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KAPITEL 2
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Wesley umklammerte das Foto der vermissten Frau und ihrer Familie so fest, dass seine Fingerspitzen weiß wurden. Ich wusste, wie er sich fühlte. Wir hatten im Kurs für Humangeografie über Menschenhandel gesprochen, aber theoretisch etwas darüber zu lernen, war etwas ganz anderes, als es aus nächster Nähe zu erfahren.
Wie beim Anschaffengehen. Manche Dinge waren in der Theorie besser als in der Praxis.
Viele kleine Kinder werden gefragt, was sie später mal werden wollen. Meine Eltern hatten mich nie gefragt. Mein Weg war seit meiner Geburt durchgeplant gewesen. Wahrscheinlich schon vor meiner Geburt.
Nicht, dass ich eine Antwort gehabt hätte. Ich interessierte mich nicht wirklich leidenschaftlich für eine bestimmte Sache. Wenn ich groß war, wollte ich glücklich sein. Ich wollte das Leben anderer Menschen irgendwie besser machen. Einen Brunnen bauen, eine Schule eröffnen, ein Kätzchen retten, ich weiß nicht. Eins war sicher, ich würde nicht in die Politik gehen. Niemals. Wenn ich nie wieder einen Fuß nach D. C. setzte, würde ich ein glücklicher Mann sein.
In einem Monat würde ich zwanzig Jahre alt werden. Laut dem Plan meiner Eltern hätte ich im zweiten Studienjahr am christlichen Wheaton College in Illinois sein müssen. Mit einundzwanzig hätte ich einen Abschluss in BWL gehabt, in der Firma angefangen, in der mein Vater arbeitete, wäre die Karriereleiter nach oben geklettert, hätte die Tochter irgendeines Vizepräsidenten geheiratet, zwei wunderschöne Kinder mit ihr bekommen und in einem Haus gelebt, das keine zehn Kilometer von dem meiner Eltern entfernt lag.
Leider hatte ich mit siebzehn gelernt, dass mein Schwulsein den Vertrag, den ich noch vor der Geburt unterschrieben hatte, null und nichtig machte. Dazu gehörten auch Kost und Logis, die ich für bedingungslos gehalten hatte. Die Klausel musste ich wohl überlesen haben.
Wer braucht schon die Business School? Ich hatte schon gelernt, wie Verträge funktionieren.
Anstatt also an dem College zu studieren, auf das wir uns geeinigt hatten, weil es christlich genug war, um meine Eltern glücklich zu machen, und weit genug von ihnen weg, um mich glücklich zu machen, war ich hier.
Und mit »hier« meine ich: am Pool einer Villa an der Küste Floridas, umgeben von einer Art »Suicide Squad« aus ehemaligen bösen Jungs, während mir eine großartige, verrückte Frau unaufhörlich Cocktails und mehr Essen brachte, als ich in einem Monat zu mir nehmen konnte. Es war nicht schlecht.
Vor ein paar Monaten war ich obdachlos gewesen, verprügelt worden und hatte meinen Hintern an verheiratete Männer verkauft, die älter waren als mein Vater. Ich muss sagen, das hier war viel besser. Genug im Selbstmitleid gewälzt. Scheiß auf meine Eltern. Sie waren die Vergangenheit, und ich konzentrierte mich viel lieber auf das Hier und Jetzt und den erschreckend brillanten Mann vor mir.
Wesley Bond. Ein rothaariges Computergenie. Manchmal sah er mich an, als wäre ich eine besonders interessante Insektenart, aber gelegentlich auch, als wollte er mich auf die nächste flache Oberfläche werfen. Aber immerhin redete er mit mir, als wäre ich ein echter Mensch. Alle anderen schienen mich wie einen nicht ganz so gescheiten kleinen Bruder oder ein Maskottchen zu behandeln; selbst Breck, der wusste, was ich auf der Straße durchgemacht hatte.
Ich war nicht dumm, das wusste ich, nur behütet. Da ich in einer weißen Obere-Mittelklasse-Gegend in der Mitte des Landes aufgewachsen war, war ich nicht gerade einer Vielfalt an Menschen oder Erfahrungen ausgesetzt gewesen.
Obwohl mich alle abtaten, glaubte Miranda Bosley, dass ich eine Aufgabe in diesem Team hatte. Ich wusste nicht genau, welche Fähigkeiten ich ihrer Meinung nach einbringen konnte, aber mir war es wichtiger, dass sie stolz auf mich war, als dass die anderen über mich lachten. Ich nahm all meinen Mut zusammen und stand auf. Es war Zeit, mir die Kreditkarte zu verdienen, die sie mir letztens zugesteckt hatte.
Ich ging zu Wesley und war mir sehr bewusst, dass sich alle Blicke auf die winzige Badehose richteten, die kaum meinen Hintern bedeckte. Vielleicht legte ich besonderen Schwung in meine Hüften, und vielleicht hatte ich während meiner Selbstfindung einen kleinen Hang zum Exhibitionismus in mir entdeckt. Es störte mich nicht, dass mich Männer anstarrten, als würden sie mich verschlingen wollen.
»Darf ich die Fotos sehen?«, fragte ich und streckte Wesley die Hand entgegen.
»Du tropfst drauf«, beschwerte er sich und riss die Fotos weg.
Ich verdrehte lautstark die Augen, eine Fähigkeit, die ich vor ein paar Jahren von meiner kleinen Schwester gelernt hatte. Niemand verdreht so beeindruckend die Augen wie ein Mädchen im Teenageralter. »Bitte. Ich bin nicht mal nass. Willst du mal anfassen?«
Seine Nasenflügel blähten sich. Oh ja, er wollte mich anfassen. Innerlich führte ich einen Freudentanz auf, während ich äußerlich so cool tat, dass es mehr als überzeugend wirkte. Aalglatt und ungerührt.
»Warum bist du überhaupt noch hier?«, fragte Wesley und rollte nervös den Rand des Umschlags ein. »Solltest du nicht nach Hause gehen? Niemand erpresst dich. Wir haben sowieso schon alles gesehen.«
Arschloch. Zum Glück wusste ich, wie ich ihn auf die Palme bringen konnte. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn so herablassend wie möglich. »Miranda hat es dir nicht gesagt? Ich bin das neueste Mitglied bei euch fröhlichen Gesellen. Der Will Scarlet zu deinem Robin Hood.«
»Wohl eher Maid Marian!«, rief Breck von Steeles Schoß aus. Ich glaube, langsam verschmolzen sie wirklich zu einer Person. »Du bist definitiv Little John«, sagte er zu Steele.
»Wenn jemand Robin Hood ist, dann Shook«, fügte Steele hinzu. »Der gute Kerl, dem irgendwie Unrecht widerfahren ist und der nun ein kriminelles Leben führt, um die Verfehlungen der herrschenden Klasse wiedergutzumachen.«
»Was hast du getan, dass du mit uns nachsitzen musst, Shook?«, fragte Wesley.
»Bin bei Rot über die Straße gegangen«, sagte Leo, ohne von seinem E-Reader aufzusehen.
Es war ein weiterer heißer, sonniger Tag, und trotzdem trug Leo eine Khakihose und ein Poloshirt. Einmal ein FBI-Mann, immer ein FBI-Mann. Damals in D. C. hatten Breck und ich das »Rate, wo sie arbeiten«-Spiel gespielt. Mitarbeiter der Strafverfolgungsbehörden waren immer ein Kinderspiel gewesen. Es war egal, ob sie für den Secret Service, das FBI, die DEA, die NSA oder sonst irgendwen arbeiteten. Man konnte Männer und Frauen gleichermaßen schon auf einen Kilometer Entfernung erkennen.
Die CIA war schwieriger. Diese Mistkerle waren alle wirklich raffiniert, außer im Bett. Als würden sie versuchen, mich mit ihren streng geheimen Informationen zu beeindrucken. Ich hätte Spion werden sollen. Nichts wirkt so gut wie ein Orgasmus und ein paar Komplimente, wenn du einen Typen dazu bringen willst, dir eine Menge Geschichten zu erzählen, die er wahrscheinlich besser für sich behalten sollte.
»Du bleibst also wirklich?«, fragte Ridge.
»Sieht so aus.«
Er nickte leicht. Bei ihm war das so gut wie ein Freundschaftsarmband. Er und Breck waren zwar identisch, was das Aussehen betraf, aber Ridge war zurückhaltender als sein überschwänglicher Bruder.
Typisches Beispiel: Brecks enthusiastische Reaktion. Er sprang von seinem Freund runter, rannte zu mir und warf sich auf mich, sodass ich beinahe zu Boden ging. Ich erwiderte seine Umarmung, so fest ich konnte.
»Mann, ich hab mir solche Sorgen gemacht«, flüsterte er mir ins Ohr und rieb über meinen Rücken.
»Ich mir auch«, sagte ich mit belegter Stimme. »Hatte irgendwie Angst.« Er war der Einzige, dem ich das jemals verraten würde. Er hatte mich mehr als einmal im Arm gehalten, wenn ich geweint hatte. Breck war weitaus besser als ich damit klargekommen, ein Escort zu sein. Ihn hatte das Anschaffen nicht gestört; er hatte mir gestanden, dass ein Teil von ihm es genoss.
Für ihn war es eine vorübergehende Sache gewesen, ein Mittel, um Ridge das Geld zurückzuzahlen, das der ihm fürs College gegeben hatte. Breck hatte es stattdessen seiner drogensüchtigen Mutter gegeben. (Nicht der klügste Schachzug.) Für mich war es zu einer Art Lebensstil geworden, so fühlte es sich jedenfalls an. Nicht, dass ich viele Möglichkeiten gehabt hatte. Ich hatte nicht mal einen Highschoolabschluss.
»Ich nehme nicht an, dass du von Miranda irgendeine Art Jobbeschreibung bekommen hast«, sagte Carson affektiert von seinem Liegestuhl im Schatten aus und erschreckte mich. Ich vergaß immer, dass er hier war. Sich unsichtbar zu machen, schien seine Superkraft zu sein. »Hmm.« Er setzte sich auf und winkte mich zu sich.
Ich blickte zu Breck, der aber nur mit den Schultern zuckte, also ging ich rüber.
Carson begutachtete mich, ohne mich anzufassen. »Kennst du die Präambel der Verfassung?«, fragte er.
Wow. Das war wahrscheinlich die seltsamste Frage, die mir je gestellt worden war, und mich hatte mal ein Typ gefragt, ob ich seine Windel wechseln und ihm die Flasche geben könnte. Jetzt sahen mich alle aus einem anderen und weniger erfreulichen Grund an. »Ja. Aber wenn ich gewusst hätte, dass es einen Test gibt, hätte ich gelernt.«
»Na dann, schieß los. Fang an.«
»Echt jetzt?«
Carson hob die Augenbrauen.
»Ähm, okay. Aber ich werde es singen müssen.«
»Von mir aus kannst du es auch tanzen.«
»Okay.« Also fing ich an zu singen. »Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern …«
»Eee-ee-ee«, sagte Wesley leise hinter mir.
»Für die Landesverteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und …«
»Das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren«, fuhr Wesley mit einem schiefen Lächeln fort.
Wir beendeten die Sache gemeinsam. »Setzen und begrü-hü-nden diese Verfassung. Für die. Vereinigten Staaten vo-ho-n Amerika!«
Breck und Steele applaudierten. Leo lächelte sogar.
»›Schoolhouse Rock‹«, sagte Wesley.
»Die beste Show.«
Carson runzelte nachdenklich die Stirn. »Also gebildet, fähig, vollständige Sätze zu formen, gemessen an deiner Größe in der Jugend nicht unterernährt und gerade, weiße Zähne, wahrscheinlich dank einer Zahnspange in der Kindheit. Vermutlich aus einer Familie in der oberen Mittelschicht?«
Ich stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn finster an. »Lässt du jetzt den Sherlock Holmes raushängen, oder was, Carson?«
»Ich wette, du weißt, welches Besteck man auf einer schicken Dinnerparty benutzt«, mutmaßte er mit einem Haifischgrinsen.
»Von außen nach innen. Aber das weiß jeder.«
Breck, Ridge und Steele lachten gleichzeitig.
»Reiches Gör«, sagte Breck. Bei ihm klang es nicht, als wäre es etwas Schlechtes, nur etwas, das mich von ihnen unterschied.
»Gesellschaftstanz?«
Ich antwortete nicht.
»Ich werte das als ein Ja. Ich bin sicher, dass ich ein paar Aufträge für dich finde.« Er griff nach meinem Arm, als würde er meinen Muskeltonus überprüfen wollen, und plötzlich stand Wesley direkt neben mir.
»Wir haben schon einen Auftrag, Carson, erinnerst du dich?« Er legte seine Hand auf meinen Oberarm und zog mich weg.
Ich sah über die Schulter zu Breck und formte Oh mein Gott mit den Lippen. Er lachte leise und ahmte einen Blowjob nach.
Steele beugte sich vor und flüsterte Breck etwas ins Ohr, woraufhin dieser grinste und aufstand. »Tja, es war wirklich lustig.« Er nahm Steeles Hand und zog ihn von der Liege. »Aber es ist Zeit für mein Nickerchen nach dem Frühstück. Ich bin noch im Wachstum und brauche meinen Schlaf.«
Shook legte seinen E-Reader ab und fuhr sich mit einer Hand durch die grau melierten Haare. Trotz seines katastrophalen Outfits strahlte er eine starke Daddy-Energie aus. Wenn er mir nicht so viel Angst gemacht hätte, hätte ich es vielleicht bei ihm versucht. »Aber sorgt dafür, dass bei eurem ›Nickerchen‹ dieses Mal das Fenster zu ist. Einige von uns versuchen zu arbeiten.«
»Einige von uns versuchen, sich flachlegen zu lassen«, sagte Breck und zog Steele hinter sich her, während er praktisch über die große Terrasse rannte. »Bis später. Hasst mich nicht, nur weil ihr neidisch seid.«
Leo schüttelte kläglich den Kopf, lächelte aber. Ridge sah aus, als würde er sich für seinen Bruder freuen, wirkte aber auch etwas wehmütig. Wahrscheinlich war es schwer, eine Beziehung zu haben, wenn man ein professioneller Dieb war. Es war sicher nicht einfach, jemanden zu einem Swipe nach rechts zu veranlassen, wenn das im Lebenslauf stand. Aber mit seinem umwerfenden Gesicht dürfte es ihm nicht schwerfallen, flachgelegt zu werden. Ich hätte allein für diese blonden Locken getötet. Meine Haare waren weder blond noch braun, und meine Augenfarbe lag irgendwo zwischen Grau und Blau.
Leo ließ sich von Wesley den Umschlag geben, und wir gingen erneut gemeinsam die Fotos durch. »Was denkst du, womit wir es hier zu tun haben, Zero?«
Zero war ein Teil von Wesleys Hackernamen. In bestimmten Kreisen war er berüchtigt, und ich glaube, dass mit jedem Tag, an dem Agent Shook ihn nicht verhaften konnte, ein kleiner Teil von ihm starb.
»Bin noch nicht sicher. Menschenhandel? Entführung? Sexsklaverei?«, riet Wesley.
»Nein«, sagte ich und überraschte uns damit alle. »Ich wette, dass hier das Gastarbeiterprogramm missbraucht wird. Seht mal, die Leute auf diesen Bildern arbeiten alle in der Öffentlichkeit. Sie verstecken sich nicht. Wer auch immer sie in der Hand hat, macht sich keine Sorgen, dass sie mit jemandem reden oder weglaufen. Und wenn wir ihre Pässe haben, werden sie sowieso nirgendwohin gehen.«
Sie sahen mich an, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen. »Was? Ich hab im Kurs für Humangeografie davon erfahren. Ich kann nichts wissen, weil ich ein Stricher bin? Ein Stricher war«, korrigierte ich. Das würde ich nie wieder tun. Ich wusste nicht, ob ich bei diesem Job einen Gehaltsscheck bekam oder nur Kost und Logis und ein Spesenkonto, aber falls Ersteres zutraf, würde ich jeden Cent sparen.
»Nein, weil du so hübsch bist«, platzte Wesley heraus.
Ich blinzelte ihn an. »Nur du kannst jemandem ein Kompliment machen und ihn gleichzeitig beleidigen.« Meine Schultern brannten langsam. Ich sollte sowieso reingehen. Wenn ich mich richtig erinnerte, hatte Josie gesagt, dass sie Snacks im Kühlschrank hatte, bevor sie zu ihrem Kurs gegangen war. Vielleicht sollte ich sie das nächste Mal begleiten. Das wäre großartig. Unterwassersprengung war eine Fähigkeit, die nützlich werden konnte.
»Ich gehe rein«, sagte ich. »Ich will euch nicht mit meiner hübschen Dummheit ablenken.«
»Und mit der Badehose«, stellte Leo klar. »Die darfst du nicht vergessen.«
Wesleys Blick fiel auf besagtes Kleidungsstück, als hätte er vergessen, dass ich praktisch nackt hier stand, und er lief tatsächlich rot an. Armer blasser Rotschopf. Er konnte das beim besten Willen nicht verbergen. Ich unterdrückte ein Lächeln.
»Ich würde meine Badehose niemals vergessen. Oh, und versucht, eine Arbeitsvermittlung zu finden. Wenn sich mein hübscher kleiner Kopf richtig erinnert, haben wir gelernt, dass die Hotels diese Leute nicht direkt einstellen. Sie nutzen eine Personalvermittlung als Drittpartei, damit sie nicht verklagt werden können. Dreckskerle.« Ich lächelte breit und winkte ihnen mit den Fingern. »Tschau. Bis später.« Ich stolzierte, so eindrucksvoll ich konnte, von der Terrasse, während Leo leise lachte.
* * *
Charlies Grundstück umfasste ein riesiges Haus und ein nicht ganz so großes Gästehaus, die durch eine Terrasse mit Whirlpool und einen Swimmingpool von olympischen Ausmaßen verbunden waren. Das Haupthaus allein hatte sechs Schlafzimmer, ein paar Wohnzimmer mit gewölbten Decken, eine gewaltige Küche und ein Badezimmer in jeder Ecke. Und ich durfte den voll ausgestatteten Fitnessraum, die Feuerstelle mit den Sesseln und den Privatstrand nicht vergessen.
Normalerweise verbrachte ich so viel Zeit wie möglich damit, im Pool zu schwimmen oder am Strand zu sitzen und den Wellen zu lauschen. Ich hatte das Meer nur einmal zuvor gesehen. Meine Eltern hatten meine Schwester und mich in einem Sommer für sechs Wochen nach Maine in ein Ferienlager geschickt, als ich zwölf und sie zehn gewesen war. Ich hatte alles daran geliebt, angefangen beim Geruch der Hütten, die mit Segeltuch überspannt gewesen waren, bis hin zu den Abenden mit den Talentshows und der kühlen Gischt des Meeres, das an die Felsen schlug.
Obwohl wir beide ausgiebig davon geschwärmt hatten, hatten sie uns nie wieder in dieses Ferienlager geschickt. Damals hatte meine Mutter nur gesagt, dass die Kinder dort einen »schlechten Einfluss« auf uns hätten und nicht »unser Umgang« wären. Als sie mich rausgeschmissen hatten, hatte sich mein Vater über die »tuntigen Betreuer« in dem »liberalen« Ferienlager ausgelassen und darüber, dass er gewusst habe, dass sie »etwas getan« hätten, um mich schwul zu machen.
Meine Mutter gab einem kleinen Jungen namens Marky die Schuld, der im Ferienlager mein bester Freund gewesen war. Nach dem, was ich bei all ihren Tränen und Anschuldigungen verstanden hatte, stellte sie sich vor, dass wir tagsüber Marx studiert und unsere Nächte damit verbracht hatten, die fleischlichen Freuden kennenzulernen.
Ich war zwölf gewesen. Marky und ich hatten nicht mehr getan, als uns am Lagerfeuer in den Arm zu nehmen, während wir Marshmallows geröstet hatten.
Danke, Mom, dass du einen der besten Sommer meines Lebens in etwas Schmutziges verwandelt hast.
Scheiß drauf. Ich war momentan nicht in der richtigen Laune für Gesellschaft. Die Bilder von Tala und ihrem Sohn verfolgten mich, und nachdem ich mir eine kurze Hose und ein T-Shirt angezogen hatte, lockten mich in die abgedunkelten Zimmer des Hauses, wo ich mich verstecken konnte.
* * *
Wesley fand mich in der Einsatzzentrale. Ich lag auf einem der großen Ledersofas und spielte auf dem riesigen Fernseher ein Videospiel, während ich nebenbei mit meiner Schwester telefonierte.
»Ja, richtig, Jenny«, sagte ich und klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter, damit ich Link auf sein Pferd bekam. Es war schwerer, als es sich anhörte.
Wesley sah auf mich herunter. »Ist das mein Spiel?«
Mein Blick huschte vom Controller zum Bildschirm. »Ähm, keine Ahnung. Es war an.«
»Wer ist das?«, fragte Jenny.
»Niemand«, antwortete ich und setzte mich auf. Das Handy rutschte an meiner Brust hinab, und auf dem Bildschirm versuchte Link, durch sein Pferd zu laufen.
»Himmel«, sagte Wes und riss mir den Controller aus der Hand. »Du spielst wie ein Sechsjähriger.« Er ließ das Spiel pausieren.
»Ist das ein Typ?«, quietschte Jenny förmlich. »Ist da ein Typ bei dir? Ist er dein Freund?«
Ich schnaubte. »Nein danke.«
Ich beobachtete, wie sich Wesleys Rückenmuskeln unter seinem Shirt bewegten, als er auf dem großen Tisch herumwühlte, den er in Charlies Medienzimmer gezerrt hatte. Der Raum war jetzt Wesleys persönliche Kommandozentrale. Mir gefiel, wie das T-Shirt an seinen breiten Schultern hing und locker seine schmale Taille umspielte.
»Ich will ihn kennenlernen«, sagte sie.
Wesley lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich und warf mir einen kleinen Plastikgegenstand zu. Er bedeutete mir, das Ding ins Ohr zu stecken, als ich es fing.
»Ja, ich bringe ihn zu Thanksgiving mit«, antwortete ich meiner Schwester sarkastisch, während ich mir den Stecker ins Ohr klemmte. »Sollen wir den Nachtisch oder eine Beilage beisteuern?«
»Tipp zweimal drauf«, wies mich Wesley an.
Ich tat es, und die Stimme meiner Schwester erklang in meinem Ohr. Seufzend legte ich das Handy auf den Boden. Mein Nacken hatte schon angefangen wehzutun.
»Danke«, sagte ich zu Wesley. Er ignorierte mich, startete das Spiel wieder und machte schnell jeglichen Schaden, den ich seinem Punktestand zugefügt hatte, oder wie auch immer man den Fortschritt in Hyrule maß, ungeschehen.
»Du solltest nach Hause kommen«, sagte Jenny leise, und ich hörte, wie sie ihre Zimmertür schloss. Wow, sie war mutig, wenn sie mich von zu Hause aus anrief und ihre Tür schloss. Unsere Eltern hielten nicht viel von geschlossenen Türen, und soweit ich wusste, hatten sie ihr verboten, mit mir zu sprechen.
»Sicher. Hol Mom oder Dad ans Telefon. Ich will von ihnen hören, dass es okay ist.« Zu wissen, dass das nicht passieren würde, sollte nach zwei Jahren nicht mehr wehtun, aber das tat es immer noch.
»Danny.« Sie seufzte. »Sag mir einfach, dass es dir gut geht. Ich vermisse dich.«
»Mir geht’s gut. Wirklich gut. Und ich vermisse dich auch.«
»Wo bist du?«
»In Florida. Direkt am Strand. Du würdest es lieben.«
»Ooh! Schick mir ein Bild! Ich wünschte, ich könnte dich besuchen.« Sie klang so hoffnungslos. Zwei Jahre waren vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten, aber wir standen uns jetzt näher als jemals zuvor. Es gab keine Geheimnisse mehr zwischen uns.
»Vielleicht kannst du das.« Ich hatte jetzt Geld, oder zumindest Zugriff darauf. Vielleicht gab es einen Weg, sie herzuholen. Vielleicht konnte Miranda ein Treffen für uns organisieren, oder Josie könnte einen Helikopter nach Champaign, Illinois, fliegen und meine Schwester entführen.
Ich schaute zu Wesley hinüber und war überhaupt nicht überrascht, dass er mich ansah. »Schwester?«, fragte er. Ich nickte.
»Oh, Scheiße, Mom ist grad nach Hause gekommen. Ich muss los! Hab dich lieb, Bruderherz. Grüß deinen Nicht-Freund von mir.«
»Ich hab dich auch lieb.« Das tat ich wirklich. Sie würde bald achtzehn werden und ausziehen. Noch ein Jahr. Vielleicht würde ich sie dann sehen können. Sie legte auf, und ich nahm den Stecker aus meinem Ohr.
»Behalt ihn«, sagte Wesley, als ich ihn zurückgeben wollte. »Ich hab ein Dutzend davon.«
Schulterzuckend steckte ich ihn in meine Tasche. Es bestand eine neunzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn in den nächsten Tagen verlieren oder mitwaschen würde. Ich setzte mich auf, unsicher, was ich jetzt tun sollte.
»Du gehst?«, fragte Wes, ohne mich anzusehen.
»Ich will dich nicht stören.«
Wesley legte den Controller ab und drehte sich mit seinem Stuhl zu mir. »Was willst du machen? Was tust du eigentlich den ganzen Tag, außer in der Sonne zu liegen, zu schlafen und zu essen?« Er stieß mit dem Zeh gegen einen Kabelhaufen auf dem Boden. Sein Bereich war ein einziges Chaos aus Computerzubehör, Teilen für Gott weiß was, seltsam aussehenden Tastaturen und leeren Kaffeetassen. Der Kerl war ein wandelndes Klischee, und er prangerte mich an?
»Fick dich.« Ich stand auf. »Warum musst du so ein Arsch sein? Es ist eine Entscheidung, weißt du?«
»Was? Sich zu bräunen oder nicht?«
Ich marschierte zu ihm und stach ihm in die Brust. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, doch ich trat noch näher an ihn heran. Verdammt, aus der Nähe war er faszinierend. Seine Haare waren so dunkel wie das Kirschholz, aus dem der Esstisch meiner Eltern gefertigt war, und seine Augen schimmerten in einem wechselhaften Goldbraun. Ich korrigierte meine Einschätzung seines Alters ein wenig nach oben.
Er klammerte sich an die Armlehnen seines Stuhls und leckte sich über die Lippen. »Was ist eine Entscheidung?« Seine Stimme war tiefer geworden. Er räusperte sich und rollte seinen Stuhl langsam ein paar Zentimeter zurück, als würde ich es möglicherweise nicht bemerken.
Ich packte die Armlehnen, um ihn aufzuhalten, und beugte mich dann hinunter, um ihm in die Augen zu sehen. »Ein Arsch zu sein. Weißt du, es ist verdammt noch mal keine Verpflichtung. Versuch es mit dieser kleinen Übung: Wann immer du den Drang verspürst, etwas Arschiges zu sagen oder zu tun – tu es nicht. Ganz einfach.«
Ich stieß seinen Stuhl nach hinten. Er streifte einen Computer-Tower und blieb mit einem dumpfen Geräusch stehen. Die Musik des Videospiels war das einzige Geräusch, als ich ging und die Tür hinter mir zuknallte.
Zehn Punkte für mich für diesen dramatischen Abgang. Es wären hundert Punkte gewesen, wenn ich mein Handy nicht wie ein Idiot im Zimmer vergessen hätte.
Schwer seufzend wanderte ich langsam den Flur hinunter. Was sollte ich jetzt machen? Vielleicht war Breck fertig damit, wilden Sex mit Steele zu haben, und hatte Lust auf ein bisschen Fernsehen. Ein kurzer Abstecher zu ihrem Schlafzimmer erstickte diese Idee im Keim und ließ mich ein wenig erregt zurück. Von Links mal abgesehen, war ich lange Zeit regelmäßig flachgelegt worden und hatte dann einen kalten Entzug gemacht. Eventuell fand ich auf Grindr oder so jemanden, mit dem ich schlafen konnte. Mein Körper erinnerte mich daran, wie lange es her war, dass mich das letzte Mal jemand anders berührt hatte.
Und sieh dir an, was daraus geworden ist, mischte sich mein Kopf ein. Gutes Argument. Jetzt, da ich es nicht mehr mit jedem tun musste, der mich dafür bezahlte, würde es eine Weile dauern, bis ich wieder mit einem Fremden ins Bett ging. Wenn überhaupt.
Gott, ich war so gelangweilt. Gefangen im Paradies, mit nichts zu tun und ohne jemanden, mit dem ich reden konnte.
Während ich ziellos durchs Haus wanderte, kam ich an einem Schlüsselbrett an der Tür zur Garage vorbei. Irgendetwas ließ mich innehalten. Schlüssel. Viele Schlüssel. Ich strich mit den Fingern darüber und klimperte eine Melodie aus Hunderttausenden von Dollar in Autos.
In meiner Brieftasche befanden sich drei Dinge: ein Bild meiner Schwester, mein Führerschein und eine schwarze American Express mit meinem Namen darauf.
Etwas Silbernes glitzerte an den ledernen Schlüsselanhängern. BMW-, Audi-, Lexus- und Toyota-Logos buhlten um meine Aufmerksamkeit. Hm. Ich nahm mir drei vielversprechende Schlüssel und ging in die Garage. Das Licht reichte aus, um die Umrisse von vier oder fünf schicken Autos zu sehen. Ich drückte nacheinander auf die Schlüssel und merkte mir, welche Lichter an den Autos aufflackerten.
Ich pfiff leise und ging zu dem roten BMW-Cabrio am Eingang. Miranda hatte gesagt, dass ich Charlies Sachen nutzen sollte, um mir zu besorgen, was auch immer ich brauchte. Wenn ich ein Teil der fröhlichen Gesellen sein wollte, würde ich zumindest erwachsenere Kleidung und einen Haarschnitt brauchen.
Ich war sicher, dass Charlie nichts dagegen hätte, wenn ich mir eines seiner Autos borgte.