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In den nächsten Wochen schrieben wir uns immer wieder, mal kurz zwischendurch oder auch länger wie an jenem ersten Samstag.

Um genau zu sein, schrieb ich irgendwann nur noch Tom und niemand anderem mehr, obwohl sowohl Stefan als auch Miquel immer wieder fragten, was denn los sei und warum sie nichts mehr von mir hören würden. Irgendwann meldeten auch sie sich nicht mehr und die Friendscout24-Seite erfüllte für mich nun nur noch den Zweck, Kontakt zu Tom herzustellen.

Ob es ihm genauso ging oder ob er noch anderen Frauen schrieb? Ich fragte nicht nach und wollte es auch gar nicht wirklich wissen. Sicher wurde er permanent angeschrieben, jemand mit seinem Aussehen blieb ja auch anderen Frauen nicht verborgen.

Immer wieder grübelte ich darüber nach, warum Tom wohl so großes Interesse an mir hatte, da ich mich nach wie vor eher für durchschnittlich hielt, was mein Aussehen betraf. Ich spielte doch eigentlich in einer ganz anderen Liga als er.

Aber Tom schien das anders zu sehen. Er machte mir ständig Komplimente für mein hübsches Lächeln, auf welches er sich angeblich immer freute, wenn er meine Profilseite öffnen würde. Auch fände er meine Augen so ausdrucksstark und tiefgründig, dass er gern einmal selbst hineinsehen würde. Womit wir beim Thema wären ... irgendwann kam die unvermeidliche Frage, vor der ich mich insgeheim schon die ganze Zeit gefürchtet hatte.

Tom: Merle, was meinst Du? Sollten wir uns nicht mal persönlich kennenlernen? Jetzt schreiben wir uns schon seit Ewigkeiten und ich habe das Gefühl, dass langsam der Zeitpunkt gekommen ist, dass wir uns sehen ... Ich kann auch gern zu Dir kommen oder wir treffen uns irgendwo in der Mitte?

Merle: Ich überlege es mir, Tom. Ich habe ziemlich viel um die Ohren momentan, aber gewiss finden wir einen Abend, an dem wir beide können. Ich würde Dich auch sehr gerne persönlich kennenlernen.

Um ehrlich zu sein, hatte ich natürlich rein gar nichts um die Ohren und theoretisch mehr als genug Zeit für ein Treffen, aber ich schaffe es einfach nicht mich dazu durchzuringen, Tom einen konkreten Termin zu nennen, an dem wir uns treffen könnten.

Anne verstand deswegen die Welt nicht mehr.

"Warum um Himmels willen willst Du diesen Traum von einem Mann nicht treffen? Das war doch Sinn und Zweck der ganzen Friendscout24-Aktion und nun ist da jemand, der sich scheinbar auch brennend für Dich interessiert und Du willst plötzlich nicht? Ich versteh Dich wirklich nicht," schimpfte sie.

"Genau das ist doch der Punkt, Anne. Er ist ein Traum von einem Mann und ich bin ...", setzte ich an.

"Stopp," rief Anne, "Du willst jetzt nicht wieder mit der Nummer anfangen, dass Du ja das ach so arme graue Mäuschen bist, dem er, sobald er Dich sehen wird, sofort wieder den Rücken kehrt, oder? Das stimmt einfach nicht, Merle! Ihr schreibt Euch jetzt wie lange?"

"Fast zwei Monate ... und davon eigentlich so gut wie jeden Tag", antwortete ich wahrheitsgemäß.

"Siehst Du! Er möchte Dich kennenlernen und Du willst ihn kennenlernen. Im Grunde kennt Ihr Euch ja schon, es fehlt halt nur noch dieser eine letzte Schritt. Geh ihn!"

Anne, der ich von Anfang an haarklein Bericht erstattet hatte, was Tom anging, war schlichtweg begeistert von ihm. Ihre großen Augen, als ich ihr an einem Abend bei mir zuhause erstmals sein Profilbild gezeigt hatte, werde ich nicht so schnell vergessen. Ich glaubte fast, sie würde direkt nach Hause fahren, den Rechner anschmeißen und selbst eine Nachricht an Tom verfassen. Was sie selbstverständlich nicht tat, denn sie war meine Freundin und außerdem immer noch mit Jan zusammen.

Nach einer weiteren Woche intensiven Grübelns meinerseits, nahm ich mir schließlich ein Herz und schlug Tom vor, mich am kommenden Samstag zu besuchen.

Ohne zu zögern, nahm er die Einladung an und meinte, dass wir doch vielleicht irgendwo etwas essen gehen und uns später gemeinsam "Die zauberhafte Welt der Amelié" im Kino ansehen könnten. Oder hast Du ihn inzwischen schon gesehen?, fragte er. Als ich dies verneinte und ihm sagte, dass ich diese Idee wunderbar fände, stand also unser erstes Date.

Ich versprach, mich um die Kino-Reservierung zu kümmern und ein passendes Lokal auszusuchen und ihm dann entsprechend Bescheid zu geben.

Als ich an diesem Abend den Computer ausschaltete, war ich ein nervöses Nervenbündel und fand die ganze Nacht nicht in den Schlaf.

Noch drei Tage und ich würde Tom treffen.

Am Donnerstag vor dem besagten Samstag traf ich mich am Nachmittag mit Anne in der Stadt.

Sie hatte mich gebeten, sie zu begleiten, um ein geeignetes Abendkleid für sie auszusuchen ... als wäre ich da die passende Beratung. Aber natürlich tat ich ihr den Gefallen und wir fanden nach zwei Anläufen ein atemberaubendes enges royalblaues Kleid für sie, welches ihrem schlanken Körper schmeichelte und ihre blauen Augen wunderbar zur Geltung machte. Auf der Hochzeit ihrer Cousine, zu der sie es tragen wollte, würden vermutlich allen Männern die Augen aus dem Kopf fallen ... wobei ich inständig hoffte, dass es dem Bräutigam nicht so gehen würde.

"Los, erzähl, wie habt Ihr den Abend geplant?", fragte Anne neugierig, während sie sich vor dem Spiegel hin und her drehte.

"Wir gehen erst zu Paulo`s und dann ins Kino ... Die zauberhafte Welt der Amelié", antwortete ich knapp angebunden.

Stirnrunzelnd sah Anne mich an: "Alles ok? Soll ich besser nicht mehr fragen?"

Ich schloss kurz die Augen, atmete tief durch und seufzte: "Ach, Anne, nein, das ist es nicht. Ich bin nur so schrecklich nervös. Ich kriege vermutlich kein einziges Wort raus, wenn er vor mir steht ..."

Ich sah sie hilfesuchend an: "... und was ich anziehen soll, weiß ich auch nicht."

Anne lächelte und legte den Arm um mich: "Hey, wozu hast Du mich denn? Wir haben doch bei unserer letzten Shoppingtour ein paar hübsche Teile für Dich erstanden, da ist sicher was Passendes dabei? Soll ich vielleicht am Samstag vorher vorbeikommen und ich helfe Dir beim Aussuchen?"

Dankbar sah ich sie an: "Danke, das wäre toll."

Eh ich mich versah, war Tag X gekommen: Samstag, 5. April. Heute würde ich also Tom kennenlernen.

Wie verabredet, kam Anne um die Mittagszeit zu mir. Nicht genug damit, dass sie diverse Kleidungsstücke aus ihrem eigenen Kleidungsschrank mitgebracht hatte - als wenn ich da reinpassen würde, definitiv war sie wesentlich schlanker als ich; zwar war ich nicht dick, aber mit meinem 1,69m nicht so zierlich wie sie -, außerdem hatte sie noch einen prall gefüllten Schminkkoffer dabei.

Meinen missbilligenden Blick darauf, winkte sie sofort lachend ab, da sie genau wusste, dass übermäßiges Schminken nicht mein Ding war. Vermutlich würde meine Gesichtsfarbe eh einer überreifen roten Tomate gleichen, so dass zusätzliches Rouge albern wäre.

Ich war frisch geduscht, meine Haare hatten eine Extraportion Kurspülung erhalten und fielen mir heute ausnahmsweise in weichen Wellen über die Schultern. Auch hatte ich meine Beine, meine Achseln und auch die Bikinizone gründlich rasiert ... warum auch immer, ich hatte definitiv nicht vor, dass irgendjemand sie heute zu Gesicht bekam, aber vielleicht war es des guten Gefühls wegen, redete ich mir ein, nachdem ich mich selbst fragend im Spiegel angesehen hatte.

Anne und ich verbrachten erst eine Weile damit, den Inhalt meines Kleiderschranks zu begutachten, bevor ich mich schließlich auf Anne`s Rat hin für eine der neuen Jeanshosen, die mir tatsächlich einen ganz schön knackigen Po zauberten, und die neue pfirsichfarbene Bluse, die meine haselnussbraunen Augen gut zur Geltung brachten, entschied. Darüber würde ich die hellbraune Lederjacke ziehen und die braunen, mittelhohen Schuhe.

"Perfekt," begutachtete Anne zusammen mit mir das Ergebnis im Flurspiegel, "und jetzt komm: Um ein bisschen Schminkerei kommst Du mir heute nicht herum."

Widerwillig murrend ließ ich mich von ihr ins Bad schieben und hockte mich auf den Badewannenrand. Während sie meinem Gesicht durch den Einsatz von Puder den Glanz nahm, einen leichten Lidschatten auflegte, Mascara und Lidstrich setzte, hing ich meinen Gedanken nach.

Wie das Treffen wohl werden würde? Würden wir uns genauso gut verstehen wie in unseren zahllosen Chat-Unterhaltungen? Würde ich überhaupt in der Lage sein zu sprechen?

Panisch schlug ich die Augen auf, was mir einen entsetzten Aufschrei von Anne einbrachte, die gerade dabei war, den Lidschatten aufzutragen.

"Ich kann das nicht, Anne," jammerte ich, "ich bin viel zu aufgeregt und werde keinen Ton herausbekommen."

"Natürlich wirst Du einen Ton herausbekommen, glaub mir. Ihr werdet Euch phantastisch verstehen, da bin ich mir hundertprozentig sicher," versicherte Anne mir zum wiederholten Male und bat mich, wieder die Augen zu schließen.

Nachdem Anne gegangen war und sie mir noch einmal versichert hatte, dass bestimmt ein wunderbarer Abend auf mich warten würde, trat ich ans Fenster und sah auf die belebte Straße unter mir. Es war später Samstagnachmittag und da ich recht zentral in der Innenstadt wohnte, wimmelte es unter mir von Menschen, die auf dem Weg in die nahegelegene Fußgängerzone waren oder sonstigen Freizeitaktivitäten entgegen strebten.

Tom hatte mir mitgeteilt, dass er mit dem Zug anreisen und planmäßig gegen 17.30 Uhr am Hauptbahnhof eintreffen würde. Anne`s und mein Stammitaliener "Paulo`s" lag nicht weit entfernt vom Hauptbahnhof und ich hatte zu 18.00 Uhr einen Tisch bestellt. Von dort aus würden wir nach dem gemeinsamen Abendessen fußläufig das Kino erreichen können.

Nach wie vor hoffte ich insgeheim, dass es überhaupt zum gemeinsamen Kinobesuch kam und Tom nicht schon nach dem gemeinsamen Abendessen bereits wieder auf dem Weg zum Bahnhof war, um schnell Reißaus zu nehmen.

Kopfschüttelnd angesichts meiner wieder aufsteigenden Panik machte ich mich auf den Weg. Nach einem Fußweg von knapp 15 Minuten kam ich also bei "Paulo`s" an und platzierte mich etwas versteckt hinter einer der Säulen neben dem Eingangsbereich.

Wie oft ich in den folgenden Minuten auf die Uhr geschaut hatte, konnte ich nicht mehr sagen, aber es war definitiv öfter, als ein normaler Mensch das eigentlich tun würde. Einem erneuten Blick auf die Uhr konnte ich entnehmen, dass es inzwischen bereits 17.53 Uhr war und langsam kamen mir Zweifel. Eigentlich sollte Tom schon hier sein, vorausgesetzt sein Zug war pünktlich. Ja, das war es bestimmt, redete ich mir ein, der Zug war sicher unpünktlich gewesen.

Nervös trat ich von einem Bein auf das andere und hielt weiter angestrengt Ausschau nach Tom.

Als ich um Punkt 18.00 Uhr wieder auf die Uhr schaute und seufzend den Kopf hob, erblickte ich ihn plötzlich. Tom! Da kam er direkt auf mich zu und schien mich bereits entdeckt zu haben.

Oh mein Gott! Er hatte genau den lässigen Gang, den ich mir immer ausgemalt hatte, und sah auch in Natura einfach nur umwerfend aus.

Er trug eine schwarze Jeans und ein langärmeliges weißes Shirt, mit irgendeinem Aufdruck, den ich nicht erkennen konnte. Auch er hatte sich ebenfalls für eine dunkle Lederjacke entschieden, die er sich über die Schulter geworfen hatte und mit einer Hand festhielt. In der anderen Hand trug er eine kleine Reisetasche.

Seine schwarzen Haare glänzten in der Sonne, seine Haut war leicht gebräunt und die strahlendblauen Augen sahen genau in die meinen. Was mir aber am meisten in Erinnerung geblieben ist, war sein herzliches strahlendes Lächeln, mit dem er mich schon aus der Ferne bedachte. Er hatte mich wirklich sofort erkannt.

"Merle? Hey, wie schön, Dich endlich einmal in voller Größe zu sehen?", strahlte er und reichte mir, nachdem er seine Tasche auf dem Boden abgesetzt hatte, seine Hand. Immer noch nervös reichte ich ihm meine und war völlig überrumpelt, als er zugriff und mich leicht an sich zog, um mir einen Kuss auf die rechte Wange zu geben. Klar, man machte das so, aber ich hatte gerade das Gefühl, als würde ich nicht mehr auf einem Bürgersteig stehen, sondern plötzlich auf Wattebällchen balancieren. Tom roch nach einer Mischung aus frisch gewaschener Kleidung, Duschgel und Aftershave ... einfach köstlich.

Als er einen Schritt zurücktrat und wir unsere Hände wieder lösten, bemerkte ich, dass ich bisher noch keinen Laut von mir gegeben hatte und ihn wie ein hypnotisiertes Kaninchen anstarrte. Verdammt, ich hatte es gewusst, ich würde nicht sprechen können.

Zu allem Übel legte Tom nun auch noch den Kopf schräg und sah mich fragend an: "Alles in Ordnung? Du siehst so ... verschreckt aus?"

Ich blickte kurz nach unten und versuchte mich zu sammeln, bis ich es schließlich schaffte, ihn lächelnd anzusehen: "Nein, nein, alles klar. Hallo Tom!"

Tom lächelte mich an und sah dann zum Eingangsbereich des "Paulo`s". "Du hast einen Italiener ausgesucht? Das ist perfekt, ich liebe Pizza. Wollen wir vielleicht einfach reingehen?"

Ich versuchte Bewegung in meine Beine zu bringen, die sich gerade wie am Boden festgewachsen anfühlten und nickte heftig: "Ja, sicher, lass uns reingehen".

Nachdem wir es bis an den von mir reservierten Tisch geschafft hatten, hielt Tom mir die Hand hin, um meine Jacke entgegenzunehmen. Ich zog sie aus, reichte sie ihm und beobachtete ihn verstohlen, während er sie gemeinsam mit seiner Jacke an der Garderobe aufhängte. Er sah wirklich genauso gut aus, wie er auf seinen Profilbildern gewirkt hatte. Groß, gut gebaut ... er war ein sehr schöner Mann.

Nachdem wir uns gesetzt hatten und der Kellner uns die Karten gebracht hatte, studierte ich diese intensiv, obwohl ich genau wusste, was es hier gab und schon vorher wusste, dass ich wieder die Lasagne nehmen würde. Während ich schweigend auf meine Karte herabblickte, merkte ich irgendwann Tom`s Blick auf mir ruhen.

"Merle, was ist los? Schüchtere ich Dich etwa so ein, dass Du mir kaum in die Augen sehen kannst?"

Ich sah auf und blickte in Tom's fragendes Gesicht. Seine blauen Augen waren fest auf mich gerichtet und auf seinen Lippen lag ein sanftes Lächeln.

"Ich ... ich ... nein ... doch, ja, ich bin leider von Natur aus sehr schüchtern," brachte ich schließlich stockend hervor und merkte, wie mir die Röte in die Wangen schoss. Na toll, da war sie also die überreife rote Tomate. Beschämt blickte ich wieder auf die Karte.

"Merle, schau mich doch bitte mal an," bat Tom in einem zu seinem sanftem Lächeln passenden Ton.

Ich bemühte mich, wieder aufzusehen und blickte in seine aufmunternde Miene.

"Nun schreiben wir uns schon seit so langer Zeit ... fast jeden Tag ... und ich habe das Gefühl, dass Du schon viel von mir weißt. Und auch ich bilde mir ein, Dich irgendwie schon gut zu kennen. Du wirktest während unserer Unterhaltungen so lebendig und ich habe mich sehr auf dieses Treffen mit Dir gefreut. Ich hoffe, dass es Dir genauso geht?"

"Natürlich," antwortete ich wie aus der Pistole geschossen und war selbst überrascht, wie schnell dieses Wort über meine Lippen kam, "... ich habe mich auch sehr gefreut. Ich brauche wohl einfach einen Moment ... um Aufzutauen." Ich lächelte entschuldigend. "Hast Du Dir schon überlegt, was Du essen möchtest? Ich kann Dir die Lasagne empfehlen, sie ist Paulo`s Spezialität."

"Ok, also Lasagne," lachte er und klappte die Karte zu.

Nachdem der Kellner unsere Bestellung entgegengenommen hatte und mit den Karten Richtung Küche verschwand, beugte Tom sich vor und legte die Arme vor sich auf den Tisch. Mein Blick fiel auf seine Hände, die überaus gepflegt wirkten und sofort erkennen ließen, dass er keinen handwerklichen Beruf ausübte.

"So, und jetzt kannst Du mir die Geschichte von Deinem ehemaligen Chef erzählen. Ich brenne drauf, sie endlich zu hören."

Ich lachte und erinnerte mich, dass dieses Thema gestern Abend während unseres letzten Chat-Gesprächs aufgekommen war und ich Tom angesichts der fortgeschrittenen Uhrzeit vorgeschlagen hatte, ihm das bei unserem heutigen Treffen einfach ausführlich zu erzählen. Also begann ich ihm von Ekel-Konrad zu berichten, verschwieg aber natürlich, wie sehr mich sein verbaler Angriff damals heruntergezogen hatte.

Als ich meine Geschichte beendete, fiel mir Tom's prüfender Gesichtsausdruck auf. Während der ganzen Zeit, in der ich gesprochen hatte, hatte er mich nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen.

"Er hat Dir mit seinen Äußerungen ziemlich wehgetan, oder?", fragte er schließlich.

"Na ja, schon, aber so wirklich ernst nehmen konnte ich das natürlich nicht", wiegelte ich schnell ab und winkte wegwerfend mit der Hand.

"Das solltest Du auch nicht, denn Du hast keinerlei Grund Dich zu verstecken. Ich habe Dir schon mal geschrieben und wiederhole es gern jetzt auch nochmal persönlich, dass Du ein wirklich hübsches Lächeln hast und Deine Augen mich vom ersten Moment an fasziniert haben ... obwohl sie mich nur von einem Bild aus angesehen haben. Ich war sehr gespannt darauf, Dir in die Augen zu sehen und muss sagen, dass ich immer noch eine gewisse Faszination spüre, wenn ich Dich ansehe."

Verlegen blickte ich sofort wieder auf die Tischplatte.

"Und sofort sieht sie wieder weg," lachte Tom und legte mir eine Hand auf den Arm.

Angesichts dieser vertrauten Geste und der Wärme, die Tom die ganze Zeit ausstrahlte, entspannte ich mich zunehmend und fand langsam auch meine Sprache wieder.

"Entschuldige", sagte ich, während ich wieder aufblickte und ihm nun auch wieder in die Augen sah, "ich bin es einfach nicht gewohnt, dass man mir großartige Komplimente macht. In der Regel bewege ich mich mehr im Hintergrund. Daher freue ich mich auch gerade wirklich sehr über Deine netten Worte."

"Na also, dann wollen wir jetzt mal die Lasagne genießen", sagte Tom genau in dem Moment, als der Kellner unser Essen brachte. Leider musste er deswegen natürlich seine Hand wieder von meinem Arm nehmen, was ich sehr bedauerlich fand.

Nachdem Tom mir versicherte, dass die Lasagne einfach köstlich sei und er dafür gerne auf seine geliebte Pizza verzichtet hätte, verlief der Rest der Unterhaltung locker und entspannt.

Tom erzählte mir von seiner Familie, ein Thema, das wir bisher noch nicht angeschnitten hatten. Ich erfuhr, dass er als einziger Sohn eines Bankers und einer Lehrerin aufgewachsen war. Seinen Erzählungen nach zu urteilen, hatte er eine ähnlich unbeschwerte Kindheit verbracht wie ich, in der es keine nennenswerten Vorfälle zu geben schien. Nach dem Abitur war er erst nach Berlin gezogen, obwohl sein Vater, mittlerweile ein erfolgreicher Banker, ihn gerne auch in einem der Hochhäuser der Frankfurter Skyline gesehen hätte. Dies, so berichtete Tom mit bestimmter Stimme, sei aber alles andere als etwas für ihn gewesen. Er habe immer im kreativen Bereich tätig sein wollen und die Ausbildung zum Grafikdesigner sei nach wie vor genau das Richtige für ihn gewesen. Mit 28 Jahren war er dann schließlich nach Hamburg gezogen, wo er nun seit drei Jahren lebte. Die vielen ansässigen Werbeagenturen in der Stadt seien einfach ein idealer Arbeitsort für ihn.

Gespannt lauschte ich seinen Berichten, er schien so überzeugt von sich und seinem bisherigen Lebensweg zu sein, dass er ein so großes Selbstvertrauen ausstrahlte, das ich mir für mich nicht mal zu erträumen wagte. Niemals hätte ich über meinen Beruf so ins Schwärmen geraten können. Ich empfand mich viel mehr als eine von vielen, die in der Menge einfach unterging. Genau das sagte ich auch zu Tom, als er mich nach meinem beruflichen Werdegang befragte. Nachdem ich berichtet hatte, dass ich in einer Rechtsanwaltskanzlei eine Ausbildung zur Rechtsanwalts- und Notariatsgehilfin absolviert hatte und in Anschluss gleich in das Autohaus gewechselt war, wo ich jetzt mehr oder weniger verdorrte, lachte er herzlich und meinte, dass mein Leben mit 29 Jahren ja nun sicher noch nicht vorbei sei und es nie zu spät für einen Neuanfang sei.

Wir tranken noch einen Expresso und ich bezahlte die Rechnung. Tom protestierte zwar energisch, aber schließlich war er den weiten Weg hierher gefahren, so dass ich es für das Mindeste hielt, ihn einzuladen. Nach kurzer Diskussion gab er schließlich nach, obwohl ich mir sicher war, dass er sich noch nicht komplett geschlagen geben würde.

Tatsächlich schaffte er es dann im Kino die Karten zu bezahlen und uns beiden zusätzlich noch ein Getränk mitzubringen. Ich kann mich noch zu gut an seine belustigt funkelnden Augen und das breite Grinsen erinnern, als ich von der Toilette zurückkam und ihn mit den bereits abgeholten Karten in der Hand wedeln sah.

Da ich, wenn ich mit Anne ins Kino ging, immer die letzte Reihe reservierte, hatte ich es diesmal aus reiner Gewohnheit heraus ebenfalls so gemacht. Als wir nun unsere Plätze einnahmen, war es mir fast ein wenig unangenehm hier zu sitzen. Es kam mir vor, als müsste Tom sofort merken, dass ich so ungestört wie möglich mit ihm sein wollte, was ich aber ganz ehrlich nie als Hintergedanken gehabt hatte.

Der Film war einfach fabelhaft ... glaube ich zumindest, denn im Nachhinein gesehen, habe ich fast nichts davon mitbekommen. Die Nähe zu Tom und seine vertraute Art, mir zwischendurch immer wieder etwas ins Ohr zu flüstern, was den Film betraf und dabei seine Hand auf meinen Arm zu legen, lenkten mich dermaßen vom Filmgeschehen ab, dass ich mich später kaum noch erinnern konnte. Ich würde ihn mir also später definitiv noch einmal ansehen müssen, um überhaupt mitreden zu können. Tom hingegen machte, wie schon den ganzen Abend, einen völlig entspannten Eindruck.

Nachdem der Film dem Ende zuging, fragte ich mich insgeheim, wie der Abend wohl enden würde. Sollten wir noch etwas trinken gehen? Vielleicht in der kleinen Bar neben dem Kino? Oder würde Tom sich direkt auf den Heimweg machen wollen? Ich hatte keine Ahnung, wann wohl der letzte Zug nach Hamburg fahren würde und bisher auch keinen weiteren Gedanken daran verschwendet. Leicht schwermütig fragte ich mich, ob wir uns nach diesem Abend wohl noch einmal wiedersehen würden. Anne hatte Recht gehabt ... der Abend war bis dato einfach wundervoll gewesen. Aber sah Tom das wirklich genauso? Vielleicht war er einfach freundlich und da er nun sowieso bis hierher gefahren war, machte er das Beste daraus. Mein nicht vorhandenes Selbstbewusstsein kam in diesem Moment natürlich nicht darauf, dass Tom tatsächlich ein echtes Interesse an mir haben könnte.

Als wir später in die kühle Abendluft heraustraten, standen wir kurz schweigend nebeneinander und es schien, als würden wir beide unseren Gedanken nachhängen. Nach einer Weile räusperte ich mich und wandte mich ihm zu: "Wie hast Du eigentlich geplant? Fährt Dein Zug gleich zurück oder hättest Du noch Zeit und Lust auf einen kleinen Absacker? Hier gibt es gleich um die Ecke eine ganz nette Bar ..."

"Ja, sehr gerne können wir noch etwas Trinken und nein, ich fahre heute nicht mehr zurück", sagte Tom.

Erstaunt sah ich ihn an. Wie? Er würde heute nicht mehr zurückfahren? Aber wo bitte wollte er denn die Nacht verbringen, doch wohl nicht bei ... mir? Ich schluckte schwer. Darauf wäre ich nun wirklich nicht vorbereitet.

"Guck mich nicht so an, Merle", lachte Tom, der anscheinend die Panik in meinem Gesicht gesehen hatte, "ich habe mir ein Hotelzimmer gebucht für heute Nacht und würde mich wahnsinnig freuen, wenn wir zwei uns morgen vielleicht noch auf ein Frühstück treffen könnten, bevor ich mich auf den Rückweg mache."

"Ja, natürlich ... unbedingt", versicherte ich ihm erleichtert, "das machen wir auf jeden Fall."

Der Rest des Abends verlief ähnlich harmonisch wie bisher und nachdem ich Tom zu seinem Hotel begleitet hatte, war der Moment des Abschieds gekommen. Nachdem wir uns beide versichert hatten, wie schön wir den Abend fanden, zog Tom mich in eine Umarmung und gab mir diesmal nicht nur auf die rechte, sondern auch auf die linke Wange einen Kuss. Dann verschwand er mit einem letzten Zwinkern im Hotel-Eingang.

Auf dem Rückweg durch die kühle Aprilnacht ließ ich den Abend noch einmal Revue passieren. Ich weiß nicht, wie ich mir den Verlauf des Abends im Vorhinein vorgestellt hatte, aber ich wusste jetzt, dass er nicht besser hätte laufen können. Tom hatte mich mit seiner herzlichen und offenen Art komplett in seinen Bann gezogen und es war mir selten so leicht gefallen, eine Unterhaltung mit jemanden zu führen ... zumindest nicht mit einen Mann. Er hörte mir aufmerksam zu, wenn ich etwas erzählte, sah mich dabei fast die ganze Zeit an und schien aufrichtig interessiert zu sein, an dem, was ich von mir gab. Außerdem musste ich zugeben, dass ich mich wahnsinnig freute, ihn bereits am nächsten Morgen wiederzusehen.

Ich wachte am Morgen nach unserem Treffen sehr früh auf, was eigentlich sonst gar nicht meine Art war, da ich eher zur Kategorie der Langschläfer gehörte. Doch meine Aufregung hatte sich immer noch nicht ganz gelegt und ich sprang schnell unter die Dusche und machte mich sorgfältig zurecht. Anne hatte gestern in weiser Voraussicht ihren Schminkkoffer hiergelassen, so dass ich jetzt alle Utensilien griffbereit hatte ... konnte sie hellsehen, oder was? Leider war ich nicht ganz so geübt wie sie, aber das Endergebnis, das mich aus dem Spiegel ansah, ließ mich zufrieden lächeln.

Tom und ich trafen uns wie verabredet um 10.00 Uhr vor seinem Hotel und gingen nach einer herzlichen Begrüßung, die mir wiederum zwei Küsse auf die Wangen bescherte, zu einem Bistro in der Nähe. Ich war dort schon einige Male mit meiner Mutter oder Freundinnen gewesen und wusste, dass das Frühstück dort hervorragend war.

Die Unterhaltung mit Tom war an diesem Morgen so, als hätten wir uns zwischendurch gar nicht getrennt, um schlafen zu gehen. Wir lachten viel, berührten uns gegenseitig flüchtig am Arm oder der Hand und kamen aus dem Reden gar nicht mehr heraus.

Leider ging der Vormittag viel zu rasch herum. Tom's Zug sollte um 14.40 Uhr abfahren, so dass wir schließlich nur noch gut eine Stunde Zeit hatten. Ich hatte Tom gesagt, dass ich ihn auf jeden Fall zum Bahnhof bringen würde, was er aufrichtig erfreut zur Kenntnis nahm.

Am Bahnhof angekommen, hatten wir noch knapp 20 Minuten, bevor Tom auf den Bahnsteig musste. In der Bahnhofsvorhalle herrschte gemäßigtes Treiben, es war Sonntag und es waren keine Berufspendler unterwegs.

"Der gestrige Abend und der Vormittag waren wunderschön, Merle," begann Tom und sah mir tief in die Augen, "ich hoffe, Du hast Dich in meiner Gesellschaft ebenso wohl gefühlt wie ich mich in Deiner?"

"Ja ... ja ... sehr wohl gefühlt habe ich mich," stotterte ich angesichts des atemberaubenden Blautons seiner Augen, in denen ich gerade fast zu versinken schien. Tom lächelte und nahm meine Hand. Es war, als würden elektrische Stromschläge mich durchfahren, als seine Finger meine berührten. Sanft strich er mit seinem Daumen über meinen Handrücken, während seine andere Hand mir erst eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht entfernte und sie mir hinter mein Ohr strich, um sie dann auf meine Wange zu legen. Wie automatisch schienen sich meine Lippen leicht zu öffnen und ich sah ihn erwartungsvoll an. Tom's Blick ging von meinen Augen hinunter zu meinen Lippen und zurück zu meinen Augen. Langsam näherten sich unsere Gesichter einander und noch bevor seine Lippen die meinen trafen, hatte ich bereits meine Augen geschlossen.

Dieser erste Kuss war wohl der schönste meines bisherigen Lebens. Sanft und weich schlossen sich seine Lippen um meine und nach kurzem Verharren trafen sich unsere Zungen. Langsam und zärtlich spielten sie miteinander, bis wir uns schließlich voneinander lösten. Tom, der mich während des Kusses in eine feste Umarmung gezogen hatte, sah zu mir herab und lächelte fast liebevoll.

"Schön, Dich kennengelernt zu haben, Merle," flüsterte er und lehnte die Stirn an meine.

"Schön, Dich kennengelernt zu haben, Tom," flüsterte ich ebenso leise zurück.

"Ich muss leider jetzt gehen ...," sagte er und löste sich langsam aus unserer Umarmung.

"Werden wir uns wiedersehen?", platzte es hoffnungsvoll aus mir heraus, während ich zusah, wie er seine Tasche aufhob und sich Richtung Bahnsteig wandte.

"Das hoffe ich doch sehr", sagte er, "ich melde mich bei Dir, sobald ich zuhause bin."

Und er hielt sein Versprechen.

Nurfürdich

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