Читать книгу Die großen Romane der Schwestern Brontë - Anne Bronte, Anne Brontë, The Bronte Sisters - Страница 18
Kapitel 11
ОглавлениеDie Häusler
Da ich nun nur eine richtige Schülerin hatte – obwohl diese es fertigbrachte, mir genauso viel Mühe zu machen wie drei oder vier andere zusammen, und ihre Schwester weiter in Deutsch und Zeichnen Unterricht nahm –, stand mir erheblich mehr Zeit zur Verfügung, als mir vergönnt gewesen war, seit ich das Joch des Gouvernantendaseins auf mich genommen hatte. Diese Zeit widmete ich zum Teil der Korrespondenz mit meiner Familie, teilweise las ich, bildete mich weiter, spielte Klavier, sang usw., oder ich machte Spaziergänge durch den Park und die umliegenden Felder, gemeinsam mit meinen Schülerinnen, wenn sie es wollten, ansonsten allein.
Wenn es gerade keine angenehmere Beschäftigung gab, zerstreuten sich die beiden Miss Murray häufig damit, die armen Häusler auf dem Gut ihres Vaters zu besuchen, um ihre schmeichelhaften Huldigungen entgegenzunehmen, von den geschwätzigen alten Frauen die alten Geschichten oder den neuesten Klatsch zu hören, vielleicht auch um der aufrichtigen Freude willen, die armen Leute zu beglücken mit ihrer aufmunternden Gegenwart und den gelegentlichen Geschenken, die man so großzügig machen konnte und die so dankbar angenommen wurden. Manchmal bat mich eine der Schwestern – oder auch beide –, sie auf diesen Besuchen zu begleiten; manchmal baten sie mich auch, allein zu gehen und ein Versprechen einzulösen, das sie zwar bereitwillig gegeben hatten, es aber nicht halten wollten, zum Beispiel ein kleines Geschenk zu überbringen oder einem Kranken oder Schwerkranken vorzulesen. Auf diese Art machte ich die Bekanntschaft einiger Häusler und besuchte sie hin und wieder auch auf eigene Faust.
Im Allgemeinen ging ich lieber allein als mit einer der beiden jungen Damen, denn aufgrund ihrer mangelhaften Erziehung benahmen sie sich ihren Untergebenen gegenüber in einer Art und Weise, die höchst unangenehm mitanzusehen war. Sie hatten sich niemals gedanklich in deren Lage versetzt und folglich auch kein Verständnis für ihre Gefühle, sahen sie sie doch als menschliche Gattung an, die von der ihren völlig verschieden war. Sie beobachteten die armen Geschöpfe bei ihren Mahlzeiten, machten unziemliche Bemerkungen über das Essen und ihre Manieren bei Tisch; sie lachten über ihre schlichten Gedanken und die ungehobelte Ausdrucksweise, bis einige kaum noch wagten, den Mund aufzumachen; die gesetzten älteren Männer und Frauen nannten sie in deren Gegenwart alte Narren und einfältige alte Dummköpfe: und alles, ohne sie direkt kränken zu wollen. Ich merkte oft, dass die Menschen durch dieses Benehmen verletzt oder verärgert waren, auch wenn die Furcht vor den »großen Damen« sie daran hinderte, ihren Unmut offen zu zeigen: Die beiden merkten nie etwas. Sie dachten, weil diese Kätner arm und ungebildet waren, müssten sie auch beschränkt und grob sein; sie glaubten, wenn sie, die Überlegenen, geruhten, mit ihnen zu sprechen, ihnen Schilling- oder Halbkronenstücke und Kleider schenkten, auch das Recht zu haben, sich auf ihre Kosten zu amüsieren; und die Leute sollten sie dann als strahlende Engel anbeten, die sich gnädig dazu herabließen, für ihre Bedürfnisse zu sorgen und Licht in ihre bescheidenen Behausungen zu bringen.
Ich unternahm die verschiedensten Versuche, meine Schülerinnen von diesen irrigen Vorstellungen abzubringen, ohne dabei an ihren Stolz zu rühren, der leicht verletzbar und nicht so schnell wieder aufzurichten war, doch ohne sichtlichen Erfolg. Und ich weiß nicht, welche der beiden man mehr tadeln musste: Matilda war zwar ungezogener und wilder, doch von Rosalies Alter und ihrem damenhaften Äußeren hätte man eigentlich mehr erwarten können; aber sie war so aufreizend gleichgültig und unbedacht wie ein leichtsinniges Kind von zwölf Jahren.
An einem schönen Tag in der letzten Februarwoche ging ich im Park spazieren und genoss den dreifachen Luxus des Alleinseins, eines Buches und des guten Wetters. Miss Matilda war auf ihrem täglichen Ausritt und Miss Murray mit ihrer Mutter zu ein paar morgendlichen Besuchen mit der Kutsche unterwegs. Aber es kam mir in den Sinn, dass ich eigentlich diesem selbstsüchtigen Vergnügen entsagen und den Park verlassen sollte, diesen herrlichen Park mit seinem strahlend blauen Firmament, wo der Westwind durch die noch kahlen Zweige fuhr, die in den Mulden verbliebenen Schneereste rasch in der Sonne schmolzen und die anmutigen Rehe und Hirsche auf den feuchten Wiesen ästen, als gäbe es schon das frische Grün des Frühlings. Stattdessen sollte ich lieber Nancy Brown besuchen, eine Witwe, deren Sohn den ganzen Tag über auf dem Feld arbeitete und die seit einiger Zeit an einer Augenentzündung litt, die ihr das Lesen unmöglich machte: sehr zu ihrem Leidwesen, denn sie war eine ernsthafte, nachdenkliche Frau. Also ging ich zu ihr und fand sie, wie gewöhnlich, allein in ihrem kleinen, engen, dunklen Haus, in dem es nach Rauch und abgestandener Luft roch, das sie aber so ordentlich und sauber hielt, wie sie konnte. Sie saß an ihrer kleinen Feuerstelle, die aus ein paar glühenden Kohlen und einem Holzscheit bestand, und strickte emsig; zu ihren Füßen lag ein Kissen aus Sackleinen für ihre sanfte Freundin, die Katze, die, den langen Schwanz um die Samtpfoten gerollt, darauf lag und mit halbgeschlossenen Augen träumerisch auf den niedrigen, gebogenen Kaminvorsatz starrte.
»Wie geht es Ihnen heute, Nancy?«
»Ach, so mittel, Miss. Mit meinen Augen isses nich’ besser, aber sonst is’ mir’n bisschen leichter zumut’«, antwortete sie und erhob sich zufrieden lächelnd, um mich zu begrüßen; ich freute mich darüber, denn Nancy war in letzter Zeit von einer Art religiöser Schwermut geplagt worden. Ich beglückwünschte sie zu diesem Sinneswandel. Sie stimmte mir zu, dass sie »richtig dankbar dafür« sei und fügte hinzu: »Wenn der liebe Gott jetzt noch meine Augen heilt und macht, dass ich wieder meine Bibel lesen kann, dann bin ich, glaub ich, so froh wie ’ne Königin.«
»Ich hoffe, das wird Er, Nancy«, antwortete ich, »und bis dahin komme ich und lese Ihnen vor, sooft ich ein bisschen freie Zeit habe.«
Mit dem Ausdruck großer Freude ging die arme Frau mir einen Stuhl holen: Als ich ihr diese Mühe abnahm, schürte sie eifrig das Feuer, legte noch ein paar Scheite in die verlöschende Glut, nahm dann ihre abgenutzte Bibel vom Regal, staubte sie sorgfältig ab und reichte sie mir. Auf meine Frage, ob ich ihr etwas ganz Bestimmtes vorlesen solle, antwortete sie:
»Also, Miss Grey, wenn’s Ihnen egal is’, dann würd’ ich gern das Kapitel im ersten Brief von Johannes hören, wo’s heißt: ›Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.‹«
Nach kurzem Suchen fand ich die Worte im vierten Kapitel. Als ich beim siebten Vers angelangt war, unterbrach sie und bat mich, indem sie sich überflüssigerweise für ihre Ungehörigkeit entschuldigte, ihn ganz langsam vorzulesen, damit sie alles in sich aufnehmen und über jedes Wort nachdenken könne; ich müsse schon verzeihen, aber sie wäre doch nur eine »einfache Person«.
»Auch der klügste Mensch«, antwortete ich, »könnte eine Stunde lang über jeden dieser Verse nachdenken und sich danach besser fühlen; und ich würde sie lieber langsam als gar nicht lesen.«
Also las ich das Kapitel, so langsam wie nötig und so eindringlich ich konnte, zu Ende; meine Zuhörerin lauschte die ganze Zeit über aufmerksam und dankte mir aufrichtig, als ich fertig war. Ich saß etwa eine halbe Stunde schweigend da, um ihr Zeit zum Nachdenken zu lassen, als sie zu meiner Überraschung das Schweigen mit der Frage unterbrach, wie mir Mr. Weston gefiele.
»Ich weiß nicht«, antwortete ich leicht bestürzt über die Direktheit der Frage, »ich glaube, er predigt sehr gut.«
»Ja, das kann er, und reden kann er auch gut.«
»Ja?«
»Ja. Vielleicht haben Sie ihn noch gar nicht getroffen und noch nicht viel mit ihm geredet?«
»Nein, ich treffe nie jemanden, mit dem ich sprechen kann – ausgenommen die jungen Damen vom Gut.«
»Sie sind nett und freundlich, die jungen Damen, aber sie können nicht so reden wie er.«
»Dann kommt er Sie also besuchen, Nancy?«
»O ja, Miss, und ich bin so dankbar dafür. Er besucht uns arme Seelen ’ne Menge öfter als Mr. Bligh oder der Gemeindepfarrer. Und es ist gut so, denn er ist immer willkommen: Das kann man vom Gemeindepfarrer nicht sagen, und es gibt viele, die ha’m richtig Angst vor ihm. Wenn er in ein Haus kommt, sagen die Leute, findet er gleich irgendwas falsch und fängt an zu schimpfen, sobald er über die Schwelle tritt: Aber vielleicht denkt er, es ist seine Pflicht, ihnen immer zu sagen, was falsch ist. Und oft kommt er auch und schimpft mit den Leuten, weil sie nicht in die Kirche gehen oder nicht knien oder aufstehen, wenn’s die andern machen, oder weil sie in die Methodisten-Kapelle gehen oder so was Ähnliches: Aber ich kann nicht sagen, dass er bei mir je viele Fehler gefunden hat. Ein- oder zweimal hat er mich besucht, bevor Mr. Weston kam, als ich so wirr im Kopf war; und weil ich doch auch sonst ziemlich schwach war, hab ich mich getraut, nach ihm zu schicken; und er kam auch prompt. Ich fühlte mich so elend, Miss Grey – Gott sei Dank, jetzt isses ja vorbei –, aber wenn ich meine Bibel in die Hand genommen habe, konnte ich gar keinen Trost finden. Das Kapitel, was Sie grade gelesen haben, das hat mir richtig Angst gemacht: ›Wer nicht liebhat, der kennt Gott nicht.‹ Es kam mir so schrecklich vor, denn ich hab weder Gott noch die Menschen so geliebt, wie man soll, und konnt’s auch nicht, wenn ich mich noch so angestrengt hab. Und das Kapitel davor, wo’s heißt: ›Wer aus Gott geboren ist, der tut nicht Sünde.‹ Und ’ne andre Stelle, wo’s heißt: »›So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.‹ Und viele, viele andre noch, Miss, wenn ich die alle aufzählen würde, wär’s lästig für Sie. Aber alle haben mich irgendwie verdammt und mir gezeigt, dass ich nicht auf dem richtigen Weg war; und weil ich überhaupt nicht mehr gewusst hab, wie ich den finden soll, hab ich unsern Bill zu Mr. Hatfield geschickt, ob er nicht mal bei mir vorbeischauen könnt’: Und als er dann gekommen is’, hab ich ihm all meine Sorgen erzählt.«
»Und was hat er gesagt, Nancy?«
»Ach, Miss, ich glaub, er hat sich lustig über mich gemacht. Vielleicht irr ich mich, aber er hat einen Pfiff ausgestoßen, und auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, und er hat gesagt: ›Das ist doch alles dummes Zeug! Sie waren bei den Methodisten, gute Frau.‹ Aber ich hab ihm gesagt, dass ich noch nie bei den Methodisten war. Und dann hat er gesagt:
›Also‹, hat er gesagt, ›Sie müssen in die Kirche gehen; dort wird Ihnen die Bibel richtig ausgelegt, und nicht zu Hause sitzen und über Ihrer Bibel brüten.‹
Aber ich hab ihm gesagt, dass ich, als ich noch gesund war, immer zur Kirche gegangen bin; aber bei dem kalten Winterwetter hab ich mich nicht so weit getraut, wo’s mir doch so schlecht ging mit dem Rheumatismus und allem.
Aber er hat gesagt: ›Es wird Ihrem Rheumatismus guttun, wenn Sie zur Kirche humpeln; es gibt nichts Besseres gegen Rheumatismus als Bewegung. Sie können doch auch gut im Haus umhergehen, warum also nicht in die Kirche? Der Grund ist‹, hat er gesagt, ›Sie haben sich zu sehr an Ihre Bequemlichkeit gewöhnt. Es ist immer leicht, Ausreden zu finden, wenn man sich vor seinen Pflichten drücken will.‹
Aber so war’s gar nicht, Miss Grey. Aber ich hab zu ihm gesagt, ich würd’s versuchen. ›Aber bitte, Sir‹, hab ich gesagt, ›wenn ich in die Kirche geh, geht’s mir denn dann besser? Ich will, dass meine Sünden ausgelöscht werden, und möchte wissen, dass ich ihnen nicht noch einmal begegne und dass die Liebe Gottes in mein Herz strömt. Und wenn ich nichts davon hab, zu Hause in meiner Bibel zu lesen und meine Gebete zu sprechen, was hab ich davon, wenn ich in die Kirche geh?‹
›Die Kirche‹, hat er gesagt, ›ist der von Gott bestimmte Ort für Seine Anbetung. Es ist Ihre Pflicht, so oft wie möglich dorthin zu gehen. Wenn Sie Trost haben wollen, müssen Sie ihn auf dem Weg der Pflicht suchen‹ – und er hat noch ’ne ganze Menge mehr gesagt, aber mir fallen all seine schönen Worte gar nicht mehr ein. Aber es lief darauf hinaus, dass ich so oft wie möglich in die Kirche kommen sollte und mein Gebetbuch sollt ich mitbringen, und wenn der Pfarrer gelesen hätte, immer alle Antwortgebete ablesen und aufstehen und knien und mich hinsetzen, wie es verlangt würde, und bei jeder Gelegenheit das Abendmahl nehmen und seine und Mr. Blighs Predigten anhören, dann wäre alles in Ordnung: Wenn ich weiterhin meine Pflicht täte, bekäm ich am Ende auch meinen Segen.
›Aber wenn Sie so keinen Trost finden‹, hat er gesagt, ›ist alles aus.‹
›Dann, Sir‹, hab ich gesagt, ›glauben Sie, dass Gott mich verstoßen hat?‹
›Nun‹, hat er gesagt, ›wenn Sie‹, hat er gesagt, ›alles daransetzen, in den Himmel zu kommen, und es Ihnen nicht gelingt, dann müssen Sie zu jenen gehören, die versuchen, durch die enge Pforte hineinzugelangen, und es nicht vermögen.‹
Und dann hat er mich gefragt, ob ich diesen Morgen eine der Damen vom Gut gesehen hätte. Ich hab ihm gesagt, dass ich gesehen hab, wie die jungen Misses die Moss Lane entlanggegangen sind, und da hat er meiner armen Katze einen Tritt versetzt und ist ihnen frohgemut nachgelaufen; aber ich war sehr traurig. Seine letzten Worte waren mir ins Herz gedrungen, und da lagen sie wie ein Klumpen Blei, bis ich es nicht mehr aushalten konnte. Jedenfalls hab ich seinen Rat befolgt: Ich hab gedacht, er meint alles gut und hat halt nur ’ne komische Art. Aber wissen Sie, Miss, er ist reich und jung, und die können nicht verstehen, was so ’ne arme, alte Frau wie ich denkt. Aber jedenfalls, ich hab mich angestrengt, alles zu tun, was er wollte – aber vielleicht langweile ich Sie mit meinem Geschwätz, Miss?«
»Nein, nein, Nancy! Sprechen Sie weiter.«
»Tja, mein Rheuma wurde besser – ich weiß nicht, ob vom In-die-Kirche-Gehen oder nicht, aber an einem frostigen Sonntag erkältete ich mir die Augen. Die Entzündung kam nicht von heut auf morgen, sondern nach und nach – aber ich wollte Ihnen ja nichts von meinen Augen erzählen, sondern von meiner seelischen Not, und um die Wahrheit zu sagen, Miss Grey, die wurde nicht leichter, nachdem ich wieder in die Kirche gegangen bin, jedenfalls nur wenig; meine Gesundheit hat sich gebessert, aber das hat meiner Seele nicht geholfen. Wieder und wieder hab ich mir die Pfarrer angehört und wieder und wieder in meinem Gebetbuch gelesen, aber für mich klang alles wie das Getön von Blech und Zimbel: Die Predigten konnt ich nicht verstehn, und das Gebetbuch hat mir nur immer gezeigt, wie böse ich war, wenn ich so viele gute Worte las und mich immer noch nicht besserte; und außerdem hab ich oft gedacht, was für eine große Mühe und schwere Aufgabe das doch ist anstatt eines Gebets oder einer Lobpreisung, wie’s alle guten Christen machen. Es sah aus, als wäre alles öde und trostlos für mich. Und dann die schrecklichen Worte: ›Viele versuchen hineinzugelangen, aber vermögen es nicht.‹ Sie haben meinen Geist ganz ausgehöhlt.
Aber an einem Sonntag, als Mr. Hatfield das Sakrament gespendet hat, hab ich gehört, wie er sagte: ›Wenn einer unter euch ist, der kein ruhiges Gewissen hat und weiteren Trost und Rat braucht, der soll zu mir kommen oder zu einem anderen verschwiegenen, erfahrenen Verkünder von Gottes Wort gehen und seinen Kummer offenlegen!‹ Also bin ich am nächsten Sonntagmorgen vor dem Gottesdienst in die Sakristei gegangen und hab wieder ein Gespräch mit dem Gemeindepfarrer angefangen. Ich hab’s kaum fertiggebracht, mir das herauszunehmen, aber ich hab gedacht, wenn meine Seele auf dem Spiel steht, kann ich mich nicht mit Kleinigkeiten aufhalten. Aber er hat gesagt, er hätte keine Zeit, mich anzuhören.
›Und wirklich‹, hat er gesagt, ›ich kann Ihnen auch nichts anderes sagen als bisher. Nehmen Sie das Abendmahl und tun Sie Ihre Pflicht; wenn Ihnen das nicht hilft, tut es auch nichts anderes. Und nun stören Sie mich nicht länger.‹
Also ging ich weg. Aber dann hab ich gehört, wie Mr. Weston – Mr. Weston war nämlich da, Miss, es war sein erster Sonntag in Horton, und er stand im Chorhemd in der Sakristei und half dem Pfarrer in den Talar.«
»Ja, Nancy.«
»Und ich hab gehört, wie er Mr. Hatfield gefragt hat, wer ich wäre, und der hat gesagt: ›Ach, eine ewig jammernde, alte Närrin.‹
Und das hat mich sehr gekränkt, Miss Grey; aber ich ging zu meinem Platz und versuchte, wie immer meine Pflicht zu tun: Aber wieder fühlte ich keinen Frieden. Und ich nahm sogar das Abendmahl; aber die ganze Zeit dachte ich, ich äße und tränke meine eigene Verdammnis herbei. Und so ging ich tief bekümmert nach Hause.
Aber am nächsten Tag, ich hatte noch gar nicht aufgeräumt – denn wissen Sie was, Miss, mir stand gar nicht der Sinn danach, zu fegen und aufzuräumen und Geschirr abzuwaschen – und saß einfach mitten in der Unordnung, was meinen Sie, wer zur Tür ’reinkam? Kein anderer als Mr. Weston! Da hab ich natürlich sofort angefangen, aufzuräumen und zu fegen und Gott weiß was, und ich hab gedacht, jetzt schimpft er mit mir, weil ich so müßig herumgesessen hab, wie’s Mr. Hatfield getan hätte; aber da hab ich mich geirrt: Er sagte mir nur ruhig und bescheiden guten Morgen. Also hab ich einen Stuhl für ihn abgestaubt und ein bisschen vor dem Kamin gefegt; aber ich hatte noch die Worte des Pfarrers im Sinn und sagte: ›Ich wundere mich, Sir, dass Sie sich die Mühe machen, so weit zu laufen, nur um eine jammernde, alte Närrin wie mich zu besuchen.‹
Anscheinend war er etwas bestürzt; aber er wollte mich unbedingt davon überzeugen, dass der Pfarrer nur Spaß gemacht hätte, und als er das nicht konnte, sagte er: ›Sie sollten nicht so sehr darüber nachdenken, Nancy; Mr. Hatfield war ein bisschen schlecht gelaunt; Sie wissen ja, kein Mensch auf der Welt ist vollkommen – selbst Moses hat unbesonnene Worte gesprochen. Aber nun setzen Sie sich einen Augenblick, wenn Sie Zeit haben, und erzählen Sie von Ihren Zweifeln und Ängsten; ich will versuchen, sie zu zerstreuen.‹
Also setzte ich mich ihm gegenüber. Er war ja ganz fremd für mich, Miss Grey, und noch jünger, glaub ich, als Mr. Hatfield, und ich dachte zuerst, dass er nicht so liebenswürdig wie jener aussah, fast ein bisschen mürrisch, aber er sprach so höflich mit mir, und als die Katze, das arme Ding, auf seine Knie sprang, streichelte er sie nur mit einem Lächeln; und ich hab gedacht, das ist ein gutes Zeichen. Denn als sie das einmal beim Pfarrer gemacht hat, hat er das arme Ding voller Abscheu und Zorn heruntergeworfen. Aber man kann doch von einer Katze nicht erwarten, dass sie sich in christlichen Manieren auskennt, Miss Grey.«
»Nein, natürlich nicht, Nancy. Aber was hat Mr. Weston darauf gesagt?«
»Gar nichts. Aber er hat so ausdauernd und geduldig zugehört, wie’s nur ging, und war nie verächtlich; also hab ich weitergeredet und ihm alles erzählt, was ich Ihnen grad‘ erzählt hab – und noch viel mehr.
›Nun‹, hat er gesagt, ›Mr. Hatfield hat schon recht gehabt, als er Ihnen befohlen hat, weiter standhaft Ihre Pflicht zu tun; aber wenn er Ihnen den Rat gegeben hat, in die Kirche zum Gottesdienst zu gehen usw., dann hat er nicht gemeint, dass dies die einzige Christenpflicht ist: Er dachte nur, Sie würden dort erfahren, was Sie noch tun können, und vielleicht Freude an den Andachtsübungen empfinden, statt sie als Last und Bürde anzusehen. Und wenn Sie ihn gebeten hätten, die Worte, die Sie so beunruhigen, zu erklären, ich glaube, er hätte Ihnen gesagt, dass, wenn viele versuchen, durch die enge Pforte in den Himmel zu gelangen, und es nicht vermögen, es ihre eigenen Sünden sind, die sie daran hindern; gerade so, als wenn ein Mann mit einem großen Sack auf dem Rücken durch eine schmale Gasse gehen will und dies erst kann, wenn er diesen Sack zurücklässt. Aber Sie, Nancy, wage ich zu behaupten, tragen doch nicht an Sünden, die Sie nicht freudigst abwerfen würden, wenn Sie nur wüssten, wie?‹
›Ach ja, Sir, das ist wahr‹, sagte ich.
›Nun‹, sagte er, ›Sie kennen das erste und wichtigste Gebot und das zweite, ebenso wichtige und wissen, dass von ihnen das ganze Gesetz und die Propheten abhängen? Sie sagen, dass Sie Gott nicht lieben können; aber ich habe den Eindruck, dass Sie gar nicht umhinkönnen, dies zu tun, wenn Sie genau überlegen, wer und was Er ist. Er ist Ihr Vater, Ihr bester Freund: Aller Segen, alles Gute, Angenehme oder Nützliche kommt von Ihm; und alles Böse, alles, was Sie zu Recht hassen, fliehen oder fürchten, kommt von Satan – der genauso Sein Feind ist wie der unsrige. Und darum ist Gott Fleisch geworden, um die Werke des Teufels zu zerstören; mit einem Wort: Gott ist die Liebe, und je mehr Liebe wir in uns haben, desto näher sind wir Ihm, desto mehr besitzen wir von Seinem Geist.‹
›Ja, Sir‹, hab ich gesagt, ›wenn ich immer daran denke, könnt ich Gott bestimmt lieben: Aber wie kann ich meine Nachbarn lieben, wenn sie mich ärgern und wo viele von ihnen so aufsässig und sündig sind?‹
›Es mag uns schwer vorkommen‹, sagte er, ›unsere Nachbarn zu lieben, die so viel Schlechtes an sich haben und deren Fehler oft das Böse wecken, das in uns ruht. Aber bedenken Sie, dass Er Sie geschaffen hat und dass Er Sie liebt, und wer den Schöpfer liebt, liebt auch seine Geschöpfe. Und wenn Gott uns so liebt, dass Er seinen einzigen Sohn für uns sterben ließ, sollten auch wir uns untereinander lieben. Aber wenn Sie keine wirkliche Zuneigung für diejenigen empfinden, die sich nicht um Sie kümmern, so sollten Sie zumindest versuchen, sie so zu behandeln, wie Sie selbst gern behandelt würden: sich bemühen, ihre Schwächen zu bedauern und ihre Kränkungen zu verzeihen und allen um Sie herum nur Gutes zu tun. Und wenn Sie sich daran gewöhnen, Nancy, wird allein diese Mühe schon etwas Liebe zu ihnen bewirken, ganz zu schweigen von dem guten Willen, den Ihre Freundlichkeit in ihnen weckt, auch wenn sie sonst wenig gute Eigenschaften haben. Wenn wir Gott lieben und Ihm dienen wollen, müssen wir versuchen, so zu sein wie Er, in Seinem Sinne zu arbeiten, für Seinen Ruhm zu streiten, das heißt für das Wohl der Menschheit – Sein Reich bald zu verwirklichen, das heißt, Frieden und Glück für alle Menschen auf Erden zu schaffen: Wie machtlos wir auch scheinen, wenn wir unser Leben lang nur Gutes tun, kann auch der Bescheidenste von uns viel zu diesen Zielen beitragen; und wir wollen in Liebe leben, auf dass Er in uns und wir in Ihm leben. Je mehr Glück wir schenken, desto mehr erhalten wir zurück, und umso größer wird unser Lohn im Himmel sein, wenn wir von unserer Mühsal ausruhen.‹ Ich glaube, Miss, genau das waren seine Worte, denn ich hab manches Mal über sie nachgedacht. Und dann hat er die Bibel genommen und hier und da eine Stelle draus vorgelesen und mir alles ganz genau erklärt: Und das war, als wär ein Lichtstrahl in meine Seele gefallen, und mein Herz glühte richtig, und ich hätte nur gewünscht, der arme Bill und alle Leute wären da gewesen und hätten alles gehört und sich mit mir gefreut.
Nachdem er fort war, kam Hannah Rogers, eine meiner Nachbarinnen, und bat mich, ihr bei der Wäsche zu helfen. Ich hab gesagt, jetzt könnt ich noch nicht, ich hätte noch nicht die Kartoffeln fürs Mittagessen aufgesetzt und das Frühstücksgeschirr noch nicht abgewaschen. Und da fing sie an, mich wegen meiner schlimmen Faulheit auszuschimpfen. Zuerst hab ich mich ein bisschen geärgert, aber ich hab nichts Unrechtes zu ihr gesagt; ich hab ihr bloß ganz ruhig gesagt, dass der neue Pfarrer mich besucht hätte, dass ich mich mit meinem Kram beeilen und ihr dann helfen würde. Da hat sie sich beruhigt, und ich fand sie gar nicht mehr so schlimm, und wir war’n im Handumdrehn gut Freund. Und so ist es, Miss Grey: ›Eine linde Antwort stillt den Zorn; aber ein hartes Wort richtet Grimm an.‹ Es liegt nicht nur an den Menschen, mit denen man spricht, sondern auch an uns.«
»Sehr richtig, Nancy, wenn wir nur immer daran denken könnten.«
»Ja, wenn wir das könnten!«
»Und hat Mr. Weston Sie danach noch einmal besucht?«
»Ja, oft. Und seitdem’s mit meinen Augen so schlecht ist, hat er manchmal eine halbe Stunde bei mir gesessen und mir vorgelesen: Aber Sie wissen ja, Miss, er muss noch andre Leute besuchen und andre Dinge erledigen – Gott segne ihn! Und am Sonntag drauf hat er so schön gepredigt! Sein Text war: ›Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken‹ und die zwei schönen Verse danach. Sie waren nicht da, Miss, Sie waren ja bei Ihrer Familie – aber es hat mich so glücklich gemacht. Und ich bin jetzt auch glücklich, Gott sei Dank! Ich hab meine Freude dran, den Nachbarn mit Kleinigkeiten zu helfen – wie eine alte, halbblinde Person halt helfen kann; und sie nehmen es gern an, ganz wie er gesagt hat. Sehen Sie hier, Miss, jetzt strick ich zum Beispiel ein Paar Socken; sie sind für Thomas Jackson; er ist ein komischer alter Kauz, und wir haben ’ne Menge Zank miteinander gehabt und waren oft sehr uneins. Also hab ich gedacht, könnt ich nichts Besseres tun, als ihm ein Paar warme Strümpfe zu stricken, und seitdem ich damit angefangen hab, mag ich ihn schon viel lieber, den guten Alten. Genau, wie Mr. Weston gesagt hat.«
»Nun, ich freue mich, dass Sie so glücklich und auch so klug sind, Nancy, aber ich muss jetzt gehen; ich werde auf dem Gut erwartet«, sagte ich und verabschiedete mich, nicht ohne versprochen zu haben wiederzukommen, wenn ich Zeit hätte. Ich fühlte mich fast so glücklich wie sie.
Ein andermal ging ich, um einem armen Arbeiter vorzulesen, der sich im letzten Stadium der Schwindsucht befand. Die jungen Damen hatten ihn besucht und sich irgendwie das Versprechen abringen lassen, ihm vorzulesen; aber dann war es ihnen doch zu anstrengend, und sie baten mich, an ihrer Stelle hinzugehen. Ich ging nur zu gern; und auch hier wurden zu meiner Freude wahre Loblieder auf Mr. Weston gesungen, von beiden, dem kranken Mann und seiner Frau. Der Mann erzählte mir, wie sehr ihm die Besuche des neuen Pfarrers Trost brächten und wie gut sie ihm täten. Er sah häufig nach ihm und war anscheinend eine andere Sorte Mensch als Mr. Hatfield, der ihn vor der Ankunft des anderen Pfarrers ab und zu besucht hatte. Der hatte stets darauf bestanden, dass die Haustür offenblieb, weil er für sein Wohlbefinden frische Luft brauchte, und hatte keine Rücksicht darauf genommen, dass dies dem Patienten abträglich sein könnte; dann hatte er sein Gebetbuch aufgeschlagen, hastig ein Stück aus der Krankenmesse gelesen und war schnell davongeeilt, falls er nicht noch blieb, um der bedrückten Frau einen barschen Tadel zu erteilen oder eine gedankenlose, wenn nicht gar verletzende Bemerkung zu machen, die eher dazu angetan war, den Kummer des leidgeprüften Paares zu vergrößern als zu verringern.
»Während Mr. Weston«, sagte der Mann, »ganz anders mit mir betet und zu mir spricht, wie sich’s gehört, und mir oft vorliest und wie ein Bruder an meinem Bett sitzt.«
»Ja, weiß Gott!«, rief seine Frau; »und vor drei Wochen, als er geseh’n hat, dass der arme Jem vor Kälte gezittert hat und was für’n armseliges Feuer wir hatten, da hat er gefragt, ob unser Kohlenvorrat all’ wär. Ich hab ja gesagt und dass wir kein Geld hätten, um neue zu kaufen; aber wissen Sie was, Madam, ich hab nicht dran gedacht, dass er uns helfen wollte; aber am nächsten Tag hat er uns einen Sack Kohlen geschickt, und seitdem haben wir’s immer schön warm, und das kann man diesen Winter auch gut gebrauchen. Aber so isser, Miss Grey: Wenn er zu armen Leuten geht und Kranke besucht, dann sieht er gleich, was ihnen am meisten fehlt; und wenn er denkt, die können das selbst nicht leicht besorgen, dann sagt er kein Wort und besorgt’s für sie. Und das würd’ so schnell keiner tun, der so wenig hat wie er: Denn wissen Sie was, Madam, er hat nichts zum Leben als das, was der Gemeindepfarrer ihm gibt; und das ist wenig genug, sagen die Leute.«
Mit einer Art Triumph erinnerte ich mich daran, dass er vor kurzem noch von der liebenswürdigen Miss Murray als ordinärer Mensch bezeichnet worden war, weil er nur eine silberne Uhr und Kleider trug, die nicht ganz so elegant und neu waren wie die von Mr. Hatfield.
Als sich nach Horton Lodge zurückkehrte, fühlte ich mich sehr glücklich und dankte Gott, dass ich nun etwas zum Nachdenken hatte, etwas zum Verweilen, um mich von der ermüdenden Eintönigkeit, der einsamen Mühsal meines gegenwärtigen Lebens zu erholen: denn ich war einsam. Monat für Monat, Jahr für Jahr, außer während der kurzen Ruhepausen zu Hause, war ich niemals mit jemandem zusammen, dem ich mein Herz ausschütten und in der Hoffnung auf Sympathie oder gar Verständnis freimütig meine Gedanken mitteilen konnte: niemals außer mit der armen Nancy Brown; nur bei ihr fand ich ab und zu für einen Augenblick das Glück eines wirklich ungezwungenen menschlichen Umgangs; ihre Unterhaltung war dazu angetan, mich besser, klüger und glücklicher zu machen, und auch sie hatte, nach allem, was ich sah, einen Nutzen von den Gesprächen mit mir. Meine einzige Gesellschaft hatte aus unfreundlichen Kindern und dummen, dickköpfigen Mädchen bestanden, im Vergleich zu deren unausgesetzter Torheit ich den Zustand ungestörter Einsamkeit oft als ernstlich herbeisehnte, hoch geschätzte Erleichterung empfand. Auf derartige Gesellschaft beschränkt zu sein, war für mich schon jetzt, vor allem aber im Hinblick auf die Zukunft, sehr schädlich. Nie wurde eine neue Idee, ein aufrüttelnder Gedanke von außen an mich herangetragen; stieg aber ein Gedanke in mir auf, wurde er meistens gleich im Keim erstickt oder musste unausweichlich kränkeln oder verblassen, weil niemand seinen Sinn verstand.
Ständige Gefährten üben bekanntlich großen Einfluss aufeinander aus. Die Menschen, deren Handlungen wir täglich vor Augen haben, deren Worte uns unaufhörlich zu Ohren dringen, bringen uns auch gegen unseren Willen naturgemäß dazu, mit der Zeit allmählich, vielleicht unmerklich, so zu handeln und zu sprechen wie sie selbst. Ich maße mir nicht an zu sagen, wie weit diese unaufhaltsame Macht der Anpassung geht; aber wenn ein zivilisierter Mensch dazu verurteilt würde, ein Dutzend Jahre inmitten von ungezähmten Wilden zu verbringen, und nicht die Kraft hätte, sie zu bessern, dann frage ich mich, ob er nach Ablauf dieser Zeit nicht selbst ein Barbar geworden wäre. Und da ich nicht in der Lage war, meine jungen Gefährtinnen zu bessern, fürchtete ich, ihretwegen schlechter zu werden und all meine Gefühle, Gewohnheiten und Fähigkeiten allmählich auf ihr Niveau absinken zu sehen, ohne dass etwas von ihrer Sorglosigkeit und fröhlichen Munterkeit auf mich überginge.
Schon vermeinte ich zu spüren, wie mein Verstand nachließ, mein Herz versteinerte und meine Seele verkümmerte; und mir war bang, dass unter dem verderblichen Einfluss einer derartigen Lebensweise meine moralischen Vorstellungen schließlich geschwächt, der Unterschied zwischen richtig und falsch verwischt und all meine guten Eigenschaften zunichtegemacht würden. Die dichten, irdischen Nebelschwaden umhüllten mich und brachen über mein Inneres herein; und so kam es schließlich, dass ich an Mr. Weston denken musste, der wie der Morgenstern am Horizont aufgegangen war, um mich von meiner Furcht vor der absoluten Finsternis zu erlösen; und ich freute mich, jemanden, der mir über- und nicht unterlegen war, zum Gegenstand meiner Betrachtungen machen zu können. Ich war froh, dass die Welt nicht nur aus Bloomfields, Murrays, Hatfields und Ashbys bestand und menschliche Güte nicht nur in der Phantasie existierte. Wenn man auch nur ein wenig Gutes und nichts Nachteiliges über jemanden hört, ist es einfach und schön, sich mehr vorzustellen: Kurz, es ist sinnlos, all meine Gedanken zu erforschen. Aber der Sonntag war nun ein Tag, den ich ganz besonders genoss – auch wenn ich jetzt fast immer in die Ecke der Kutsche gedrängt wurde –, denn ich wollte ihn hören – und sehen, obwohl ich wusste, dass er nicht hübsch war oder auch nur das, was man gemeinhin als ansprechend bezeichnet: Aber er war auf keinen Fall hässlich.
Er war etwas mehr als mittelgroß; die Konturen seines Gesichts waren zu scharfkantig, um es als schön zu bezeichnen, für mich aber sprachen sie von Entschlusskraft; sein dunkelbraunes Haar war nicht so sorgfältig gelockt wie das von Mr. Hatfield, sondern über der breiten, weißen Stirn schlicht zur Seite gebürstet; seine Augenbrauen waren wohl etwas zu buschig, aber die Augen unter diesen Brauen besaßen eine eigentümliche Kraft; sie waren braun, nicht groß, etwas tiefliegend, aber von auffallendem Glanz und voller Ausdruck; auch sein Mund hatte Charakter und ließ Zielstrebigkeit und den geübten Denker erkennen; und wenn er lächelte – aber davon will ich noch nicht sprechen, denn zu dem Zeitpunkt, von dem ich berichte, hatte ich ihn noch nie lächeln sehen; auch erweckte seine äußere Erscheinung in mir nicht den Eindruck, als würde er sich diese Entspannung gönnen, noch konnte ich ihn mir so vorstellen, wie ihn die Häusler beschrieben. Ich hatte mir schon früh eine Meinung über ihn gebildet und war trotz der Einschätzung Miss Murrays fest davon überzeugt, dass er ein Mann mit scharfem Verstand, festem Glauben und tiefer Frömmigkeit war, aber auch nachdenklich und unbeugsam; und die Entdeckung, dass zu all seinen guten Eigenschaften auch noch wahre Nächstenliebe und ein gütiges, rücksichtsvolles Verhalten kamen, freute mich umso mehr, da ich gar nicht darauf gefasst gewesen war.