Читать книгу Die großen Romane der Schwestern Brontë - Anne Bronte, Anne Brontë, The Bronte Sisters - Страница 10

Kapitel 3

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Noch ein paar Lektionen

Am nächsten Morgen erhob ich mich trotz der Enttäuschungen, die ich bereits erfahren hatte, mit einem Gefühl erwartungsvoller Heiterkeit; aber Mary Ann anzukleiden stellte sich als nicht ganz einfach heraus, denn ihr dickes Haar musste mit Pomade eingerieben, zu drei langen Zöpfen geflochten und mit Bänderschleifen zusammengebunden werden: eine schwierige Aufgabe für meine ungeübten Finger. Sie sagte, ihr Kindermädchen benötige nur halb so viel Zeit dafür, und schaffte es durch ihr ständiges ungeduldiges Herumzappeln, dass ich noch länger brauchte. Als ich mit allem fertig war, gingen wir ins Schulzimmer, wo ich meinen anderen Schüler vorfand, und ich plauderte mit den beiden, bis es Zeit war, zum Frühstück hinunterzugehen. Nachdem diese Mahlzeit beendet war und ich mit Mrs. Bloomfield ein paar höfliche Worte gewechselt hatte, kehrten wir ins Schulzimmer zurück und begannen mit unserem Tagespensum. Ich fand meine Schüler in der Tat sehr zurück, doch Tom, obwohl jeder Art von geistiger Anstrengung abgeneigt, war nicht ohne Talent. Mary Ann konnte kaum ein Wort lesen und war so gleichgültig und unaufmerksam, dass ich mit ihr so gut wie gar nicht vorwärts kam. Jedoch mit viel Mühe und Geduld erreichte ich, dass im Verlauf des Vormittags ein kleines Pensum geschafft wurde, und dann begleitete ich meine Schützlinge in den Garten und die angrenzenden Parkanlagen, damit sie sich vor dem Essen ein wenig erholten. Dort kamen wir leidlich miteinander zurecht, nur stellte ich fest, dass es ihnen gar nicht einfiel, mit mir zu gehen: Ich musste mit ihnen gehen, wohin auch immer sie mich führen wollten. Ich musste rennen, gehen oder stehen, wie es ihnen gerade passte. Das, so dachte ich, stellte allerdings die natürliche Ordnung auf den Kopf, und ich empfand es als umso unangenehmer, als sie bei dieser wie auch allen späteren Gelegenheiten die schmutzigsten Stellen und grässlichsten Betätigungen zu bevorzugen schienen. Aber da half nichts: Entweder musste ich ihnen folgen oder mich ganz von ihnen getrennt halten, was geheißen hätte, meine Aufgabe zu vernachlässigen. Heute hatte es ihnen besonders ein Brunnen am untersten Ende des Rasens angetan, in dem sie über eine halbe Stunde lang mit Stöcken und Kieselsteinen herumplanschten. Ich war in ständiger Angst, ihre Mutter würde sie vom Fenster aus sehen und mir daran die Schuld geben, dass ich ihnen erlaubte, ihre Kleider zu beschmutzen und Füße und Hände nass zu machen, anstatt mit ihnen spazieren zu gehen; aber Argumente, Befehle und Bitten konnten sie nicht zum Weitergehen bewegen. Nun, wenn ihre Mutter sie nicht sah, so doch jemand anderes – ein Gentleman kam durch das Tor und weiter den Weg heraufgeritten; ein paar Schritte von uns entfernt hielt er an und befahl den Kindern in gereiztem, scharfem Ton: »Bleibt von diesem Wasser weg.« »Miss Grey«, sagte er, »ich nehme an, Sie sind Miss Grey, ich bin erstaunt, dass Sie ihnen erlauben, ihre Kleider so schmutzig zu machen! Sehen Sie denn nicht, wie Miss Bloomfield ihr Kleid beschmutzt hat? Und dass Master Bloomfields Socken ganz nass sind? Und beide ohne Handschuhe? Meine Güte! Ich möchte darum bitten, dass Sie in Zukunft wenigstens dafür sorgen, dass sie ordentlich aussehen!«, sagte er, machte kehrt und setzte seinen Ritt in Richtung auf das Haus fort. Es war Mr. Bloomfield. Ich war überrascht, dass er seine Kinder mit Master und Miss Bloomfield anredete, mehr noch, dass er mit mir, ihrer Lehrerin, einer ihm völlig fremden Person, so unhöflich sprach. In diesem Augenblick erklang die Glocke und rief uns herein. Ich aß mit den Kindern an einem Tisch, während er an einem anderen Tisch das Essen mit seiner Frau einnahm. Sein Benehmen dort ließ ihn nicht gerade in meiner Achtung steigen. Er war von mittlerer Statur, eher darunter und eher dünn als kräftig, offensichtlich zwischen dreißig und vierzig. Er hatte einen großen Mund, eine blasse, gräuliche Gesichtsfarbe, wässerige blaue Augen und hanffarbenes Haar. Vor ihm auf dem Tisch stand eine gebratene Hammelkeule: Er gab Mrs. Bloomfield, den Kindern und mir davon und bat mich, das Fleisch für die Kinder kleinzuschneiden. Dann, nachdem er den Braten einmal rundherum gedreht und aus den verschiedensten Richtungen beäugt hatte, erklärte er ihn für nicht essbar und verlangte nach kaltem Fleisch.

»Was ist mit dem Braten, Lieber?«, fragte seine Gattin.

»Er hat zu lange geschmort. Mrs. Bloomfield, schmecken Sie nicht, dass alles Gute aus ihm herausgebraten worden ist? Und sehen Sie nicht, dass der ganze schöne, rote Saft völlig eingetrocknet ist?«

»Nun, ich glaube, das kalte Fleisch wird Ihnen schmecken.«

Das Fleisch wurde ihm vorgesetzt, und er begann, daran herumzuschneiden, nicht ohne sich mit Äußerungen höchsten Missfallens darüber zu beklagen.

»Was ist mit dem Fleisch, Mr. Bloomfield? Ich weiß, dass ich es sehr zart fand.«

»Es war auch sehr zart. Ein zarteres Stück könnte es wohl nicht geben, aber es ist verdorben«, antwortete er verdrossen.

»Wie das?«

»Wie das? Na, sehen Sie denn nicht, wie es geschnitten ist? Lieber Himmel, es ist wirklich furchtbar!«

»Sie müssen es in der Küche falsch zerlegt haben, denn ich bin ganz sicher, es hier gestern Nachmittag richtig geschnitten zu haben.«

»Natürlich haben sie es in der Küche falsch zerlegt – diese Barbaren! Du meine Güte! Hat man schon jemals erlebt, dass ein so gutes Stück Fleisch so ganz und gar verdorben werden kann? Aber merken Sie sich, wenn in Zukunft ein einwandfreies Gericht diesen Tisch verlässt, dann sollen die in der Küche es nicht anrühren. Merken Sie sich das, Mrs. Bloomfield!«

Trotz des angeblich ungenießbaren Zustands des Fleisches gelang es dem Gentleman, sich ein paar wohlschmeckende Scheiben davon abzuschneiden, von denen er einen Teil schweigend verzehrte. Als er wieder sprach, geschah dies in weniger mürrischem Ton, um zu fragen, was es zum Abendessen gebe.

»Truthahn und Moorhuhn«, war die knappe Antwort.

»Und was noch?«

»Fisch.«

»Was für Fisch?«

»Ich weiß nicht.«

»Sie wissen es nicht?«, rief er, während er gebieterisch von seinem Teller aufsah und Messer und Gabel vor Verblüffung ruhen ließ.

»Nein. Ich habe der Köchin befohlen, Fisch zu besorgen – ich habe nicht genau gesagt, was für eine Sorte.«

»Nun, das setzt allem die Krone auf! Da behauptet die Lady, den Haushalt zu führen, und weiß noch nicht einmal, was für Fisch es zum Abendessen gibt, behauptet, Fisch besorgen zu lassen, und sagt nicht, welche Sorte!«

»Vielleicht, Mr. Bloomfield, bestellen Sie in Zukunft Ihr Essen selbst.«

Danach wurde nichts mehr gesprochen, und ich war froh, mit meinen Schülern den Raum verlassen zu können, denn niemals zuvor in meinem Leben fühlte ich mich so beschämt und unbehaglich wegen etwas, an dem ich keine Schuld trug.

Am Nachmittag widmeten wir uns wieder dem Unterricht, gingen danach nochmals nach draußen, tranken im Schulzimmer Tee, und ich kleidete Mary Ann zum Nachtisch um. Als sie und ihr Bruder ins Esszimmer hinuntergegangen waren, ergriff ich die Gelegenheit und begann einen Brief an meine Lieben zu Hause, aber die Kinder kamen schon wieder herauf, noch ehe ich ihn zur Hälfte fertig hatte. Um sieben Uhr musste ich Mary Ann ins Bett bringen; danach spielte ich mit Tom, bis auch er um acht nach oben ging, beendete meinen Brief, packte meine Kleider aus, wozu ich bisher noch keine Zeit gefunden hatte, und ging endlich zu Bett.

Aber dies war noch ein eher angenehmes Beispiel dafür, wie hier ein typischer Tagesablauf aussah.

Statt dass die Arbeit des Unterrichtens und Beaufsichtigens leichter wurde, weil meine Schützlinge und ich uns besser aneinander gewöhnten, wurde sie immer schwieriger, je mehr sich deren wahre Eigenschaften offenbarten. Ich fand bald heraus, dass die Bezeichnung Erzieherin, auf mich angewendet, reiner Hohn war: Meine Schüler hatten nicht mehr Lust zu gehorchen als wilde, ungezähmte Fohlen. Die ständige Angst vor dem launischen Wesen ihres Vaters und die Furcht vor den Strafen, die er verhängte, wenn er zornig war, hielt sie in seiner Gegenwart in Schranken. Auch fürchteten die Mädchen etwas den Unwillen der Mutter, und der Junge konnte gelegentlich dazu gebracht werden zu tun, was sie verlangte, weil ihm eine Belohnung winkte: Ich aber hatte keine Belohnungen anzubieten, und was die Strafen anging, gab man mir zu verstehen, dass die Eltern dieses Vorrecht für sich beanspruchten. Und trotzdem erwarteten sie von mir, dass ich meine Schüler in Schach hielt. Wenn andere Kinder sich aus Angst vor Zorn oder dem Wunsch nach Bestätigung lenken ließen: Auf diese hier hatte weder das eine noch das andere die geringste Wirkung.

Master Tom, der sich nicht damit zufriedengab, jeden Befehl zu verweigern, musste sich unbedingt selbst als Befehlshaber aufspielen und zeigte seine Entschlossenheit, nicht nur seine Schwestern, sondern auch seine Erzieherin zu disziplinieren durch den kräftigen Gebrauch von Händen und Füßen; und da er für sein Alter ein großer, starker Junge war, war das äußerst unangenehm. Ein paar richtige Ohrfeigen hätten bei diesen Gelegenheiten das Problem sicher schnell gelöst; aber da er in diesem Falle seiner Mutter sicher eine erfundene Geschichte aufgetischt und sie ihm diese auch bestimmt geglaubt hätte – denn ihr Glaube an seine Aufrichtigkeit war unerschütterlich; ich dagegen hatte schon festgestellt, dass sie gar nicht so unanfechtbar war –, beschloss ich, ihn nicht zu schlagen, selbst nicht zu meiner eigenen Verteidigung. Wenn er besonders gewalttätig gelaunt war, war es meine einzige Rettung, ihn auf den Rücken zu werfen und seine Hände und Füße festzuhalten, bis sich seine Tobsucht etwas gelegt hatte. Zu der Schwierigkeit, ihn von Dingen abzuhalten, die er nicht tun sollte, kam das Problem, ihn zu dem zu zwingen, was er tun sollte. Oft lehnte er es rundweg ab zu lernen, seine Lektionen zu wiederholen oder auch nur in sein Buch zu schauen. Auch dann wäre eine Birkenrute sicher nützlich gewesen, aber da meine Macht so begrenzt war, musste ich das Beste aus dem machen, was mir zur Verfügung stand.

Da es keine festen Stunden für Unterricht und Spiel gab, beschloss ich, meinen Schülern eine bestimmte Aufgabe zu erteilen, die sie auch mit geringer Aufmerksamkeit in kurzer Zeit erledigen konnten: und bis das geschafft war, ganz gleich wie erschöpft ich oder wie widerspenstig sie waren, sollte mich nichts außer elterlicher Einmischung dazu bringen, ihnen zu erlauben, das Schulzimmer zu verlassen, und wenn ich mit dem Rücken zur Tür auf einem Stuhl sitzen musste, um das zu verhindern. Geduld, Festigkeit und Ausdauer waren meine einzigen Waffen, und ich war entschlossen, sie bis zum Äußersten zu gebrauchen. Ich nahm mir vor, Drohungen und Versprechen strikt einzuhalten; daher musste ich vorsichtig sein und nichts androhen oder versprechen, was ich nicht einlösen konnte. Dann wollte ich darauf achten, mir jede nutzlose Reizbarkeit und Übellaunigkeit zu versagen: Wenn sie sich annehmbar aufführten, würde ich ihnen so freundlich entgegenkommen, wie ich konnte, um ihnen den Unterschied zwischen gutem und schlechtem Betragen aufs Deutlichste klarzumachen; auch wollte ich mit ihnen Dinge auf einfache, aber wirksame Weise erörtern. Würde ich sie tadeln oder mich weigern, nach einem eklatanten Fehler ihre Wünsche zu erfüllen, sollte das mehr aus Sorge als aus Zorn geschehen; ihre kleinen Lieder und Gebete wollte ich für ihre Begriffe klar und verständlich machen; wenn sie ihr Nachtgebet sprachen und um Vergebung für ihre Schuld baten, würde ich sie an die Sünden des vergangenen Tages erinnern, zwar ernst, aber voller Güte, um keinen Widerspruchsgeist zu wecken; die Ungezogenen sollten Bußlieder anstimmen, die vergleichsweise Braven Jubelgesänge, und jede Art von Belehrung würde ich ihnen so weit wie möglich im unterhaltsamen Gespräch vermitteln, so als hätte ich im Moment nur ihr Vergnügen im Auge.

Durch diese Mittel hoffte ich, mit der Zeit sowohl den Kindern zu nützen als auch die Billigung der Eltern zu erlangen und außerdem meine Lieben zu Hause zu überzeugen, dass es mir nicht so an Geschick und Klugheit mangelte, wie sie dachten. Ich wusste, dass die Schwierigkeiten, mit denen ich zu kämpfen hatte, groß waren, aber ich wusste auch – ich glaubte es zumindest –, dass sie mit unerschütterlicher Geduld und Ausdauer zu überwinden waren, und für dieses Ziel erbat ich abends und morgens göttlichen Beistand. Aber entweder waren die Kinder so unverbesserlich, die Eltern so unvernünftig oder ich verschätzte mich mit meinen Plänen oder war nicht fähig, sie zu verwirklichen: Meine besten Absichten und größten Bemühungen waren anscheinend nur dazu angetan, bei den Kindern Belustigung, bei den Eltern Unzufriedenheit und bei mir Qualen hervorzurufen.

Der Unterricht war für Körper und Geist gleichermaßen anstrengend. Ich musste hinter meinen Schülern herlaufen und sie einfangen, sie zum Tisch tragen oder zerren und sie dort oft mit Gewalt festhalten, bis eine Aufgabe erfüllt war. Häufig stellte ich Tom in eine Ecke und setzte mich auf einen Stuhl vor ihn, in der Hand das Buch mit dem Absatz, den er aufsagen oder lesen sollte, ehe ich ihn wieder freiließ. Da er nicht stark genug war, mich und den Stuhl beiseitezuschieben, stand er da und verzerrte Körper und Gesicht in den phantastischsten und seltsamsten Verdrehungen – die für einen unbeteiligten Zuschauer sicher komisch gewesen wären, aber nicht für mich – und gab lautes Geheul und empörte Schreie von sich, die Weinen vortäuschen sollten, aber von keiner einzigen Träne begleitet wurden. Ich wusste, dass er das nur tat, um mich zu reizen, und bemühte mich deshalb, sosehr ich im Innern vor Ungeduld und Ärger auch zitterte, alle äußeren Anzeichen von Unmut tapfer zu unterdrücken, und gab vor, vollkommen ruhig und gleichgültig dazusitzen und abzuwarten, bis es ihm gefiel, seinen Spaß zu beenden und seine Bereitschaft zu einem Lauf durch den Garten zu signalisieren, indem er seinen Blick aufs Buch richtete und die wenigen Worte las oder wiederholte, die von ihm verlangt wurden. Manchmal hatte er sich vorgenommen, seine Schreibaufgabe besonders schlecht zu machen, und ich musste seine Hand festhalten, um ihn daran zu hindern, die Blätter absichtlich zu beklecksen oder zu verderben. Ich drohte ihm häufig, er müsse noch eine zusätzliche Zeile schreiben, wenn er sich nicht bessere; daraufhin lehnte er es störrisch ab, auch nur diese eine Zeile zu schreiben, und um Wort zu halten, musste ich schließlich zu dem Mittel greifen, seine Finger um den Federhalter zu pressen und seine Hand mit Gewalt auf und ab zu führen, bis die Zeile trotz seines Widerstands beendet war.

Aber Tom war keinesfalls der schwierigste meiner Schüler; zu meiner großen Freude hatte er ab und zu so viel Verstand einzusehen, dass es die beste Taktik war, seine Aufgaben zu erledigen, nach draußen zu gehen und sich zu vergnügen, bis ich und seine Schwestern ihm folgten, wozu es oft überhaupt nicht kam, weil Mary Ann in dieser Hinsicht nicht sein Beispiel nachahmte: Sich auf dem Boden herumzuwälzen, zog sie jedem anderen Zeitvertreib vor. Wie ein bleiernes Gewicht ließ sie sich fallen, und wenn es mir mit vieler Mühe gelungen war, sie hochzuziehen, musste ich sie immer noch mit einem Arm aufrecht halten, während ich mit der anderen Hand das Buch hielt, aus dem sie ihre Lektion lesen oder buchstabieren sollte. Wenn das ganze Gewicht des großen sechsjährigen Mädchens für den einen Arm zu schwer wurde, hielt ich sie mit dem anderen, oder, wenn beide von der Last lahm waren, schleppte ich sie in eine Ecke und sagte ihr, sie dürfe aufstehen und herauskommen, wenn ihr klar geworden wäre, wozu Füße zu gebrauchen seien; aber im Allgemeinen blieb sie lieber bis zum Mittagessen oder Tee wie ein Hund dort liegen, um dann – ich konnte ihr ja nicht die Mahlzeiten vorenthalten und musste sie gehen lassen – mit einem triumphierenden Grinsen auf ihrem runden, roten Gesicht hervorzukriechen. Oft weigerte sie sich hartnäckig, ein bestimmtes Wort ihrer Lektion auszusprechen; und heute tut es mir leid um die vergebliche Mühe, die mich der Versuch gekostet hat, ihren Starrsinn zu brechen. Wenn ich alles als nebensächlich behandelt und übergangen hätte, anstatt, wie ich es tat, umsonst zu versuchen, die Schwierigkeiten zu überwinden, wäre es für beide Seiten besser gewesen. Aber ich hielt es für meine unbedingte Pflicht, diese schlechte Veranlagung im Keim zu ersticken, und das war es ja auch, wenn ich es nur vermocht hätte; und wären meine Befugnisse nicht so begrenzt gewesen, hätte ich sicher Gehorsam erzwingen können, aber wie die Dinge lagen, war es ein einziger Machtkampf zwischen ihr und mir, aus dem sie im Allgemeinen siegreich hervorging, und jeder Sieg trug dazu bei, sie für den nächsten Zwist zu ermutigen und zu stärken. Vergebens argumentierte, schmeichelte, flehte, drohte, schimpfte ich; vergebens hielt ich sie im Haus und vom Spiel fern oder lehnte es ab, wenn ich dazu gezwungen war, sie mit nach draußen zu nehmen, mit ihr zu spielen, freundlich mit ihr zu sprechen oder überhaupt etwas mit ihr anzufangen; vergebens versuchte ich, ihr die Vorteile vor Augen zu führen, die es für sie hätte, wenn sie gehorchte und dafür geliebt und gut behandelt würde, und die Nachteile, wenn sie auf ihrem dummen Eigensinn bestünde. Wenn sie mich manchmal bat, das eine oder andere für sie zu tun, antwortete ich:

»Ja gern, Mary Ann, wenn du nur erst das Wort sagst. Komm, am besten sagst du es gleich und hast keinen Ärger mehr damit.«

»Nein.«

»Dann kann ich natürlich auch nichts für dich tun.«

Als ich so alt war wie sie oder noch jünger, war es die schlimmste aller Strafen für mich, wenn man sich nicht um mich kümmerte und mir die Zuneigung entzog, aber auf sie machte derlei keinen Eindruck. Manchmal, wenn ich mich bis zum Äußersten verausgabt hatte, schüttelte ich sie heftig bei den Schultern, zog an ihrem langen Haar oder stellte sie in die Ecke, wofür sie mich mit lautem, schrillem Geschrei bestrafte, das wie ein Messer in meinen Kopf stach. Sie wusste, dass ich das hasste, und wenn sie aus Leibeskräften geschrien hatte, sah sie mich mit rachsüchtiger Genugtuung an und rief: »Na, sehen Sie, das ist für Sie!« Und dann schrie sie immer wieder, bis ich mir die Ohren zuhalten musste. Dieses fürchterliche Gekreische veranlasste Mrs. Bloomfield häufig, heraufzukommen und zu fragen, was denn los sei.

»Mary Ann ist ein ungezogenes Mädchen, Madam.«

»Aber weshalb dieses schreckliche Geschrei?«

»Sie schreit aus Zorn.«

»Noch nie habe ich ein so fürchterliches Gebrüll gehört! Sie werden sie noch umbringen. Warum ist sie nicht mit ihrem Bruder draußen?«

»Ich kann sie nicht dazu bringen, ihre Aufgaben zu beenden.«

»Aber Mary Ann muss doch ein braves Mädchen sein und ihre Aufgaben machen.« Dies sagte sie in sanftem Ton zu dem Kind. »Und ich werde hoffentlich nie mehr ein derart schreckliches Geschrei hören!«

Und dann heftete sie ihre kalten, starren Augen mit einem unmissverständlichen Blick auf mich, schloss die Tür und ging wieder.

Ab und zu versuchte ich, das kleine störrische Wesen zu überrumpeln, und fragte beiläufig nach dem Wort, während sie an etwas anderes dachte, und häufig fing sie auch wirklich an, es auszusprechen, um dann plötzlich mit einem herausfordernden Blick innezuhalten, der zu besagen schien: »Pah! Für Sie bin ich doch etwas zu schlau, und Sie kriegen es auch mit List nicht aus mir heraus.«

Bei einer anderen Gelegenheit gab ich vor, das Ganze zu vergessen, und redete und spielte mit ihr wie immer bis zum Abend, als ich sie zu Bett brachte. Während sie zufrieden lächelnd und gut gelaunt dalag, beugte ich mich, bevor ich ging, über sie und sagte so heiter und freundlich wie zuvor:

»Komm, Mary Ann, sag das Wort, und dann gebe ich dir deinen Gutenachtkuss; du bist jetzt ein braves Mädchen und willst es bestimmt sagen.«

»Nein, ich will nicht.«

»Dann kann ich dir auch keinen Kuss geben.«

»Das macht mir nichts aus.«

Umsonst brachte ich meinen Kummer zum Ausdruck; umsonst wartete ich auf ein Zeichen von Reue. Es machte ihr wirklich nichts aus, und ich ließ sie im Dunkel allein, während mich dieser letzte Beweis gefühlloser Halsstarrigkeit am allermeisten beschäftigte. Ich konnte mir keine schmerzlichere Strafe in meiner Kindheit vorstellen, als wenn meine Mutter mir den Gutenachtkuss verweigert hätte; allein der Gedanke war schon schrecklich. Und mehr als den Gedanken daran hatte ich nie kennengelernt, denn zum Glück hatte ich nie einen Fehler begangen, der einer solchen Strafe für wert erachtet worden wäre; aber ich erinnere mich, dass meine Mutter es einmal für angebracht gehalten hatte, wegen eines Vergehens meiner Schwester diese Strafe über sie zu verhängen: Was sie fühlte, weiß ich nicht; aber meine Tränen des Mitgefühls mit ihr werde ich nicht so bald vergessen.

Ein anderer störender Zug an Mary Ann war ihr nicht zu bändigender Hang, ins Kinderzimmer zu laufen und mit ihren kleinen Schwestern und dem Kindermädchen zu spielen. Das war ganz normal, aber da es gegen den ausdrücklichen Wunsch ihrer Mutter geschah, verbot ich es ihr natürlich und tat mein Möglichstes, sie bei mir zu halten. Aber das erhöhte nur ihre Freude am Besuch des Kinderzimmers, und je mehr ich mich bemühte, sie von dort fernzuhalten, umso öfter ging sie hin, umso länger blieb sie: zum großen Missfallen von Mrs. Bloomfield, die, wie ich wohl wusste, mir die Hauptschuld daran anlasten würde. Eine weitere Plage war das morgendliche Ankleiden: Einmal wollte sie sich nicht waschen lassen, ein andermal nicht anziehen, wenn sie nicht ein ganz bestimmtes Kleid tragen durfte, von dem ich aber wusste, dass ihre Mutter nicht wollte, dass ich es ihr gab; ein drittes Mal schrie sie und lief weg, wenn ich versuchte, ihre Haare auch nur anzurühren. Wenn ich es schließlich mit viel Mühe und Anstrengung geschafft hatte, sie hinunterzubringen, war das Frühstück oft schon halb vorüber, und finstere Blicke von »Mama« und gereizte Bemerkungen von »Papa« in meine Richtung, wenn nicht direkt an mich gerichtet, waren gewiss mein Lohn; denn nur wenig ärgerte Letzteren so sehr wie der Mangel an Pünktlichkeit bei den Mahlzeiten. Zu den kleineren Ärgernissen zählte schließlich mein Unvermögen, Mrs. Bloomfield hinsichtlich der Kleidung ihrer Tochter zufriedenzustellen; und das Haar des Kindes »konnte man einfach nicht ansehen«. Manchmal, und darin lag ein ausdrücklicher Vorwurf gegen mich, übernahm sie höchstpersönlich das Amt der Ankleidefrau, wobei sie sich bitterlich über die Mühe beklagte, die sie das kostete.

Als die kleine Fanny mit ins Schulzimmer kam, hoffte ich, dass wenigstens sie lieb und harmlos wäre, aber ein paar Tage, ja, ein paar Stunden genügten, um meine Illusion zu zerstören: Ich merkte, dass sie ein boshaftes, unlenksames kleines Geschöpf war, das bereits in diesem zarten Alter mit Lüge und Betrug vertraut und darauf versessen war, ihre beiden Lieblingswaffen Angriff und Verteidigung einzusetzen, nämlich denjenigen ins Gesicht zu spucken, die sich ihren Unwillen zuzogen, und wie ein Stier zu brüllen, wenn ihre unsinnigen Wünsche nicht erfüllt wurden. Da sie sich normalerweise in Gegenwart ihrer Eltern ganz ruhig verhielt und diese den Eindruck hatten, sie wäre ein ausgesprochen braves Kind, glaubten sie ihrer Scheinheiligkeit bereitwillig, und ihr lautes Gebrüll weckte in ihnen den Verdacht, dass ich sie grob und ungerecht behandelte. Wenn dann schließlich selbst die Eltern in ihrer Voreingenommenheit auf den schlechten Charakter des Kindes aufmerksam wurden, spürte ich, dass sie alles mir zuschrieben.

»Was für ein ungezogenes Mädchen Fanny wird!«, pflegte Mrs. Bloomfield dann zu ihrem Gatten zu sagen. »Sehen Sie nicht, mein Lieber, wie sie sich verändert hat, seit sie das Schulzimmer besucht? Sie wird demnächst genauso schlimm sein wie die beiden anderen, und ich muss leider feststellen, dass sie in letzter Zeit noch ärger geworden sind.«

»Das kann man wohl sagen«, war die Antwort. »Dasselbe habe ich auch schon gedacht. Ich habe geglaubt, wenn wir eine Erzieherin für sie einstellen, würden sie sich bessern; stattdessen wird es immer schlimmer mit ihnen. Ich weiß nicht, wie es mit dem Lernen steht, ihr Verhalten hat sich jedenfalls in keiner Weise gebessert: Sie werden jeden Tag garstiger, schmutziger und ungehöriger.«

Es war mir klar, dass dies alles auf mich gemünzt war, und diese und ähnliche Anspielungen berührten mich weit stärker, als es offene Anschuldigungen getan hätten; denn Letztere hätten mich dazu angestachelt, mich zu verteidigen. So aber hielt ich es für am klügsten, jedes ärgerliche Aufbegehren, jeden Rückzug aus Empfindlichkeit zu vermeiden und beharrlich damit fortzufahren, mein Bestes zu geben. Denn so schwer meine Stellung auch war, ich wollte sie doch auf keinen Fall verlieren. Wenn ich nur mit unerschütterlicher Festigkeit und Rechtschaffenheit weiterkämpfte, so glaubte ich, würden die Kinder mit der Zeit etwas menschlicher. Jeder Monat würde dazu beitragen, sie ein bisschen klüger und folglich fügsamer zu machen; denn ein Kind, das noch mit neun oder zehn Jahren so wild und unbeherrscht wäre wie diese hier mit sechs oder sieben, wäre ganz einfach wahnsinnig.

Ich gefiel mir in dem Gedanken, dass es meinen Eltern und meiner Schwester zugutekam, wenn ich hier Ausdauer bewies, denn wenn mein Lohn auch gering war, so verdiente ich doch immerhin etwas und würde es mit äußerster Sparsamkeit leicht einrichten können, eine kleine Summe für sie zurückzulegen, falls sie mir die Gunst erwiesen, es anzunehmen. Es war schließlich mein eigener Wille, dass ich die Stellung angenommen hatte; ich selbst hatte all diese Misslichkeiten herbeigeführt, und ich war entschlossen, sie zu ertragen, ja, mehr als das, ich bereute noch nicht einmal den Schritt, den ich unternommen hatte. Jetzt sehnte ich mich erst recht danach, meiner Familie zu beweisen, dass ich tüchtig genug war, die Aufgabe zu meistern und sie bis zum Ende redlich zu erfüllen. Und wann immer ich es als erniedrigend empfand, mich stillschweigend zu fügen, oder unerträglich, mich ständig abzuplagen, richtete ich meine Gedanken auf die Heimat und sprach in meinem Innern:

»Sie können mich unterdrücken, doch sie werden mich nicht besiegen!

Ihr seid’s, an die ich denke, nicht an sie.«

Über Weihnachten durfte ich nach Hause, aber mein Urlaub dauerte nur zwei Wochen. »Denn«, sprach Mrs. Bloomfield, »ich dachte, weil Sie Ihre Lieben erst noch vor so kurzer Zeit gesehen haben, würden Sie gar keinen Wert darauf legen, länger zu bleiben.« Ich überließ es ihr, auch weiter so zu denken, aber sie wusste wohl kaum, wie lang, wie mühselig für mich diese vierzehn Wochen Abwesenheit gewesen waren, wie glühend ich meine Ferien herbeigesehnt hatte und wie tief enttäuscht ich über ihre kurze Dauer war. Aber das war nicht ihre Schuld; ich hatte niemals mit ihr über meine Gefühle gesprochen, und man konnte nicht von ihr erwarten, dass sie sie erriet. Ich war noch kein ganzes Quartal bei ihr, und sie war im Recht, mir keinen vollen Urlaub zu gewähren.

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