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KAPITEL 1

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WESLEY

»Hey, kann mir irgendjemand erklären, warum meine T-Shirt-Schublade leer ist?«, fragte Ridge Pfeiffer, als er auf die Terrasse kam, auf der sich unsere kleine Truppe versammelt hatte. Unser höchsteigener Rückholungsexperte (sprich: Dieb) war von der Hüfte aufwärts nackt, warf uns aus seinen blauen Augen einen finsteren Blick zu und sah mit seinen blonden Locken wie der größte und angefressenste Botticelli-Engel der Welt aus.

Ich nahm meine Sonnenbrille ab, um ihn zu betrachten, und setzte sie dann wieder auf, damit ich mich auf mein Handy konzentrieren konnte. Gerade war ich an einer Spear-Phishing-Sache gegen Campbell Enterprises dran, die nach langer Zeit kurz vor dem Abschluss stand. Mit gefälschten Nachrichten kam ich am besten an die gewünschten Informationen. Das war wesentlich interessanter als alles, was Ridge zu sagen hatte.

Janie, schrieb ich, ich sitze mit Dal Anderson im Flugzeug, und er will eine kurze Zusammenfassung der Presseerklärung vom Donnerstag, damit wir Kernfragen für die Investoren vorbereiten können!! Kann von hier aus nicht auf den sicheren Server zugreifen und drehe DURCH!! Schickst du mir was? – Becks.

So. Das sollte reichen.

Becks, alias Rebecca Frankel, laut ihrem LinkedIn-Profil Chefassistentin des Vizepräsidenten der Personalabteilung bei Campbell, war entzückend naiv und hilfsbereit. Als letztens zum Beispiel ein freundlicher ITler angerufen und nach ihren Daten gefragt hatte, um einen »verdächtigen Log-in« auf ihrer Seite zu bestätigen, hatte sie ihm alle nötigen Informationen gegeben. Wenn ich sie nach ihrem Sternzeichen und ihrer Sozialversicherungsnummer gefragt hätte, hätte sie mir die wahrscheinlich auch verraten.

Sobald ich Zugang zu ihren E-Mails hatte, hatte ich den Schlüssel zum Schloss. Es war einfach gewesen, ihren Schreibstil zu imitieren – superfreundlich und mit viel zu vielen Ausrufezeichen für eine über Dreizehnjährige –, um herauszufinden, dass sie diese Woche mit ihrem Boss auf Geschäftsreise war und sich in den Zigarettenpausen mit Jane DeVoor angefreundet hatte, der Assistentin des Finanzchefs. Sobald Jane eine Zusammenfassung der Presseerklärung zurückgeschickt hatte, würde ich ein paar Investitionen tätigen, als hätte ich irgendwie gelernt, die Zukunft vorherzusagen.

Tipp: Lasst eure Hellseher sausen, und versucht es stattdessen mit Phishing.

»Ähm, aber ist die Schublade wirklich leer?«, fragte Breck, Ridges eineiiger Zwilling, der praktisch ausgestreckt auf seinem Freund Steele Alvarez in der Sonne lag.

»So gut wie. Das Einzige, was noch drin ist, sind ein pinkes Tanktop, auf dem ›I Would Bottom You So Hard‹ steht, und dieses Shirt von den Pittsburgh Steelers.« Ridge hielt es hoch. »Keins davon gehört mir, und ehrlich gesagt würde ich mich in keinem von beiden wohlfühlen.«

»Hey!«, rief Carson aus dem Schatten am Rand der Terrasse. »Das Pittsburgh-Shirt gehört mir. Ich hab mich schon gefragt, wo es hingeraten ist!«

»Tja, das kannst du gern wiederhaben, Kumpel«, sagte Ridge und hielt es von sich weg. »Ich hab keine Ahnung, wie es in meiner Schublade gelandet ist.«

»Bring es mir«, befahl Carson mit diesem der Welt leicht überdrüssigen britischen Tonfall, dem nur wenige Männer widerstehen konnten. »Ich will nicht in die Sonne.«

»Bist du ein echter Vampir? Oder ist das nur deine Rolle für diese Woche?«, fragte Leo. Der beurlaubte FBI-Agent, der sich als unser Anführer betrachtete, sah kaum von seinem E-Reader auf, auf dem sich, wie ich wusste, nur langweilige Biografien von Politikern und ein paar Sachbücher über religiösen Extremismus befanden. Ööde.

»Ja, Leonard. Das ist es. Ich befürchte, dass du meinem blendenden Glitzern und meinem jahrhundertealten Penis nicht widerstehen könntest, wenn ich näher käme.« Carson bedankte sich mit einem Nicken bei Ridge, als der ihm das Shirt reichte. »Weißt du, einige von uns machen sich Sorgen um Hautkrebs.«

Ja, klar. Ich hätte meinen selbst zusammengestellten original Alienware-Tower und all die klassischen Spiele, die ich daraufgeladen hatte – derzeitiger Wert: unbezahlbar – darauf verwettet, dass Leo recht hatte. Carson war ein Hochstapler mit einem Dutzend Identitäten, von denen wir wussten, und wahrscheinlich einem Dutzend mehr, von denen wir keine Ahnung hatten. Zweifellos arbeitete er an etwas, wofür er blass wie ein Geist sein musste, aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was es war. Nicht zum ersten Mal war die Versuchung groß, einen Blick auf seinen Computer zu werfen. Ein Kinderspiel für jeden respektablen Hacker, und ich war mehr als respektabel.

Aber ich würde Carson nicht hacken, nicht mal, um meine Neugier zu befriedigen, wegen »Vertrauen« und »Grenzen« und »Teamfähigkeit« und dem ganzen anderen Schwachsinn, den mir Auntie Ade eingetrichtert hatte. Bla, bla, bla.

»Können wir noch mal zu der Stelle zurückspulen, an der sich Engelchen nicht wohl dabei fühlt, das ›Bottom‹-Shirt anzuziehen?«, warf Steele ein. Der Muskelmann unserer Gang hielt inne, als ihm klar wurde, was er gesagt hatte, ehe er leise lachte. »Heh. Zurückspulen.«

Breck kicherte, wie es von ihm erwartet wurde, und ich verdrehte die Augen, weil Steeles Witz überhaupt keinen Sinn ergab, geschweige denn, dass er mich zum Lachen brachte. Es musste schön sein, jemanden zu haben, der die eigenen dummen Witze zu schätzen wusste und einem die ganze Zeit zustimmte.

»Jap. Es gibt nichts Witzigeres, als aufgrund des Aussehens Vermutungen über die sexuellen Vorlieben einer Person anzustellen«, meckerte Danny. Wie immer lag er nur mit einer winzigen Badehose bekleidet in seinem Liegestuhl, als würde Kleidung gegen seine Religion verstoßen. »Ihr zwei seid so süß. Da wird einem schlecht.«

»So spricht nur jemand, der viel zu lange nicht flachgelegt wurde.« Ridge grinste Danny zwar anzüglich, aber überhaupt nicht überzeugend an. »Ich könnte etwas dagegen tun.«

Danny öffnete nicht mal die Augen. »Alles unter Kontrolle, danke. Darf ich euch Links vorstellen, meinen neuen Freund?« Er hob seine linke Hand. »Er weiß genau, wie ich es mag, bekommt es gut auf die Reihe und ist immer da, wenn ich ihn brauche.« Was er nicht sagte, weil wir es alle wussten, war, dass Links ihn nicht angreifen und sein Vertrauen missbrauchen würde, wie es der nun in Ungnade gefallene Senator John Harlan getan hatte, als Danny und Breck als Escorts in D. C. gearbeitet hatten.

»Och. Ich finde das irgendwie traurig«, sagte Breck.

»Und ich finde, du kannst mich mal«, erwiderte Danny locker.

Ich senkte den Kopf, um mein Lächeln zu verbergen. Was faszinierte mich so sehr an Danny Munroe? Ich meine, abgesehen von der Tatsache, dass ich total auf spitzfindige Klugscheißer stand und mich seine glatte, gebräunte Haut und die schlanken Muskeln, die er zur Schau stellte, dazu verleiteten …

»Ihr könnt mich beide mal. Können wir noch mal darauf zurückkommen, dass ich beklaut wurde?«, verlangte Ridge. »Ich meine, da denkt man, man wäre in einer relativ geschützten Umgebung und die eigenen Sachen wären da sicher, wo man sie zurückgelassen hat, und plötzlich findet man heraus, dass Dinge fehlen, die einem wichtig sind. Ich fühle mich … beraubt.«

Auf der Terrasse herrschte absolute Stille, als sich jeder von uns zu Ridge umwandte. Leo legte seinen E-Reader ab. Danny setzte sich auf und öffnete die Augen. Breck und Steele hörten auf, sich mit Blicken zu verschlingen. Carson beugte sich vor.

Ridge blinzelte und legte dann den Kopf schräg, als würde er über seine Worte nachdenken. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nein. Das ist keine Ironie, ihr Arschlöcher. Ich habe noch nie einem Mann seine Shirts gestohlen.«

»Nur weil du keinen anständigen Preis dafür bekommen könntest«, sagte Carson seufzend und lehnte sich zurück.

»Shook, du bist Ermittler. Finde heraus, was mit meinen Shirts passiert ist!«

»Sicher«, sagte Leo und wischte mit dem Finger über das Reader-Display, als könnte er nicht uninteressierter sein. »Machen wir eine Liste der Verdächtigen. Wer könnte deine T-Shirts tragen?«

»Na ja, ich«, erklärte Ridge. »Und Danny, aber Gott weiß, dass er sowieso keine Shirts trägt.« Danny schnaubte. »Wes vielleicht.« Er sah mich an. »Aber der hat nicht meinen Geschmack. Oder überhaupt Geschmack. Und dann ist da noch, hm …« Er sah Breck an und verengte die Augen.

»Anstatt es ›stehlen‹ zu nennen«, sagte Breck und leckte sich die Lippen, »was wirklich ein harsches Wort ist, würde es dir vielleicht helfen, wenn du es als ›Befreiung‹ betrachtest?«

»Du hast meine T-Shirts gestohlen!«, brüllte Ridge. »Gütiger Gott. Mein eigener Bruder

»Na ja, ich hatte meine eigenen ja eine Zeit lang nicht, weil meine Sachen in D. C. waren, und dann … äh … kam ich wohl zu dem Schluss, dass mir deine besser gefallen?« Breck grinste einnehmend.

»Du konntest dir keine Shirts von deinem Freund borgen?«

»Nein. Ich meine … hast du meinen Freund gesehen?« Breck strich über Steeles breite Brust, während der selbstgefällige Mistkerl grinste.

»Du bist ein Scheißkerl, Breck Mason Pfeiffer«, verkündete Ridge. »Ich erwarte, dass sich meine Shirts innerhalb einer Stunde wieder in meinem Besitz befinden, sonst wird eine Schreckensherrschaft beginnen, wie du sie noch nie erlebt hast.«

Breck streckte ihm die Zunge raus.

»Seht ihr, das alles wäre kein Problem, wenn ihr Jungs euch einfach der Nacktheit verschreiben würdet«, sagte Danny schläfrig. »Befreit die Brustmuskeln.«

Ich schnaubte unterdrückt, aber natürlich hatte Danny mich gehört und hob den Kopf, um mich böse anzusehen.

Himmel. Da sage ich ein Mal etwas Dummes, weil sich ein Typ prostituiert hat, und schon fährt er mich jedes Mal an, wenn ich auch nur ausatme, und reißt mir Tag und Nacht den Arsch auf.

Aber nicht auf die gute Art und Weise.

Es gab Momente, in denen ich wirklich nicht verstand, was zum Teufel ich hier machte. Ich meine, ja, sicher, Charlie hatte etwas gegen mich in der Hand, das ich wirklich nicht öffentlich machen wollte. Aber im Gegensatz zum Rest der Jungs glaubte ich, dass ich auch etwas gegen Charlie in der Hand hatte. Er war Informationshändler gewesen, aber ich hatte mich darauf spezialisiert, Informationen zu beschaffen. Ich könnte schmutzige Details über Charlies Firmen finden – oder erfinden, wenn es sein musste –, die alles zunichtemachen würden, was er über mich hatte. Ich konnte genug Beweise platzieren, um Miranda als hoch gehandelte Zuhälterin festnehmen zu lassen, bevor sie mich den Behörden übergeben konnte. Und um ehrlich zu sein, war die Vorstellung unglaublich lustig. Himmel, ich könnte jeden dieser Typen hier hinter Gitter bringen, ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten.

Und obwohl ich sie jetzt besser leiden konnte als noch zu Beginn, war es manchmal schwer, mich daran zu erinnern, warum ich mein gemütliches kleines Heim aufgegeben hatte, um auf die Insel der absonderlichen Kriminellen zu kommen.

Ich war schon immer ein Einzelgänger gewesen.

»Postausgabe!«, rief Josie, als sie auf die Terrasse kam.

Wie immer drehten sich beim Klang von Josies Stimme alle um, weil sie uns hauptsächlich leckeres Essen oder alkoholische Getränke zu bringen schien. Nach ein paar Wochen hatte sie uns schon gut konditioniert.

Heute trug Josie einen kurzen weißen Rock, weiße Plateaustiefel und einen Schal mit Blumenmuster. Wurde in der Nähe ein Austin-Powers-Sequel gedreht? Ich hätte ihr zugetraut, bei so etwas mitzuspielen.

»Post?«, fragte ich. »Jemand hat tatsächlich Post hierher bekommen? Die Leute verschicken Dinge tatsächlich noch mit der Post?«

»Nur Ridge«, antwortete sie grinsend. »Aber ich wollte schon immer mal ›Postausgabe‹ sagen.«

Ich erwiderte ihr Lächeln. Es war unmöglich, Josie nicht zu mögen.

Sie reichte Ridge eine Zeitschrift, die er schnell zusammenrollte und hinten in seinen Hosenbund steckte. Wurde er rot?

»Und für den zweiten Teil der Postausgabe darf ich euch die einzig wahre Miraaaanda Bosley präsentieren!« Josie breitete die Arme aus wie der Moderator einer Gameshow und wackelte mit den Fingern.

Miranda trat in einem blauen, ärmellosen Kleid auf die Veranda. In einer Hand hielt sie eine Aktentasche, in der anderen eine Flasche Wasser. »Sehr dezent, Josie. Danke.«

»Gern geschehen!«, flötete Josie. »Also, im Kühlschrank sind allerlei Snacks, und auch Steaks, wenn ihr sie grillen wollt, aber ich habe in einer halben Stunde einen Kurs für Unterwassersprengung und bin spät dran. Ihr seid auf euch allein gestellt, Jungs … und Miranda.«

Ridge runzelte die Stirn. »Du nimmst an einem Kurs für Unterwassersprengung teil?«

»Was? Nein!« Josie lachte. »Gott! Das wäre ja was. Wenn ich in meinem Alter noch etwas über Unterwassersprengung lernen würde.« Sie schüttelte den Kopf, als wäre Ridge zum Schreien komisch.

»Aber du hast gesagt …«

»Ich unterrichte, Ridge, Liebling. Ich leite den Kurs.«

Ridge starrte Josie an, als wäre sie ein Einhorn. Hauptsächlich, weil sie das auch war.

Mein Handy vibrierte in meiner Hand.

Eine neue Mail von Jane mit einem süßen kleinen Anhang und einem lächelnden Smiley.

Wenn es einen größeren Rausch als diesen gab, hatte ich ihn noch nicht gefunden, und ich war mir sicher, dass er mit legalen Mitteln nicht zu erreichen war. Ich liebte es, den Ton anzugeben, ich liebte es, die Kontrolle zu haben. Ich liebte es, zu wissen, dass ich nie wieder machtlos sein würde. Und ich liebte, dass dieses High mit dem zusätzlichen Bonus kam, anderen Menschen tatsächlich zu helfen.

Natürlich war das heutige Projekt nicht wirklich eine Schlagzeile wert. Informationen aus einer lästigen kleinen Presseerklärung zu bekommen – Informationen, die in ein paar Tagen sowieso öffentlich gemacht werden würden –, war nicht dasselbe, wie meine Bot-Armee zu benutzen, um Schwachstellen in einem Server anzugreifen, aber ich tat es nicht, um jemanden zu beeindrucken. Und außerdem zog ich die Kunst der sozialen Manipulation einem Hau-drauf-Diebstahl jederzeit vor. Besorg dir ein paar Insider-Informationen, investiere klug, profitiere davon, und sorg dafür, dass auch andere davon profitieren.

Ich betrachtete es eher als Umverteilung von Reichtum und nicht als Diebstahl. Oder, wie Breck sagte, ich befreite das Geld von den Megareichen, damit ich es bei einer Wohltätigkeitsorganisation aussetzen konnte, die unterprivilegierten Kindern in Chicago half … oder vielleicht Hurrikanopfern unten in Puerto Rico.

»Bond?«

Ich hob den Blick und war überrascht, dass Miranda direkt vor mir stand. Ich war von der Vorstellung abgelenkt gewesen, wie viel Gutes ich tun könnte, und hatte nicht gehört, wie sie auf mich zugekommen war. Warum schauten mich alle an, als … Oh, verdammt. Mein Blick richtete sich auf den braunen Briefumschlag in Mirandas Hand. Ich kannte diesen Umschlag. Er sah genauso aus wie der, den Steele vor ein paar Wochen geöffnet und der uns dazu gebracht hatte, gegen John Harlan zu ermitteln.

Anscheinend war ich jetzt an der Reihe.

»Die andere Hälfte der Postausgabe, hm?«, fragte ich und nahm den Umschlag.

»Eigenhändig zugestellt. Für Sie nur das Beste«, sagte Miranda gedehnt. Sie nahm ihre Aktentasche. »Tja. Viel Glück, Jungs.«

»Moment, was? Bleiben Sie nicht, während ich ihn öffne?«

Sie schüttelte den Kopf. »Genau wie beim letzten Mal. Glaubhafte Bestreitbarkeit. Sie haben Ihre unbegrenzten Kreditkarten, Charlies Ressourcen und Josie. Aber wenn Sie in der Klemme stecken, können Sie mich anrufen.«

»Und der ›interessierte Freund‹?«, wollte Leo wissen. »Der andere Typ, der über diese Missionen Bescheid weiß?«

Miranda musterte Leo einen Moment lang schweigend. »Sie rufen ihn nicht an. Aber er wird auch in der Nähe sein.«

Leo sah ihr argwöhnisch nach.

Ich starrte den Umschlag einen Augenblick lang an und grinste, weil es alles andere als Hightech war. Nur mein Name, der fein säuberlich in Großbuchstaben auf dem schmucklosen braunen Umschlag stand. Aber er fühlte sich schwer an. Unheilvoll. Charlie hatte sich bei dieser Sache definitiv für Dramatik entschieden.

Ich öffnete den Umschlag, und mein Grinsen verblasste, als ich die Fotos und die kopierten Dokumente herausnahm.

»Was zum Teufel?«, murmelte ich.

Es waren Fotos von Pässen, vielleicht zwei Dutzend, in verschiedenen Blau-, Grün- und Rottönen. Alle lagen in einer Kiste. »República de Honduras« stand deutlich auf einem, während auf ein paar anderen »Guatemala« oder »Kolumbien« zu lesen war.

Ich reichte Leo, der zu mir gekommen war, das Foto, ehe ich mir das nächste anschaute.

Mehr Pässe, aber dieses Mal waren ein paar davon geöffnet, sodass Namen und Fotos sichtbar waren. Einige der Gesichter lächelten, andere waren ernst; es waren Frauen und Männer; alle waren relativ jung und kamen fast ausschließlich aus Mittel- oder Südamerika.

»Ich versteh es nicht«, murmelte ich.

Aber als ich das Foto an Leo weitergab und mir das nächste Blatt ansah, glaubte ich, es vielleicht doch zu verstehen, und das machte mich krank.

Berichte von vermissten Personen aus verschiedenen Städten, denen Fotos beilagen. Mein Spanisch war etwas eingerostet, aber ich verstand das Wesentliche. Dinorah hatte ihr Zuhause in Escuintla wegen eines befristeten Jobs verlassen und war nie zurückgekommen. Genau wie Fernando aus Copán, Tomás aus Guatemala, Isobel aus Bucaramanga, Tala aus Manila, Mercedes aus etwas Unleserlichem und so weiter. Der einzige Unterschied waren die Daten und Städte. Die Umstände waren alle erschreckend ähnlich.

Ohne aufzuschauen, gab ich diese Blätter weiter und stürzte mich auf den nächsten Stapel. Wieder Bilder, aber dieses Mal … Ein tropisches Resort, vielleicht wie einer dieser oberschicken All-inclusive-Orte? Frauen und Männer faulenzten auf Liegen, die denen, auf denen wir uns ausstreckten, nicht unähnlich waren. Kristallklare Pools und Tiki-Bars mit Grasdächern, private Bungalows und Kellnerinnen in …

Oh. Oh, Moment mal, eine Sekunde. Ich betrachtete eines der Fotos.

»Leo!« Ohne aufzusehen, schnippte ich mit den Fingern. »Gib mir den Bericht über Tala Wie-heißt-sie-noch.«

Leo oder jemand anders gab mir das Blatt, und ich griff blindlings danach, ehe ich zwischen dem Bild der vermissten Frau und dem Foto der Kellnerin hin- und herschaute. Auf dem Foto aus dem Resort schien sie dünner zu sein, so dünn, dass man ihre Rippen zählen konnte, und ihre Haare waren länger, aber das Gesicht war unverwechselbar. Der winzige Leberfleck unter ihrem linken Auge war auf beiden Bildern zu erkennen.

»Das ist dieselbe Person«, sagte ich und blickte hoch. »Die vermisste Frau aus dem Bericht ist die Kellnerin auf diesem Foto. Und ich wette, wenn wir genau hinsehen, stellen wir fest, dass jede der vermissten Personen ebenfalls in diesem Resort arbeitet.«

Breck schielte über Steeles Schulter, während der stirnrunzelnd die Bilder von den Pässen betrachtete. Ridge, Carson und Leo gingen die Fotos der vermissten Personen durch. Aber Danny starrte mich direkt an. Eine winzige Falte bildete sich zwischen seinen Brauen.

»Aber wie?«

»Weiß nicht«, sagte ich. »Sieht für mich wie Menschenhandel aus.«

»Also, was werden wir tun?«, fragte er ernst und besorgt.

Es war seltsam, dass sich Danny in diesem Haufen von Kommando-Typen – Vier-Meter-Steele, Leitender-Mistkerl-vom-Dienst Leo, Mann-der-tausend-Gesichter Carson – an mich wandte, den Technikfreak, der ihm täglich auf die Nerven ging. Seltsam, aber irgendwie auch süß.

Meine Lippen zuckten kaum merklich. »Wir werden sie finden und nach Hause bringen.«

Danny nickte knapp, eine Mischung aus Zustimmung und Überzeugung, dass wir es schaffen würden. Total süß und aufrichtig. Wirklich, ein Typ, der so viel durchgemacht hatte wie Danny, sollte nicht in der Lage sein, so unschuldig und niedlich rüberzukommen, aber es war so. Irgendwie fühlte ich mich dadurch besser.

Ich blätterte die Dokumente durch, die ich noch in der Hand hielt. Es waren weitere Bilder aus dem Resort, einschließlich einer Nahaufnahme des Namens und des Logos, die ich nutzen würde, um sämtliche möglichen und unmöglichen Daten über diesen Ort zu sammeln. Aber dann entdeckte ich ein Bild von Tala, auf dem sie schwanger war und lächelnd den Arm um einen Mann schlang. Der Mann hatte ein Kleinkind auf dem Arm, das so glücklich aussah wie seine Eltern.

Tala hatte eine Familie. Und ihr Sohn hatte das Lächeln seiner Mutter.

Und in dem Moment erinnerte ich mich ganz genau daran, warum ich hier war, warum ich mich von einem toten Mann dazu hatte »erpressen« lassen, John Harlan zu Fall zu bringen, und warum ich seitdem in diesem Haus geblieben war. Ein misanthroper Hacker, der Vermögen umverteilte, konnte nicht viel ausrichten, aber jetzt war ich mehr als das. Ich war Teil eines Teams.

Manchmal mussten selbst die guten Jungs mit schmutzigen Mitteln kämpfen. Manchmal musste man ein wenig betrügen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Na, dann mal los.

Pros & Cons: Wesley

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