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Aelius Aristides nannte die Lebensspanne, die er als Tempelschläfer im Äskulaptempel verbrachte, seine Cathedra. Die sichtlich Todkranken wurden nicht in den Tempel vorgelassen, ebenso wenig die sichtlich Schwangeren: Geburt und Tod wurden diskret in angrenzenden Bauten gehalten. Die gläubigen Kranken verbrachten ihre Zeit mit Baden, dem Darbringen von Brandopfern, Schlafen, Aufwachen und indem sie miteinander ihre Träume besprachen. Dann folgten sie deren Orakeln. Zwei Typen von Träumen waren besonders häufig: Solche mit Weisungen, die sich innerhalb der römischen Heilpraxis bewegten – Fasten, Ernährungsumstellungen, Medikamente, Aderlass, Entschlackung –, und solche mit so wilden Verordnungen, dass von den Ärzten Pergamons gesagt wurde, sie erschauerten, wenn sie sie hörten.

Seit der Diagnose fällt es mir schwer, zwischen gutem Rat und bloßer Ideologie zu unterscheiden.14 Alles, was mir hinsichtlich des Krebses zu tun empfohlen wird, erscheint mir symptomatisch für eine Welt, die selbst krank ist. In mein Tagebuch notiere ich: »der Körper in der Intimität der Maschine«, dann lese ich in einem Forum, dass es leichter fällt, mit dem Verlust der Haare umzugehen, wenn man sie kurz schneidet. Ich möchte es glauben. Normalerweise schneide ich meine Haare selbst, aber diesmal vereinbare ich einen Termin im Friseursalon – dem Belle Époque – und sitze wortlos in dem hohen Stuhl, während ein blonder Fremder meine langen dunklen Haare bis über die Schultern kürzt. Als mein Haar in dichten Flusen um mich fällt, nur um später von einer schlecht bezahlten Aushilfe aufgefegt zu werden, wird mir klar, dass ich, ohne dass es mir bewusst gewesen wäre, ein paar Jahre lang beinahe schön war und es nun nicht mehr sein werde. Ich denke auch daran, wie ich früher immer darauf bestanden habe, das Beste am Leben sei, dass Haare wachsen, was mir nun als einfacher Beweis dafür erscheint, dass nichts sich gleich bleibt, und dadurch auch als Beweis für die vielen Möglichkeiten, wie die Welt sich ändern kann. Nicht nur meine Haare werden ausfallen, auch meine Follikel werden absterben, und zwar schmerzhaft, und das, was immer einfach gewachsen war, wird zu wachsen aufhören, auch wenn ich weiterlebe, und alles, was ich bislang als selbstverständlich begriffen habe, wird eines neuen Beweises bedürfen.

»Wie veränderlich und daher bejammernswert ist doch die Bedingung des Menschseins!«, schrieb der englische Dichter John Donne in seinem Prosameisterwerk aus dem Krankenbett Devotions upon Emergent Occasions (Geistliche Betrachtungen angesichts jäher Widerfahrnisse), das er 1624 in 23 Teilen über 23 Tage, in denen er von sich dachte, todkrank zu sein, verfasste. »In dieser Minute ging es mit gut – und in der nächsten geht es mir schlecht.«15

Niemand merkt, dass man Krebs hat, bis man es erzählt. Ich mache einen Screenshot von John Donnes erster Meditation und poste ihn auf Facebook. »Wir widmen uns eifrig der Gesundheit, wir erörtern die Zuträglichkeit von Fleisch und Trank und Luft und Leibesübungen; wir meißeln und polieren jeden Stein, der zu diesem Gebäude gefugt wird; und so ist unsere Gesundheit ein über lange Zeit Stück für Stück aufgebautes Werk. Doch binnen einer Minute beschießt eine Kanone alles, beschädigt alles, zertrümmert alles.«16

Ich bekomme eine Menge Likes. Dann folge ich einem anderen Rat, den ich im Internet finde: Erzähl es deiner Mutter, erzähl es deiner Tochter, putz gründlich die Küche, verhandle mit deinem Chef, finde jemanden, um die Katze zu hüten, geh zum Second-Hand-Laden und such dir Klamotten, in die ein Portkatheter passt, sag deinen Freund:innen am Telefon, dass du dir Sorgen machst, weil du niemanden hast, der:die sich um dich kümmert. Ohne großes Tamtam wird entschieden, dass die Ärzt:innen mir irgendwann die Brüste entfernen und in einer Verbrennungsanlage entsorgen, und darum übe ich, so zu tun, als hätte es meine Brüste nie gegeben.

Jemand mit aggressivem Krebs ist kaum in der Lage, jemandes Gebete, Hokuspokus oder Geld abzulehnen. Freund:innen organisieren einen Online-Fundraiser. Bekannte geben mir Kristalle. Auf jemandes Rat hin probiere ich Reinkarnationstherapie, bei der anstatt der persischen Königin alle übrigen in ihren früheren Inkarnationen vorzukommen scheinen: Ich bin ein bettelnder älterer Mann mit Lepra, kranker und trauriger, als ich selbst es je war. In einem anderen Leben bin ich ein Kind, das kaum lebt und vor allem stirbt. Ich glaube nicht daran, aber es leuchtet mir ein, in jedem möglichen Leben die bestmögliche Version eines Niemands gewesen zu sein.

Antike Heilstätten wurden häufig in Tälern gebaut, neben Quellen und Höhlen. Die Kranken brachten Äskulap Votivgaben geschundener Körperteile, um im Gegenzug an Beinen, Armen, Augäpfeln geheilt zu werden. Über Äskulaps Macht wurde gesagt, sie sei so groß, dass er mit Medusas Blut Tote zum Leben erwecken könne. Manche behaupten, dass sich unter dem größten Äskulaptempel eine Grube mit tausend Schlangen befand. Diese Tempelschlangen wurden manchmal unter die Tempelschläfer:innen losgelassen, die sich über jede Begegnung mit ihnen freuten, weil sie glaubten, dass es sie heile, wenn ihnen eine Schlange über den Zeh gleitet.

Onkologie-Bilder heute zeigen fast immer Gesichter, und alle strahlen sie multiethnisches, altersübergreifendes Glück aus. Die Gesichter, die aus den Krebsbroschüren leuchten, weisen Anzeichen von Krebs als gesellschaftlichem Ritual auf (einen kahlen Kopf, eine farbige Schleife Farbe), aber keinerlei Spuren eines Leidens, weder an Krebs noch an irgendetwas anderem – nicht Arbeit, nicht Rassismus, nicht Liebeskummer, nicht Armut, nicht Missbrauch, nicht Enttäuschung. Unsere Heilstätten sammeln Lächeln, aus denen jegliche Geschichte wegdesinfiziert ist, jedes Foto unserer Krankheiten eine Votivgabe glänzenden und fragwürdigen Glücks.

Wäre ich eine Tempelschläferin aus der Zeit von Aristides, müsste ich eine Votivgabe darbringen, die einer fremden Mathematik gehorcht, einer, mit der ich mich einer tödlichen Zwangsläufigkeit unterstelle. Ich fühlte mich nicht krank. Doch das stimmt so auch nicht. Denn in den Wochen, die zwischen dem Entdecken des Tumors und dem Beginn der Chemotherapie lagen, fing der Tumor an wehzutun und hörte nicht mehr auf, sein Leben lärmte gegen mein Leben. Ich fragte die Chirurgin, ob das daran liege, dass er wachse und dass er so aggressiv sei, und sie meinte: »Ja, etwas in der Art, vermutlich.« Mir wäre bald genug klar geworden, dass ich krank war. Ich wäre zu Äskulap gegangen mit einem Votiv meiner linken Brust.

Ich beginne, Bilder der heiligen Agatha zu sammeln, die ihre amputierten Brüste auf einem Tablett darreicht. Agatha ist die Schutzpatronin der Brustkrebskranken, sie hilft bei Feuer, alleinstehenden Frauen, Folteropfern und Vergewaltigten. Sie hilft auch bei Erdbeben, denn als die Folterer ihre Brüste abschnitten, bebte die Erde vor Rache.

Die Unsterblichen

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