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6 Der Kilometerzähler
ОглавлениеVico Stricher, Moderator beim ‚Köller TV-Talk‘, hatte eines seinen Kollegen/innen von der Zunft voraus: Er pflegte den unverstellten Blick auf Abgründe und Untiefen. Diese Eigenschaft machte ihn zur Idealbesetzung für die Sendung ‚Verbotene Laber‘. Wie sein Name schon vermuten lässt, war er nicht hetero, ein Vorteil, den besonders Frauen an ihm schätzten, denn niemand konnte mit solch einer Leichtigkeit über sie und ihre Beziehungen herziehen wie er, und damit brachte er ihre Beziehungen auf die Stufe, auf der sie gern wären, nämlich auf der des coolen Oberwassers. Da ihm nichts Menschliches fremd war, war er so unmenschlich. Und dafür wurde er geliebt. Auch von der Geschäftsleitung als Werbefläche.
Jemand wie ich hatte dem Köller TV-Talk für die aktuelle Sendung ein Video aus Marokko zugespielt, in dem ein Hochzeitsbrauch eine Rolle spielte. Es ging darum, dass die Braut direkt nach der Vermählung ins Brautgemach geführt und durch ihren Bräutigam entjungfert wurde. Dies geschah natürlich hinter verschlossener Tür, aber doch wie in aller Öffentlichkeit. Als Beweis des Vollzugs hatte der Bräutigam im Anschluss mit einem blutigen Tuch zu den Gästen zurück zu kehren.
Das Thema hätte für die ‚Verbotene Laber‘ nicht besser sein können. Die Redaktion hatte die Feministin, Frau Alice Wunderland, eingeladen und einen einigermaßen gut Deutsch sprechenden Türken, Herrn Ali Baba, aus der Hauptstadt eingeflogen.
Vico Stricher erwartete das Schlimmste und ließ die Stühle seiner beiden Gäste zwei Meter weit auseinander positionieren und dazwischen auf zwei Beistelltischchen eine Reihe von Kakteen setzen. Der Produktionsleiter seinerseits hatte für die Sendung im Studio zwei Mitarbeiter des Malteser Hilfsdienstes postiert und ebenso zwei Herren von einem Sicherheitsdienst hinter einem Paravent mit entsicherter Waffe Platz nehmen lassen. Vico Stricher wurde unter seinem eleganten Oberhemd der Marke ‚Smart Casual‘ mit einer kugelsicheren Weste ausgestattet, denn seit der Produktionsleiter durch Zufall erfahren hatte, dass einige Leute jenes Dienstes zwar zuschlagen konnten, aber dafür lausige Schützen waren, hatte er Angst vor ihnen.
Die Sendung ‚Verbotene Laber‘ wurde live ausgestrahlt. Meist waren zwei Talk-Gäste eingeladen – in der Regel Kontrahenten - und das eben erwähnte zu vervielfältigende Publikum, das im Studio für Atmosphäre sorgte. Nach der Begrüßung durch den Moderator wurde das Hochzeitsvideo eingespielt, welches eine Hochzeitsgesellschaft inmitten einer Oase in der Wüste bei Marrakesch zeigte. Man sah nur Männer, wenn Frauen mitfeierten, so waren sie wohl irgendwo verborgen. Es wurde ein Teil der Zeremonie gezeigt und dann, wie die Braut vom Bräutigam ins Gemach geführt wurde, gefolgt vom Gejohle der männlichen Gäste. Nach irgendeiner Zeit trat er wieder auf den Innenhof, wo die Hochzeitsgäste sich die Zeit vertrieben hatten, und schwenkte ein blutverschmiertes Tuch, das ursprünglich wohl weiß gewesen war. Die Männer lachten und jubelten. Schnitt.
„Herr Baba, wird bei Ihnen in der Türkei auch so gefeiert?“ eröffnete Vico Stricher die Runde.
„Nein, nicht überall, aber auf dem Land ist das Tradition bei uns. Nicht genau gleich, wie im Film, aber so ungefähr. Manchmal prüft die Mutter des Bräutigams das Tuch, und die Gäste bekommen nichts mit.“ Herr Baba fand das ganz normal.
„Das Tuch muss rot von Blut sein, Herr Baba, ist das immer gewährleistet? Ich meine, dass die Braut Jungfrau ist?“
„Ja, in der Regel schon, das wäre ganz selten, wenn das nicht der Fall ist.“
„Und wenn das nicht der Fall ist, was dann, Herr Baba, geht dann die Ware zurück?“ Da war er wieder, der besondere Flair von Vico! Mit seinem coolen Blick erfasste er die Situation so knallhart wie sie war. Es entstand einen Moment Stille im Publikum. Als Herr Baba mit der Antwort zögerte, fiel Frau Wunderland ein:
„Die Ware geht zurück, und das Geld wird zurück gezahlt.“
„Stimmt das, Herr Baba?“ fragte Vico Stricher nochmals.
„Ja“, antwortete der Mann nun, und das Publikum entspannte sich, „also ja, manchmal wird die Braut an ihre Familie zurück gegeben. Und das Geld wird zurück gezahlt, ja.“
„Dies ist ja schon ein seltsamer Brauch ...“, sinnierte Vico Stricher.
„Nein, es ist eine Frage der Tradition, wie die ganze Feier, und auch eine Frage unserer Kultur. Wenn das nicht Ihre Tradition hier in Europa ist, dann können Sie das auch nicht verstehen“, warb Herr Baba für sein Brauchtum.
„Gut. Was könnte denn noch passieren, wenn sich das Tuch nicht rot färben lässt?“
„Dann kommt es vor, dass der Bräutigam es mit Schafsblut tränkt“, antwortete Herr Baba schnell, und Vico Stricher verlängerte ebenso schnell den Satz:
„… um nicht als düpierter Idiot da zu stehen, dem eine Familie eine entjungferte Braut untergeschoben hat.“ Einige aus dem Publikum kicherten. Herrn Baba war die Situation unangenehm, aber er nickte:
„Ja, kann man so sagen.“
„Und wenn gerade kein Schafsblut zur Hand ist, was ist dann?“
„Wenn das Tuch nicht rot ist, dann kann es auch zu einer Katastrophe kommen, je nachdem.“
„Welcher Art?“
„Es kann zum Krieg zwischen den Braut-Familien kommen. Je nachdem wo es ist, kann die Braut sogar verschwinden. Für immer.“
„Die Heirat scheint mir aber eine äußert gefährliche Angelegenheit für die Braut zu sein. Frau Wunderland, was sagen Sie dazu?“ Vico Stricher wandte sich an seinen zweiten Gast.
„Tja, vor allem wenn man bedenkt, dass bei einem Viertel der Frauen bei der Entjungferung kein Blut fließt, weil der Hymen zu dünn oder zu klein ist …“ Hier unterbrach der Moderator seinen Gast:
„Aber Frau Wunderland, wer will denn sowas wissen? Wir haben hier eine Unterhaltungssendung, nicht?“ Doch Frau Wunderland ließ sich nicht beirren, Unterhaltungssendung hin oder her, und fuhr fort:
„Das sind harsche Bräuche. Ich kann nur hoffen, dass die Frauen sich das langsam nicht mehr gefallen lassen. Ich rate allen, die von solchen Bräuchen betroffen sind, es nicht soweit kommen zu lassen.“ Herr Baba bestätigte:
„Der Meinung bin ich auch.“
„Ja“, machte Frau Wunderland weiter, „sollten die Frauen ferner vor der Ehe tatsächlich sexuell aktiv gewesen sein, so könnten sie hier die Situation entschärfen ...“
„Frau Wunderland“, jetzt unterbrach Herr Stricher die redegewandte Dame, um das Thema zu zerdehnen, „Sie reden in Rätseln. Wie entschärfen Sie denn solch eine Situation?“
„Indem sich die Frauen wieder heiratsfähig machen lassen. Das geht! Sie müssen nur bei einem Gynäkologen vorbei kommen, der kann sie wieder zur Jungfrau machen, indem er mit zwei Nadelstichen den Hymen wieder annäht, und alles ist paletti!“ Die Zuschauer/innen klatschten Beifall. Ali Baba sah irritiert aus. Vico bemerkte es.
„Herr Baba, was sagen Sie denn dazu? Dass der Bräutigam vor den Gästen nicht als Betrogener dastehen will, ist seine eigene Entscheidung, aber was ist mit dem Bräutigam, der gar nichts gemerkt hat, dass die Braut selbst den Kilometerzähler wieder auf Null gedreht hat?“ Dieser Vergleich löste beim Publikum das Platzen einer Lachbombe aus, so, als ob es schon leicht angeschickert in den Saal gekommen wäre oder die Studioluft hohe Erwartungen in dieser Richtung geweckt hätte. Jedenfalls amüsierte es sich und klatschte Beifall, und während dem grinste Alice Wunderland – bequem in ihrem Stuhl zurück gelehnt – so breit, als würde sie eine Banane quer essen. Und Vico Stricher wusste, dass er an diesem Abend sein Publikum nicht nur im Studio im Griff hatte, sondern auch zu Hause vor den Bildschirmen. Einzig Ali Baba spürte, wie seine ganze Kultur mit seinen Traditionen und ihm selbst den Bach herunter gingen. Er kam sich vor, wie entblößt und hatte den heißen Wunsch, dass jetzt irgendetwas in der Luft zur Rettung heran fliegen mochte.
„Meine Damen und Herren“, der Moderator hob seine Hand, um die Zuschauer/innen zu beruhigen, denn irgendwie musste die Sendung weiter gehen, da trommelten die Leute noch einmal – wie zum Abschluss – mit den Füßen auf den Boden. In dem Moment kam einer der zwei Herren vom Sicherheits-Risiko hinter dem Paravent aus seinen Tagträumen in die Realität. Er hatte eine ganze Weile nicht zugehört und fragte nun seinen höchst amüsierten Kollegen, was denn los wäre. Der Kollege erläuterte kurz, dass bei vorehelich entjungferten Türkinnen mittels zwei Stichen mit einer Nähnadel der Kilometerzähler wieder auf Null gestellt werden könnte. Dem Manne erschien vor seinem geistigen Auge die entsprechende Szene beim Frauenarzt, und auch er musste nun heftig lachen und sah sich veranlasst, vor Vergnügen mit der Hand auf seinen bedeckten Oberschenkel zu schlagen. Dabei löste sich durch die Erschütterung aus seiner entsicherten Waffe ein Schuss, die Kugel durchschlug ohne Mühe die Stellwand und mähte ein Bein von Frau Wunderlands Stuhl nieder. Diese stürzte vor Schreck Richtung Herrn Baba in die Kakteen hinein, dass dem Herrn die Töpfe um die Ohren flogen. Dieser hatte nun den dringenden Wunsch, sich vor der Feministin in Sicherheit zu bringen und wollte nur noch zum Ausgang. Dabei warf Herr Baba erst Vico Stricher um und dann zwei Stellwände des Studios. Dahinter wurden für die Kameras eine fahrbare Kantine mit Süßigkeiten und Getränken sichtbar sowie Kabellagen und übrig gebliebenes Putzpersonal.
Das Johlen des Publikums war nach dem Schuss in Schreien umgeschlagen, und während es zu den Ausgängen flüchtete, rannten die Studiomitarbeiter/innen wild im Kreis herum und rissen mit unkontrollierten Bewegungen den Rest der Stellwände, die Herr Baba verfehlt hatte, nieder. Den Kameras bot sich nun der unverhüllte Blick in die Studiokulissen auf ausgediente Bühnenbilder, alte Dekorationen und Gerümpel. Chaos! Der Produktionsleiter wunderte sich, dass die Kameras dieses Desaster übertrugen und ahnte, dass die Regisseurin in Schockstarre geraten war. Er bellte in sein Mikro: „Aus, aus!“, hastete in den Regieraum und drückte selbst den erlösenden Knopf. Die Sende-Automatik würde nun dafür sorgen, dass nach wenigen Sekunden Dunkelheit auf den Bildschirmen zu Hause ein Softporno anlief.
Nachdem keine weiteren Schüsse mehr gefallen waren, beruhigte sich das im Studio verbliebene Publikum, kurz danach auch das Personal. Nach ein paar Minuten wurde der Porno unterbrochen, und eine Ansagerin erschien auf den Bildschirmen, die um Verständnis für den Abbruch der Sendung ‚Verbotene Laber‘ bat. Ein Extremist – von welcher Seite wisse man noch nicht – hätte einen Schuss abgegeben. Durch den Schuss sei zwar niemand verletzt worden, doch ein Studiogast, die Feministin Alice Wunderland, stehe unter Schock, die Gewalt ihrer Rede hatte sie zutiefst bewegt. Der zweite Gast, Herr Ali Baba, wäre spurlos verschwunden, und es würde nach ihm gesucht. Der Moderator aber wäre wieder wohlauf. Die Polizei täte alles, den Fall vollständig aufzuklären. Die Einschaltquote hatte sich seit der Abgabe des Schusses verdoppelt.
Mehr konnte man von einer Sendung nicht verlangen. Ja, Vico Stricher verstand es immer wieder, es auf den Punkt zu bringen. Er war einfach Klasse. Der Geschäftsleitung des Senders war klar, dass sie für die Werbeminuten nun noch mehr Geld würde abkassieren können, da dieser Vorfall weiteren Auftrieb in der Publikumsgunst bringen würde. Nachdem nun die Luft im Studio sogar bleihaltig geworden war, einigte man sich, von den Mehreinnahmen aus der Werbung eine Gefahrenzulage zum Honorar für Herrn Stricher zu genehmigen. Das hatte er verdient.