Читать книгу Die großen Romane der Schwestern Brontë - Anne Bronte, Anne Brontë, The Bronte Sisters - Страница 14

Kapitel 7

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Horton Lodge

Der 31. Januar war ein rauer, stürmischer Tag. Es wehte ein strenger Nordwind, der ständig Schneewehen am Boden entlangfegte und durch die Luft wirbelte. Meine Lieben wollten mich dazu bringen, die Abreise zu verschieben, aber da ich fürchtete, durch einen solchen Mangel an Pünktlichkeit gleich beim Antritt meiner neuen Stelle meine Arbeitgeber gegen mich einzunehmen, bestand ich darauf, den festgesetzten Termin einzuhalten.

Ich erspare meinen Lesern die Schilderung meiner Abreise an jenem dunklen Wintermorgen: das herzliche Abschiednehmen, die lange, lange Fahrt nach O––, das einsame Warten auf Kutschen oder Züge in den Gasthäusern – denn es gab damals schon ein paar Eisenbahnen –, und schließlich in O–– das Treffen mit Mr. Murrays Diener, der mit dem Zweispänner geschickt worden war, um mich nach Horton Lodge zu bringen. Ich will nur festhalten, dass der starke Schneefall Pferde und Lokomotive beim Vorankommen so behinderte, dass es bereits mehrere Stunden dunkel war, als ich das Ziel meiner Reise erreichte, und zum Schluss noch ein heftiger Sturm aufkam, der die wenigen Meilen von O—— nach Horton Lodge zu einer äußerst beschwerlichen Fahrt machte. Ich saß ergeben da, während der kalte, beißende Schnee durch meinen Schleier drang und sich in meinem Schoß häufte, sah nichts und fragte mich, wie das arme Pferd und der arme Kutscher überhaupt vorwärtskamen; und es war in der Tat nur eine mühsame, schleppende Art der Fortbewegung, wenn man es überhaupt so bezeichnen konnte. Endlich hielten wir; auf den Zuruf des Kutschers hin vernahm man das Öffnen von Toren, die sich quietschend in ihren Angeln bewegten, die Parktore, wie ich annahm. Darauf folgten wir einem ebenen Weg, von dem aus man ab und zu riesige, weißlich-graue, aus dem Dunkeln leuchtende Umrisse wahrnahm, die ich für das Geäst schneebedeckter Bäume hielt. Nach längerer Fahrt hielten wir erneut und standen vor dem Säulengang eines großen Hauses mit hohen, bis auf den Boden reichenden Fenstern.

Mit einiger Schwierigkeit kroch ich aus der Kutsche, in der Erwartung, dass mich ein warmer, gastfreundlicher Empfang für Mühen und Plagen des Tages entschädigen würde. Ein vornehmer, schwarzgekleideter Herr öffnete die Tür und ließ mich in eine weitläufige Halle eintreten, die von einer bernsteinfarbenen Hängelampe erleuchtet wurde. Er führte mich hindurch, einen Gang entlang, öffnete die Tür zu einem nach hinten gelegenen Zimmer und erklärte, dies sei der Schulraum. Ich trat ein und sah mich zwei jungen Damen und zwei jungen Herren gegenüber, meinen zukünftigen Schülern vermutlich. Nach einer förmlichen Begrüßung fragte mich das ältere der beiden Mädchen, das müßig über einem Stück Leinen und einem Korb Stickgarn saß, ob ich hinaufgehen wolle. Ich sagte natürlich ja.

»Matilda, nimm eine Kerze und zeig ihr ihr Zimmer«, sagte sie.

Miss Matilda, ein dralles, etwa vierzehnjähriges Ding in kurzem Kittel und Hosen, zuckte mit den Schultern und verzog das Gesicht, nahm jedoch eine Kerze und ging vor mir her, erst die Hintertreppe hinauf, eine lange, dunkle doppelstiegige Flucht, dann einen endlosen, engen Gang entlang bis zu einem kleinen, aber einigermaßen behaglichen Raum. Dann fragte sie mich, ob ich Tee oder Kaffee wolle. Ich war schon im Begriff, nein zu sagen, als mir einfiel, dass ich seit heute Morgen um sieben nichts mehr zu mir genommen hatte und mich dementsprechend schwach fühlte, und ich bat um eine Tasse Tee. Die junge Dame sagte, sie werde »Brown« Bescheid sagen, und ließ mich allein; als ich gerade meinen schweren, nassen Mantel, Schal, Haube usw. abgelegt hatte, erschien ein zierliches junges Fräulein und wollte im Auftrag der jungen Damen wissen, ob ich den Tee hier oben oder im Schulzimmer nehmen wolle. Unter dem Vorwand, müde zu sein, bat ich, ihn hierherauf zu bringen. Sie ging und kehrte nach einer Weile mit einem kleinen Tablett zurück, das sie auf die Kommode stellte, die als Toilettentisch diente. Nachdem ich mich höflich bei ihr bedankt hatte, fragte ich sie, wann ich morgens aufzustehen hätte.

»Die jungen Damen und Herren frühstücken um halb neun, Madam«, sagte sie. »Sie stehen früh auf, aber weil sie vor dem Frühstück selten Unterricht haben, genügt es wohl, wenn Sie um kurz nach sieben aufstehen.«

Ich bat sie, mich doch freundlicherweise um sieben zu wecken, und mit dem Versprechen, das zu tun, zog sie sich zurück. Nachdem ich meinen langen Fastentag mit einer Tasse Tee und einer dünnen Scheibe Butterbrot beendet hatte, setzte ich mich an das schwach glimmende Feuer, gönnte mir aus tiefstem Herzen ein paar Tränen und sprach meine Gebete, um mich dann zusehends erleichtert für die Nacht zurechtzumachen. Da ich feststellte, dass man mein Gepäck noch nicht heraufgebracht hatte, machte ich mich auf die Suche nach der Klingel. Ich konnte jedoch nirgends im Zimmer ein Anzeichen für diese angenehme Einrichtung entdecken, nahm also meine Kerze und begab mich wagemutig den langen Flur entlang und die steile Treppe hinunter auf Entdeckungsreise. Dabei traf ich auf eine gutgekleidete Frau und sagte ihr, was ich wollte, allerdings erst nach einigem Zögern, da ich nicht sicher war, ob sie zum höhergestellten Dienstpersonal gehörte oder Mrs. Murray selbst war: Aber es handelte sich zum Glück um die Kammerzofe. Mit einer Miene, als würde sie mir eine ganz außergewöhnliche Gnade erweisen, sagte sie mir herablassend zu, dafür zu sorgen, dass meine Sachen heraufgeschickt würden, und nachdem ich in mein Zimmer zurückgekehrt war und lange gespannt gewartet hatte – ich fürchtete, sie hätte ihr Versprechen vergessen oder einfach nicht eingehalten, und überlegte, ob ich noch länger warten, mich zu Bett begeben oder nochmals nach unten gehen sollte –, schöpfte ich beim Klang von Stimmen und Gelächter, begleitet von Füßetrampeln im Gang, wieder Hoffnung, und prompt wurde mein Gepäck von einem derb aussehenden Mädchen und einem Mann hereingebracht, die sich beide mir gegenüber nicht gerade respektvoll benahmen. Während sich ihre Schritte entfernten, schloss ich die Tür, packte ein paar Sachen aus und ging erleichtert zu Bett, denn mein Körper und mein Geist waren gleichermaßen müde.

Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem eigenartigen Gefühl der Einsamkeit, empfand zugleich deutlich das Neue meiner Situation und eine Art freudloser Neugier auf alles, was mir noch fremd war. Ich fühlte mich wie jemand, der durch einen Zauber hoch in die Luft gewirbelt wird und plötzlich aus den Wolken fällt und sich in einem unbekannten Land wiederfindet, ganz und gar abgeschnitten von allem, was er bisher gesehen und gekannt hat. Oder wie ein Distelsamen, den der Wind in einen abgelegenen Winkel mit ungünstigem Boden trägt, wo er lange genug liegen muss, bis er keimen und Wurzel schlagen kann und sich von dem ernährt, was seiner Natur eigentlich fremd ist: falls er es überhaupt jemals kann. Aber das gibt meine Gefühle nur unvollkommen wieder, und nur jemand, der ein ebenso zurückgezogenes, sesshaftes Leben geführt hat wie ich, kann sie möglicherweise nachempfinden; und auch nur dann, wenn er weiß, was es heißt, eines Morgens aufzuwachen und sich in Port Nelson in Neuseeland wiederzufinden, durch Wassermassen von allen vertrauten Menschen abgeschnitten.

Das eigenartige Gefühl, mit dem ich meine Jalousie hochzog und in die unbekannte Welt sah, werde ich nicht so bald vergessen. Eine riesige, weiße Wildnis war alles, was ich erblickte:

Eine weite, weiße Wüste

Und schneebeladne Bäume.

Ohne besondere Ungeduld ging ich ins Schulzimmer hinunter, um meine Schüler zu treffen, aber ich war schon etwas neugierig, was die nähere Bekanntschaft offenbaren würde. Eines hatte ich mir, neben anderen wichtigen Dingen, vorgenommen, nämlich, sie von Anfang an mit Miss und Master anzureden. Mir erschien das zwar als ein unnatürlicher Ausdruck kalter Förmlichkeit im Umgang von Kindern mit ihrer Lehrerin und täglichen Gefährtin, vor allem wenn sie noch so klein waren wie in Wellwood House; doch selbst dort hatte man es als ungebührliche Freiheit meinerseits angesehen, wenn ich die kleinen Bloomfields einfach beim Vornamen genannt hatte, was mir ihre Eltern deutlich zu verstehen gaben, indem sie sie immer, wenn sie mit mir sprachen, als Master und Miss Bloomfield bezeichneten. Ich hatte lange gebraucht, den Hinweis zu verstehen, weil mich das Ganze so absurd dünkte, aber diesmal war ich entschlossen, klüger zu sein und von vornherein mit so viel Förmlichkeit und gestelzten Manieren daherzukommen, wie sie nur irgendein Familienmitglied von mir erwartete; schließlich waren die Kinder ja auch um einiges älter, und es würde mir leichterfallen; und doch hatten die kleinen Wörter Miss und Master die verblüffende Wirkung, jede freundschaftliche, offene Vertrautheit zu unterdrücken und jeden Hauch von Herzlichkeit im Keim zu ersticken, die möglicherweise zwischen uns hätte entstehen können.

Da ich es nicht, wie Dogberry, übers Herz bringe, dem Leser meine ganze Weitschweifigkeit zuzumuten, will ich ihn nicht weiter mit allen Einzelheiten der Entdeckungen und Vorgänge an diesem und dem nächsten Tag langweilen. Er wird sich zweifellos mit der flüchtigen Beschreibung der verschiedenen Familienmitglieder und einem allgemeinen Überblick über die ersten beiden Jahre meines Lebens in ihrer Mitte vollauf zufriedengeben.

Um mit dem Familienoberhaupt zu beginnen: Mr. Murray war in erster Linie ein polternder, lärmender Landedelmann, widmete sich der Fuchsjagd, war ein geschickter Reiter und Hufschmied, ein rühriger, kräftig zupackender Landwirt und ein überzeugter Bonvivant. In erster Linie, sage ich, denn ich sah ihn eigentlich nur sonntags beim Kirchgang. Oder ich stieß zufällig beim Durchqueren der Halle oder beim Spazierengehen im Park auf die Gestalt eines großen, kräftigen Mannes mit scharlachroten Backen und karminroter Nase, der mir bei diesen Gelegenheiten, falls ich in Hörweite war, ein »Morgen, Miss Grey« oder einen ähnlich knappen Gruß gönnte, gemeinhin von einem formlosen Kopfnicken begleitet. Häufig jedoch erscholl von weit her sein lautes Lachen, und noch öfter hörte ich, wie er fluchte und den Diener, den Stallknecht, den Kutscher oder einen anderen unglücklichen Bediensteten beschimpfte.

Mrs. Murray war eine hübsche, elegante Dame von vierzig Jahren, die zweifellos weder Schminke noch Wattierungen brauchte, um ihre Reize zu erhöhen, und deren größtes Vergnügen es anscheinend war, Gesellschaften zu geben oder Feste zu besuchen und sich nach der allerletzten Mode zu kleiden. Ich sah sie erst um elf Uhr am Morgen nach meiner Ankunft, als sie mich mit einem Besuch beehrte, so wie meine Mutter in die Küche gegangen wäre, um ein neues Dienstmädchen zu begrüßen: Nein, noch nicht einmal so, denn meine Mutter hätte sie gleich nach ihrer Ankunft willkommen geheißen und nicht damit bis zum nächsten Tag gewartet; außerdem hätte sie gütiger und freundlicher mit ihr gesprochen, ihr ein paar tröstliche Worte gesagt und schlicht und einfach ihre Pflichten erklärt. Mrs. Murray tat nichts dergleichen. Auf dem Rückweg vom Zimmer der Wirtschafterin, mit der sie das Mittagessen besprochen hatte, kam sie ins Schulzimmer gerauscht, wünschte mir einen guten Morgen, stand zwei Minuten lang am Kamin, sagte ein paar Worte über das Wetter und die »doch recht unschöne« Fahrt, die ich gestern gehabt haben müsse, tätschelte ihr jüngstes Kind, einen zehnjährigen Knaben, der sich gerade Mund und Hände an ihrem Kleid abwischte, nachdem er etwas Wohlschmeckendes aus dem Vorrat der Wirtschafterin genascht hatte, erzählte mir, was für ein süßer, braver Junge er sei, und segelte mit einem selbstgefälligen Lächeln auf dem Gesicht davon, zweifellos in dem Glauben, für den Moment genug getan und sich obendrein noch äußerst leutselig gezeigt zu haben. Die Kinder waren offenbar der gleichen Ansicht, nur ich sah es anders.

Danach schaute sie ein- oder zweimal während der Abwesenheit meiner Schüler bei mir herein, um mich über meine Pflichten ihnen gegenüber zu belehren. Was die Mädchen anging, so legte sie anscheinend nur Wert darauf, deren äußere Erscheinung so attraktiv und auffallend ins Licht zu setzen, wie dies möglich war, ohne sie direkt zu behelligen oder ihnen lästig zu fallen, und dementsprechend sollte ich mich verhalten: danach trachten, sie zu unterhalten und gefällig zu sein, belehren, verfeinern und Unebenheiten abschleifen, das alles, ohne Strenge und Autorität anzuwenden und mit möglichst geringem Einsatz von ihrer Seite. Mit den beiden Jungen war es fast das Gleiche; nur war es hier nicht meine Aufgabe, auf äußerliche Vollkommenheit zu achten, sondern ihren Schädeln so viel an lateinischer Grammatik und aus Valpys Delectus einzutrichtern, um sie für die Schule vorzubereiten, die größtmögliche Menge, ohne dass sie sich selbst anstrengen mussten. John war vielleicht »ein bisschen überheblich« und Charles vielleicht »ein bisschen nervös und umständlich« –

»Aber, Miss Grey«, sagte sie, »ich hoffe, dass Sie auf alle Fälle die Ruhe bewahren und immer sanft bleiben und Geduld haben. Vor allem mit dem kleinen Charles; er ist äußerst nervös und verletzlich und ausschließlich daran gewöhnt, dass man sehr empfindsam mit ihm umgeht. Sie müssen entschuldigen, dass ich das extra erwähne, aber tatsächlich ist es so, dass sich alle, auch die besten Gouvernanten, in diesem speziellen Punkt als untauglich erwiesen haben. Es fehlte ihnen das bescheidene, ruhige Gemüt, das schon Matthäus oder ein anderer Apostel höher einstuft, als sich äußerlich zu schmücken – Sie kennen bestimmt die Stelle, die ich meine, schließlich sind Sie ja die Tochter eines Geistlichen. Aber ich zweifle nicht daran, dass Sie uns in dieser wie jeder anderen Hinsicht zufriedenstellen. Und denken Sie daran, dass immer, wenn eines der Kinder etwas Ungehöriges tut und Zureden und Ermahnungen nicht helfen, eines der anderen Kinder zu mir kommt und alles erzählt; denn ich kann doch deutlicher mit ihnen reden, als es Ihnen zukäme. Machen Sie sie so glücklich, wie Sie können, Miss Grey, und Sie werden bestimmt Erfolg haben.«

Es fiel mir auf, dass Mrs. Murray zwar äußerst besorgt um das Wohlergehen und das Glück ihrer Kinder war und ständig darüber redete, jedoch niemals von meinem Befinden sprach; dabei lebten sie doch zu Hause, von Freunden umgeben, und ich als Fremde unter Fremden. Und da ich die Welt noch nicht gut genug kannte, war ich höchst erstaunt über dieses ungewöhnliche Verhalten.

Miss Murray, oder auch Rosalie, war bei meiner Ankunft ungefähr sechzehn und unzweifelhaft ein sehr hübsches Mädchen; und im Verlauf von zwei Jahren, nachdem sie sich voller entwickelt hatte und ihre Körperhaltung anmutiger geworden war, konnte man von ihr über den herkömmlichen Begriff hinaus als von einer richtigen Schönheit sprechen. Sie war groß und schlank, aber nicht dünn und von makelloser Gestalt; ihre Haut war sehr hell, aber von einer strahlenden, rosigen Frische; ihr Haar, das sie in einer Fülle langer Locken trug, war von einem sehr hellen Braun, fast gelb; ihre Augen waren blassblau, aber so klar und leuchtend, dass sie gar nicht dunkler sein mussten; ihre übrigen Gesichtszüge waren unauffällig, nicht ganz regelmäßig und wenig bemerkenswert, aber insgesamt konnte man nicht umhin, sie als sehr hübsches Mädchen zu bezeichnen. Ich wünschte, ich könnte über ihren Geist und ihren Charakter ebenso viel Gutes sagen wie über ihre Figur und ihr Gesicht.

Aber der Leser soll nicht glauben, dass ich schreckliche Enthüllungen mache: Sie war lebhaft, heiter und konnte sehr liebenswürdig zu allein sein, die ihren Willen nicht durchkreuzten. Mir gegenüber war sie anfangs kalt und hochmütig, dann unverschämt und anmaßend; aber als wir uns näher kennenlernten, gab sie ihr Getue allmählich auf und schloss sich mir so eng an, wie ihr das bei einer Person meines Charakters und meiner Stellung möglich war: Denn selten vergaß sie länger als eine halbe Stunde, dass ich nur eine Angestellte und die Tochter eines armen Pfarrers war. Trotzdem glaube ich, dass sie mich im Großen und Ganzen mehr schätzte, als ihr selbst klar war, denn ich war der einzige Mensch im Haus, der unerschütterlich auf festen Grundsätzen bestand, immer die Wahrheit sagte und sich darum bemühte, dass erst die Pflicht, dann das Vergnügen kam. Ich sage das nicht, um mich selbst herauszustellen, sondern um den bedauerlichen Zustand der Familie zu beschreiben, in deren Diensten ich derzeit stand. Für kein Familienmitglied tat mir dieser Mangel an Prinzipien so leid wie für Miss Murray; nicht nur, weil sie ihre Vorliebe für mich entdeckt hatte, sondern vieles in ihrem Wesen so freundlich und anziehend war, dass ich sie trotz ihrer Fehler wirklich gern hatte – wenn sie nicht gerade meinen Unmut weckte oder mich verärgerte, indem sie ihren Schwächen freien Lauf ließ. Diese Schwächen aber, so redete ich mir gern ein, waren eher das Ergebnis ihrer Erziehung als ihrer Veranlagung: Niemals hatte man ihr den Unterschied zwischen richtig und falsch wirklich klargemacht; von Kindheit an hatte man ihr wie auch ihren Geschwistern erlaubt, Kindermädchen, Erzieherinnen und Dienerschaft zu tyrannisieren, und niemand hatte ihr beigebracht, ihre Wünsche einzuschränken, sich zu beherrschen, ihren Mutwillen zu zügeln oder ihr eigenes Vergnügen zugunsten von anderen zu opfern. Da sie von Natur aus einen guten Charakter hatte, war sie niemals heftig oder mürrisch, aber weil sie ständig verwöhnt worden und jeglicher Vernunft gemeinhin abgeneigt war, war sie oft reizbar und launisch; ihr Geist war nie geformt worden, ihren Verstand konnte man bestenfalls als oberflächlich bezeichnen; sie besaß beachtliche Lebhaftigkeit und eine schnelle Auffassungsgabe, auch eine gewisse Begabung für Musik und das Erlernen von Sprachen. Aber bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, etwas zu lernen; dann hatte die Lust an der Schauspielerei ihre Fähigkeiten beflügelt und sie veranlasst, sich damit zu befassen, allerdings hauptsächlich wegen des Aspekts der glänzenden Selbstdarstellung. Als ich dann kam, blieb es das Gleiche: Alles wurde vernachlässigt außer Französisch, Deutsch, Musik, Singen, Tanzen, Handarbeit und etwas Zeichnen; die Zeichnungen mussten mit möglichst geringem Aufwand die höchstmögliche Wirkung erzielen, wobei der wesentliche Teil im Allgemeinen von mir stammte. In Musik und Gesang wurde sie neben meinem gelegentlichen Unterricht vom besten Lehrer betreut, den es in der Gegend gab, und sie erlangte hierin, genauso wie im Tanzen, große Fertigkeit. Auf die Musik verwandte sie wirklich zu viel Zeit, was ich ihr auch häufig sagte, obwohl ich ihre Lehrerin war; aber ihre Mutter meinte, wenn sie es gern täte, könne sie gar nicht zu viel Zeit damit verschwenden, eine so reizvolle Kunst zu erlernen. Von Handarbeit verstand ich nur, was ich mir von meiner Schülerin und durch eigene Beobachtung angeeignet hatte, aber kaum war ich in die Anfangsgründe eingeführt, machte sie sich meine Kenntnisse auf vielfältige Art zunutze: Alle unangenehmen Aufgaben schob sie mir zu, zum Beispiel den Rahmen zu spannen, das Gitterleinen einzuheften, Wolle und Seidengarn zu sortieren, die Unterlage einzusetzen, Fäden zu zählen, Fehler auszumerzen und die Stücke fertigzustellen, zu denen sie keine Lust mehr hatte.

Mit sechzehn war Miss Murray ein rechter Wildfang, aber nicht schlimmer, als es für ein Mädchen ihres Alters normal und billig war, mit siebzehn aber ließ dieser Hang nach und wich bald ihrer einzigen, alles verzehrenden Leidenschaft: dem Ehrgeiz, das andere Geschlecht an sich zu fesseln und Bewunderung zu erregen. Aber genug von ihr: Wenden wir uns ihrer Schwester zu.

Miss Matilda Murray war ein richtig ungezogenes Ding, und es gibt wenig über sie zu sagen. Sie war über zweieinhalb Jahre jünger als ihre Schwester, ihre Gesichtszüge waren gröber, ihr Teint viel dunkler. Vielleicht würde aus ihr einmal eine schöne Frau werden, aber sie war viel zu grobknochig und linkisch, als dass man sie als hübsches Mädchen hätte bezeichnen können, und darauf legte sie derzeit auch wenig Wert. Rosalie war sich ihrer Vorzüge bewusst, hielt sie sogar für größer, als sie waren, schätzte sie aber so ein, als wären sie noch dreimal größer gewesen. Matilda war ganz zufrieden mit sich und machte sich wenig Gedanken über ihr Äußeres. Noch weniger kümmerte sie sich um ihre geistige Entwicklung und das Erlernen von künstlerischen Fertigkeiten. Die Art, in der sie ihre Aufgaben und musikalischen Übungen absolvierte, zielte darauf ab, jede Erzieherin zur Verzweiflung zu bringen. So kurz und einfach ihre Aufgaben auch waren, sie wurden, wenn überhaupt, irgendwann und irgendwie hingehudelt, meist zur unpassendsten Zeit und in einer Weise, die ihr wenig nutzte und mich nicht zufriedenstellte; die knappe halbe Stunde ihrer Klavierübungen brachte sie mit erbarmungslosem Geklimper hinter sich. Dabei sparte sie nicht mit Beschimpfungen, entweder weil ich sie unterbrach, um sie zu verbessern, oder weil ich ihre Fehler nicht schon korrigierte, noch ehe sie sie gemacht hatte, oder ähnlichem Unsinn. Ein- oder zweimal wagte ich es, ernsthaft gegen ihr unvernünftiges Benehmen zu protestieren, aber beide Male machte mir ihre Mutter solche Vorhaltungen, dass ich überzeugt war, meine Stellung nur behalten zu können, wenn ich Miss Matilda gewähren ließ.

Waren die Unterrichtsstunden jedoch vorbei, so war es im Allgemeinen auch ihre schlechte Laune: Wenn sie ihr feuriges Pony ritt oder mit den Hunden und ihren Geschwistern, vor allem ihrem geliebten Bruder John, herumtollte, war sie so munter wie ein Vogel. Hätte sie der Gattung der Tiere angehört, wäre Matilda akzeptabel gewesen in ihrer Lebhaftigkeit, Vitalität und ihrem Bewegungsdrang, als menschliches Wesen aber war sie ungeheuer einfältig, ungelehrig, gleichgültig und unvernünftig und somit eine Qual für jemanden, der die Aufgabe hatte, ihren Verstand zu entwickeln, ihre Umgangsformen zu verbessern und ihr zu helfen, sich zu schmücken und zurechtzumachen, was sie, im Gegensatz zu ihrer Schwester, wie alles andere auch verachtete. Ihre Mutter kannte teilweise ihre Unzulänglichkeiten und hielt mir so manchen Vortrag, wie ich es anstellen sollte, ihren Geschmack zu bilden, ihre noch schlummernde Eitelkeit zu wecken und zu pflegen und durch unbemerkte, geschickte Schmeicheleien ihre Aufmerksamkeit auf das gewünschte Ziel zu lenken – was ich nicht wollte; und wie ich ihr beim Lernen den Weg bereiten und ebnen sollte, damit sie ihn mühelos beschreiten konnte, ohne sich im Geringsten anzustrengen – was ich nicht konnte; denn man kann nur dann jemandem mit Erfolg etwas beibringen, wenn auch der Lernende sich etwas Mühe gibt.

Vom Charakter her war Matilda leichtsinnig, dickköpfig, heftig und Vernunftgründen nicht zugänglich. Ein Beispiel für ihre schlechten Eigenschaften war, dass sie, getreu dem Vorbild ihres Vaters, wie ein Landsknecht fluchte. Ihre Mutter war zutiefst entsetzt über diese »unschickliche Angewohnheit« und fragte sich, »wo sie das nur aufgeschnappt hatte«. »Aber Sie werden es ihr schon austreiben, Miss Grey«, sagte sie, »es ist nur eine Angewohnheit, und wenn Sie sie jedes Mal sanft ermahnen, wird sie es bestimmt bald lassen.« Ich »ermahnte sie nicht nur sanft«, sondern versuchte, ihr klarzumachen, wie falsch es war und wie schmerzlich für die Ohren anständiger Menschen. Aber vergebens; sie antwortete nur mit einem sorglosen Lachen: »Ach, Miss Grey, jetzt sind Sie schockiert! Wie lustig!« Oder: »Ich kann es nicht ändern. Papa hätte es mir eben nicht beibringen sollen. Ich habe alles von ihm und ein bisschen vielleicht auch vom Kutscher.«

Ihr Bruder John, alias Master Murray, war bei meiner Ankunft ungefähr elf Jahre alt, ein hübscher, kräftiger, gesunder Junge, im Wesentlichen offenherzig und gutmütig, aus dem bei entsprechender Erziehung ein ordentlicher Bursche hätte werden können. Nun aber war er so ungebärdig wie ein junger Bär, laut, aufsässig, charakterlos, ungebildet und, zumindest für eine Erzieherin, die unter der Aufsicht seiner Mutter stand, unbelehrbar. Vielleicht würden seine Lehrer in der Schule besser mit ihm fertig, denn dorthin wurde er zu meiner großen Erleichterung nach Ablauf eines Jahres geschickt. Sein Kenntnisstand in Latein wie auch auf brauchbareren, aber geringer eingestuften Gebieten war erschreckend niedrig, und zweifellos würde man alles der Tatsache anlasten, dass seine Erziehung einer ungebildeten Lehrerin anvertraut worden war, die sich angemaßt hatte, eine Aufgabe in die Hand zu nehmen, der sie ganz und gar nicht gewachsen war. Erst ein ganzes Jahr später befreite man mich von der Gegenwart seines Bruders; auch dieser wurde im gleichen Zustand beschämender Unwissenheit zur Schule geschickt.

Master Charles war der ganz besondere Liebling seiner Mutter. Er war ein gutes Jahr jünger als John, aber viel kleiner, blasser und weniger lebhaft und kräftig, ein mürrischer, feiger, launischer, selbstsüchtiger kleiner Kerl, der nur aktiv wurde, wenn es Schaden anzurichten galt, und sich immer dann als klug erwies, wenn er sich Lügen ausdachte: und das nicht nur, um seine eigenen Fehler zu verschleiern, sondern auch aus purer Bosheit, um andere Menschen in Verruf zu bringen. Master Charles war wirklich eine große Belastung für mich. Gut mit ihm auszukommen war eine Geduldsprobe, schwieriger noch, ihn zu beaufsichtigen, die Aufgabe, ihn zu unterrichten oder es auch nur zu versuchen, unvorstellbar. Mit seinen zehn Jahren war er nicht einmal in der Lage, die einfachste Zeile im einfachsten Buch richtig zu lesen, und auf Anordnung seiner Mutter war ich gehalten, ihm jedes Wort zu nennen, noch bevor er Zeit hatte, zu überlegen oder seine Rechtschreibung zu überprüfen. Auch sollte ich nicht versuchen, ihn durch den Hinweis anzustacheln, andere Jungen wären ihm weit voraus; so überrascht es nicht, dass er in den zwei Jahren meines Unterrichts nur geringe Fortschritte machte. Den kleinsten Abschnitt aus der lateinischen Grammatik zum Beispiel musste ich so lange wiederholen, bis es ihm einfiel zu sagen, er habe ihn jetzt verstanden, und selbst dann musste ich ihm noch helfen, ihn aufzusagen. Wenn er bei seinen einfachen Rechenaufgaben Fehler machte, musste ich ihn sofort darauf aufmerksam und an seiner Stelle die Addition machen, statt dass er sein Denkvermögen schulte und den Irrtum selbst herausfand; also gab er sich erst gar nicht die Mühe, Fehler zu vermeiden, und schrieb seine Zahlen auf gut Glück hin, ohne überhaupt zu rechnen.

Ich hielt mich nicht uneingeschränkt an diese Regeln, das wäre gegen mein Gewissen gewesen. Aber ich konnte es nur selten riskieren, auch nur leicht von ihnen abzuweichen, ohne mir den Zorn meines kleinen Schülers und folglich auch seiner Mama zuzuziehen, der er über alle meine Vergehen Mitteilung machte, böswillig übertrieben und durch Ausschmückungen bereichert. Die Folge davon war, dass ich oft kurz davor war, meine Stellung zu verlieren oder aufzugeben. Aber wegen meiner Lieben zu Hause erstickte ich meinen Stolz, unterdrückte meinen Ärger und plagte mich so lange ab, bis mein kleiner Quälgeist zur Schule geschickt wurde; sein Vater erklärte, dass der Unterricht zu Hause »bei ihm zwecklos ist, das ist offenkundig; seine Mutter verwöhnt ihn über alle Maßen, und seine Lehrerin ist außerstande, ihm etwas beizubringen.«

Noch ein paar Bemerkungen über Horton Lodge und das dortige Tun und Treiben, und ich bin fürs Erste fertig mit meiner Beschreibung. Das Haus war ansehnlich und übertraf das von Mr. Bloomfield an Alter, Größe und Pracht. Der Garten war nicht so geschmackvoll angelegt, doch anstelle des gleichmäßig gemähten Rasens, der jungen, von Holzpfählen gestützten Bäume, des hochaufragenden Pappelgehölzes und der Tannenschonung gab es einen weitläufigen Park mit Rotwild und prächtigen, alten Bäumen. Die Umgebung war an und für sich recht einladend, soweit sich dies von fruchtbaren Äckern, blühenden Bäumen, stillen, grünen Wegen und freundlichen, von wilden Blumen umsäumten Hecken sagen lässt, aber für jemanden, der in den schroffen Bergen von –– geboren und aufgewachsen war, bedrückend flach.

Das Anwesen lag fast zwei Meilen von der Dorfkirche entfernt, und deshalb wurde an jedem Samstagvormittag, manchmal auch öfter, die Familienkutsche benutzt. Mr. und Mrs. Murray hielten es im Allgemeinen für ausreichend, sich einmal am Tag in der Kirche zu zeigen, aber die Kinder wollten häufig ein zweites Mal gehen, anstatt den lieben langen Tag im Park umherzustreifen, ohne etwas zu tun. Entschloss sich ein Teil meiner Schüler, zu Fuß zu gehen und mich mitzunehmen, hatte ich Glück; ansonsten hatte ich nämlich meinen Platz in der Ecke der Kutsche, die vom geöffneten Fenster am weitesten entfernt war, und saß mit dem Rücken zu den Pferden; in dieser Lage wurde mir unweigerlich schlecht, und wenn ich nicht gezwungen war, die Kirche mitten im Gottesdienst zu verlassen, wurde meine Andacht durch ein Gefühl von Schwäche und Übelkeit und die quälende Angst, es könnte noch schlimmer kommen, beeinträchtigt. Den Rest des Tages verbrachte ich dann meist mit bohrenden Kopfschmerzen; dabei hätte er doch die höchst willkommene Ruhe und fromme, stille Freude bringen sollen. »Es ist wirklich komisch, Miss Grey, dass Ihnen immer übel wird in der Kutsche. Mir passiert das nie«, bemerkte Matilda.

»Mir auch nicht«, sagte ihre Schwester, »aber ich glaube, es wäre der Fall, wenn ich auf ihrem Platz säße – wirklich ein ekelhafter, fürchterlicher Platz, Miss Grey, wie können Sie das nur aushalten!«

»Ich muss es aushalten, weil ich keine andere Wahl habe«, hätte ich darauf antworten können, aber um ihre Gefühle nicht zu verletzen, sagte ich nur: »Ach, es ist ja nur ein kurzes Stück, und wenn mir in der Kirche nicht schlecht wird, macht es mir nichts aus.«

Es fällt mir nicht leicht, Einteilung und Verlauf eines ganz normalen Tages zu schildern. Die Mahlzeiten nahm ich mit meinen Schülern im Schulzimmer ein, immer zu dem Zeitpunkt, der ihnen gerade passte: Einmal läuteten sie nach dem Essen, obwohl es erst halb gar war, ein andermal ließen sie es über eine halbe Stunde lang auf dem Tisch stehen, um dann übellaunig festzustellen, dass die Kartoffeln kalt waren und sich auf der Soße eine steife Fettschicht gebildet hatte. Einmal bestellten sie den Tee für vier Uhr, dann wieder schnauzten sie die Dienerschaft an, weil er nicht pünktlich um fünf gebracht worden war; hielt sich das Personal an die Befehle, nachdem es zur Pünktlichkeit ermahnt worden war, ließen sie den Tee womöglich bis sieben oder acht Uhr auf dem Tisch stehen.

Mit den Unterrichtsstunden verlief es ähnlich; niemand fragte nach meiner Meinung oder meiner Bequemlichkeit. Manchmal beschlossen Matilda und John, »den ganzen verflixten Kram noch vor dem Frühstück hinter sich zu bringen«, und schickten ohne Gewissensbisse oder Entschuldigung das Mädchen um halb sechs herauf, um mich zu wecken; nachdem man mir befohlen hatte, um Punkt sechs bereit zu sein, und ich mich eiligst angezogen hatte, kam ich häufig in einen leeren Raum, um nach längerem, ungewissen Warten festzustellen, dass sie es sich anders überlegt hatten und noch im Bett lagen. An schönen Sommermorgen konnte es geschehen, dass Brown mir mitteilte, die jungen Herrschaften hätten sich heute einen freien Tag genommen und wären nach draußen gegangen; dann ließ man mich auf das Frühstück warten, bis ich einer Ohnmacht nahe war, während sie sich schon gestärkt hatten, ehe sie das Haus verließen.

Oft wollten sie ihre Aufgaben im Freien erledigen, wogegen ich im Grunde nichts einzuwenden hatte, nur erkältete ich mich häufig beim Sitzen im feuchten Gras wegen des abendlichen Taus oder eines kühlen Windes, der ihrer Gesundheit offensichtlich nicht schadete. Es war ja richtig, dass sie sich abhärteten, aber man hätte ihnen schon etwas Rücksicht auf andere abverlangen können, die nicht so robust veranlagt waren wie sie. Aber ich will sie nicht für etwas verantwortlich machen, woran ich vermutlich selbst schuld war; denn ich hatte niemals ernstlich Einspruch erhoben und mich stets da niedergelassen, wo es ihnen gefiel, und törichterweise eher das Risiko in Kauf genommen, statt sie wegen meines Wohlbefindens zu belästigen. Die ungehörige Art, in der sie ihren Unterricht absolvierten, war genauso bemerkenswert wie ihre Launenhaftigkeit bei der Wahl von Zeit und Ort. Während sie meinen Ausführungen folgten oder das Gelernte wiederholten, lümmelten sie sich auf dem Sofa, lagen auf dem Teppich, räkelten sich, gähnten, sprachen miteinander oder sahen aus dem Fenster; ich dagegen brauchte nur das Feuer zu schüren oder mein heruntergefallenes Taschentuch aufzuheben, um von meinen Schülern wegen meiner Unaufmerksamkeit gerügt zu werden und mir anhören zu müssen, dass »Mama es nicht gern hätte, dass ich so unachtsam war«.

Die Dienerschaft, die merkte, wie wenig Achtung Eltern und Kinder ihrer Gouvernante entgegenbrachten, richtete sich in ihrem Verhalten nach diesen Vorbildern. Ich habe sie oft gegen die Tyrannei und die Ungerechtigkeit ihrer jungen Herrschaft in Schutz genommen und dabei riskiert, selbst beschimpft zu werden; und ich war stets bestrebt, ihnen so wenig Mühe wie möglich zu machen: Sie jedoch kümmerten sich überhaupt nicht um meine Bequemlichkeit, übergingen geringschätzig meine Bitten und achteten nicht auf meine Anweisungen. Sicher hätten sich nicht alle Hausmädchen und -diener so verhalten, aber da Hausangestellte im Allgemeinen recht unwissend sind und nicht daran gewöhnt, nach Gründen zu suchen und Überlegungen anzustellen, lassen sie sich zu schnell von der Nachlässigkeit und dem schlechten Beispiel ihrer Vorgesetzten verleiten, und diese hier, so viel will ich vorausschicken, waren nicht gerade die Besten ihrer Gattung.

Manchmal fühlte ich mich erniedrigt durch das Leben, das ich führte, und schämte mich, so viele Demütigungen hinzunehmen, und manchmal hielt ich mich für töricht, weil ich so darunter litt, und fürchtete schon, dass mir die rechte christliche Bescheidenheit abgehe oder jene Nächstenliebe, die »langmütig und freundlich ist, nicht das Ihre sucht, sich nicht erbittern lässet, alles verträget und alles duldet«. Aber mit Zeit und Geduld wurde manches etwas besser, wenn auch langsam und fast unmerklich. Ich wurde meine männlichen Schüler los, was von nicht geringem Vorteil war, und die Mädchen wurden, wie ich schon angedeutet habe, bevor ich sie nacheinander beschrieb, weniger überheblich, begannen sogar, Anzeichen von Wertschätzung zu zeigen. »Miss Grey war ein seltsames Wesen. Sie schmeichelte ihnen nicht und lobte sie bei weitem nicht genug; wenn sie jedoch etwas Vorteilhaftes über sie sagte, konnten sie ganz sicher sein, dass ihre Zustimmung aufrichtig war. Sie war im Wesentlichen entgegenkommend, ruhig und friedlich, aber es gab Anlässe, bei denen sie in Zorn geriet: nicht dass ihnen das viel ausgemacht hätte, aber es war schon besser, sie bei Laune zu halten, denn wenn sie gut gelaunt war, sprach sie mit ihnen, war sehr liebenswürdig und manchmal geradezu amüsant auf ihre Art; die war freilich völlig verschieden von der ihrer Mama, aber zur Abwechslung auch nicht schlecht. Über alles und jedes hatte sie ihre eigenen Ansichten und hielt eisern daran fest – und was waren das oft für lästige Ansichten: Sie dachte ständig darüber nach, was richtig und falsch war, zeigte eine seltsame Ehrfurcht vor allem, was mit Religion zusammenhing, und hatte eine eigenartige Vorliebe für gute Menschen.«

Die großen Romane der Schwestern Brontë

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