendes Ende verzeichnen könnten, auszudeuten. Der erste Tumor, den ich je sah, war eine runde Verdunklung auf diesem Bildschirm, aus der ein rissiger Finger ragte. Von meinem Untersuchungstisch aus machte ich ein Foto davon mit meinem iPhone. Dieser Tumor war mein eigener.

Krank sein, in dieser plötzlichen Erfahrung überschnitten sich Klinik und Empfindung. Ich trug dasselbe grüne Trägershirt zu abgeschnittenen Jeans wie jeden Sommer. Dann Überraschung, dann Fachbegriffe, unerbittlich und überzeugend, die die Klimakontrolle heißlaufen ließen, diese ernste Frau im grauen Anzug, emphatisch im Blick auf den Untergang, dann Panik, klinische Details, erstaunte GChats mit meinen Freund:innen. Eine Ermittlerin tritt in mein Leben, rausgeputzt wie eine ganze Institution, sagt, sie ermitteln bezüglich Empfindungen, die jemand (ich) bisher noch nicht erfahren musste, aber nun erfahren wird.

Dinge und Handlungen aus einer Ordnung herauszunehmen und sie als Elemente einer anderen Ordnung neu zu klassifizieren, ist wie Wahrsagerei. Einer Wahrsagerin zeigen Vögel, die nach Norden fliegen, künftiges Glück an und Teeblätter erzählen von zwei Liebenden und der Dritten, die ihnen Verderben bringt. Danach ist Vogelflug frei von der Bedeutung »Zug«, und Tee, der zu einer Erzählung über das bevorstehende Ende einer Liebe wurde, wollen wir nicht mehr trinken.

Ein Ding oder mehrere aus einer Ordnung herauszunehmen und sie als Elemente einer anderen neu zu klassifizieren, hat auch eine gewisse Ähnlichkeit mit Diagnostik, die unseren Körpern Informationen entnimmt und das, was aus unserem Inneren kam, dann in einer Ordnung neu bestimmt, die uns von fernher aufgedrängt wird. Mein Knoten gehörte einmal zu mir, doch sobald die Radiologin ihn als BI-RADS 5 eingestuft hatte, wurde er zum Tumor, für immer heimisch in der Ordnung der Onkologie.1 Wie die vom Sinn ihres Fliegens befreiten Vögel und der befreite Tee ist ein Mensch mit Diagnose befreit von dem, was sie einmal als sich begriffen hat.

Mit Bestimmtheit für krank erklärt zu werden, während man sich mit Bestimmtheit gesund fühlt, bedeutet, gegen die Härte von Sprache zu prallen, ohne auch nur eine Stunde weicher Unbestimmtheit zu erhalten, um sich darin mit präventiver Sorge à la Jetzt hast du keine Lösung für ein Problem, jetzt hast du einen konkreten Namen für ein Leben, das entzweibricht zu beruhigen. Eine Krankheit, die sich nicht darum scherte, sich den Sinnen anzukündigen, erstrahlt in ihrem Bildschirmleben, da Licht Schall ist und Information, verschlüsselt, unverschlüsselt, in Umlauf, analysiert, bewertet, erforscht und verkauft. Auf den Servern zerfällt oder verbessert sich unsere Gesundheit. Früher waren wir in unseren Körpern krank. Heute sind wir krank in einem Körper aus Licht.

Willkommen, Messgeräte mit Namen aus Buchstaben: MRT, CT, PET. Ohrenschützer auf, Kittel an, Kittel aus, Arme rauf, Arme runter, einatmen, ausatmen, Blut abnehmen, Kontrastmittel spritzen, Zauberstab rein, Zauberstab an, bewegen oder bewegt werden – Radiologie macht aus einem Menschen aus Fleisch und Blut eine Patientin aus Licht und Schatten. Es gibt leise Radiologietechniker:innen, lautes Rattern, warme Decken, Piepen wie im Film.

Ein Bild in einer Klinik ist keins: Es ist Bildgebung. Wir, die wir durch die Ultraschallwellen und ihre Momentaufnahmen, durch Lichttricks und Bestrahlungen, durch fantastische spritzbare Kontrastmittel zu Patient:innen werden, sind kraft der mir durch das universelle Einen-Körper-zu-haben-Gesetz zufallenden Macht ab heute die Bildgeblinge zu nennen. »Kommen Sie mit einer vollen Blase«, sagen die Radiologietechniker:innen am Telefon zu den Bildgeblingen, sie wollen in unser interessantes Inneres sehen. Derselbe Ultraschall, der ein neues Leben in einer Gebärmutter finden kann, kann darin auch embryonischen Tod finden.

Wir werden krank und unsere Krankheit fällt unter die harte Hand der Wissenschaft, fällt auf Objektträger souveräner Mikroskope, fällt in süße Lügen, fällt in Mitleid und PR, fällt in neue Browserfenster und neue Bücher im Regal. Und dann ist da dieser Körper (mein Körper), der kein Gefühl für Unbestimmtheit hat, ein Leben, das aufbricht unter der fremden Terminologie der Onkologie, dann in den Riss dieser Sprache hinein, fällt.

Es gibt Menschen, die sich in ihren Körpern unwohl fühlen und nichts tun, und es gibt Menschen, die sich in ihren Körpern unwohl fühlen und ihre Symptome in Suchmaschinen eingeben und nichts weiter. Dann gibt es Menschen, die es sich leisten können, das, was wehtut, unter Expert:innen herumzureichen, die mit Diagnoseangeboten wetteifern. Diese Gruppe von Menschen verfolgt eine Reihe Symptome auf ein Versprechen hin, fragt nach Tests, bezweifelt Antworten, nimmt weite Strecken in Kauf, um Spezialist:innen zu konsultieren, die vielleicht erkennen können, was los ist.

Wenn Symptome lange genug herumgereicht werden, wird einer Schar Beschwerden vielleicht die Gnade eines Namens zuteil: eine Krankheit, ein Syndrom, eine Empfindlichkeit, ein Suchbegriff. Manchmal ist das Heilung genug – als genügte es, sich berufen zu können, um etwas wieder gut zu machen. Jemandem ein Wort zu geben, um sein:ihr Leiden zu bezeichnen, ist manchmal die einzige Behandlung dafür.

In einer Welt, wo sich so viele Menschen so unwohl fühlen, gibt es einen geläufigen vagen Zustand des Sich-krank-Fühlens, der zumindest die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft der Nichtnäher-Bezeichneten gewährt. Beschwerden ohne Diagnose formen eine Gefühlslandschaft aus undefinierten Schmerzen und körperlichen Gebrechen, die von keiner Kategorie Krankheit in Zaum gehalten werden. Die Art von Krankheit, die keinen Namen hat, ist die Art, die in der Schwebe gehalten wird oder im Geläufigen oder abgeschoben in eine Nachbarschaft zur Psychiatrie.

Ein Körper, der unter unerklärlichen Beschwerden leidet, zeigt sich der Medizin in der Hoffnung auf ein Vokabular, um von seinem Leiden zu sprechen. Wenn diesem Leiden keine hinreichende Sprache entgegengebracht wird, müssen die daran Leidenden gemeinsam eine erfinden. Solche Kranken ohne Diagnose haben eine Literatur namenloser Krankheiten hervorgebracht, eine Poesie sogar, und ein Narrativ ihrer Suche nach Antworten. Als Reaktion auf das, woran Medizin versagt, hecken sie Diäten aus, probieren Einschränkungen ihres Lebensstils, und in diesem Mix aus Ernährungskuren, regulierender Schonung und rotierenden Arztkontrollen vagabundieren Gesundheit und Krankheit aus dem Gebiet der Medizin, widerstehen Leiden wie Heilung.

Krebs dagegen taucht selten ohne Ankündigung auf. Krebs wirbelt herein in einer Welle von Spezialist:innen und Spezialtechnologie. Er erreicht uns durch Kontrolle und Erklärung. Unsere Sinne sagen uns fast nichts über unsere Krankheit, aber die Ärzt:innen verlangen von uns zu glauben, dass das, was wir weder sehen noch fühlen können, uns umbringen kann, und so glauben wir.

»Sie erzählen mir«, sagte ein alter Mann im Infusionszimmer der Chemotherapie zu mir, »dass ich Krebs habe, aber«, er flüsterte jetzt, »ich habe da so meine Zweifel.«

Doch wir wussten, dass etwas nicht stimmte, dass die Welt (katastrophal) nicht stimmte, dass wir (katastrophal) nicht stimmten, dass etwas (irgendetwas) überall katastrophal nicht stimmte.

Wir waren krank im Glanz völliger Gesundheit und völlig gesund in einer krank machenden Welt.

Wir waren einsam und doch unfähig, die notwendigen Bindungen einzugehen, um unsere Einsamkeit zu überwinden.

Wir waren überarbeitet, doch unsere Arbeit berauschte uns.

Ich dachte, ich sei (in gewisser Hinsicht) krank geworden, dass mir (in gewissem Sinn) unwohl sei, dass ich kollabierte in einem Anfall faustischen Größenwahns inmitten einer Welt aus Teufelspakten.

Die Unsterblichen

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