Читать книгу Eine Ahnung von der Ewigkeit - Anne Woeller - Страница 8
Alleine und bald werde ich sterben
Оглавление‚Bald werde ich sterben‘, dachte Rick.
Er lag in seinem Bett und starrte an die Decke. Es war schon wieder dunkel geworden. In seinem Zimmer brannte kein Licht. Um ihn herum war es noch dunkler als draußen. In Gedanken umschlich er dieses ‚bald‘.
Langsam tastete Rick sich an dieses kleine Wort heran. Bald. Es fühlte sich so hohl an, fast schon unwirklich.
Bei diesem Gedanken griff er hastig mit seiner Hand ins Leere, als ob er das Wort einfangen wollte. Es brachte in ihm ein unbekanntes Gefühl hervor. Auch wenn es sich hohl anfühlte, hielt er fest daran. An etwas musste er sich festhalten. Was war schon sicherer als der Tod? Dieser fragte nicht nach Rangordnung, Gehalt, Spielnummer, Feldposition, Homeruns. Vor ihm waren alle gleich. Ein seltsames Gefühl beschlich Rick, als er feststellte, dass er den Tod seinen einzigen Freund nannte.
‚Bald‘, dachte er wieder.
Der Hunger brachte Rick in die Gegenwart zurück. In den Zustand des Seins.
»Ich werde bald sterben und habe Hunger«, sagte er laut und empört, »das geht doch nicht!«
Das Hungergefühl war ihm zu real. Das Ziehen in seinem Magen war ihm so vertraut, dass es ihm unheimlich war. Es war still im Zimmer. Er erinnerte sich an die Schokoladenkekse, die ihm Kris dagelassen hatte. Sie lagen unberührt auf seinem Nachtisch.
Am nächsten Morgen war Kris wieder bei ihm. Sie saß am Ende seines Krankenhausbetts.
Kerzengerade saß sie da. Sie schluchzte nicht, weinte nicht. Rick starrte an die Decke, bemüht ihren Blicken auszuweichen.
»Was willst du noch von mir?«, fragte er vorwurfsvoll, während er sie kurz ansah. Er musste jedoch sofort wieder wegschauen, als sich ihre Blicke trafen.
Kris weinte zum ersten Mal nicht, als Rick ihr abermals Vorwürfe an seiner Misere machte. Mit Furcht einflößender Miene, die immer noch zur Decke gerichtet war, sagte er ihr, dass sie ihm lästig wurde.
»Geh!«
Kris kannte dieses Verhalten an Rick nicht. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass er sie so behandeln würde. Aber jetzt wies er sie harsch zurück. Jeden Tag aufs Neue. Doch neu war die Mimik in Kris‘ Gesicht. Zum ersten Mal seit dem Unfall konnte sie alles so sein lassen, wie es war. Sie brach im Augenblick jedenfalls nicht in Heulkrämpfe aus, sondern sah Rick nur an. Sie war im Hier und Jetzt und atmete frei durch, trotz der Anschuldigungen. Kris war immer noch traurig, aber sie konnte Ricks Verhalten auf einmal annehmen. Rick bemerkte die Veränderung in ihrem Gesicht und in ihrer Haltung. Es verwirrte ihn. Als sie Anstalten zum Aufbruch machte, erschrak er förmlich. Sie drehte sich an der Türe nochmal zu ihm um.
»Es ist, wie es ist, Rick! Keiner ist schuld. Jetzt gilt es, die Dinge anzunehmen wie sie sind.«
»Hau ab!«, zischte er.
Als Kris von außen die Türe zuzog, löste dies einen Luftzug im Zimmer aus, der das gekippte Fenster aufschlug. Kurz danach fegte ungeniert der Wind von draußen herein und bewegte die Vorhänge. Hemmungslos kam er bis zu Ricks Bett und zupfte ihm frech am Haar. Rick musste es geschehen lassen und schloss die Augen. Der Wind kümmerte sich nicht um den Gemütszustand seines Spielgefährten.
Unaufhaltsam strich er neugierig im Zimmer umher. In dieser Bewegung löste sich etwas in Ricks Brust. Der Wind schien nicht nur an seinen Haaren zu ziehen, sondern auch an der Einschnürung, die ihm bis jetzt das Atmen schwer machte.
Rick atmete die frische Luft tief ein. Der Wind war so ehrlich, dass alles Negative in dieser friedvollen Bewegung unterging, als ob es nie da gewesen wäre. In vollen Atemzügen versuchte Rick, dieses Gefühl aufzusaugen und auf ewig zu seinem zu machen. Aber es schmerzte ihn.
Und es schmerzte ihn noch viel mehr, als er feststellte:
»Nichts ist für die Ewigkeit. Man kann sie nur erahnen, aber nie festhalten.«
Tage vergingen. Die Nächte waren noch dunkler und die Tage waren noch einsamer. Kris war nicht wieder gekommen. Ein Krankenpfleger massierte Ricks Arme.
»Es ist nicht gut, dass sie alleine sind«, sagte er mit ernster Miene. Mit geübten Griffen massierte er Ricks linken Arm. Rick verzog schmerzvoll das Gesicht und streckte eine Hand nach seinem Knie aus. Der Krankenpfleger bemerkte es und fragte:
»Schmerzt es ihr Knie, wenn ich ihren Arm bewege?«
Rick würdigte ihm keine Antwort. Der Krankenpfleger machte einfach weiter und arbeitete sich zur Hand vor. Nach einer Weile sagte er:
»Was sie durchmachen müssen, ist wirklich nicht schön. Sie sollten Besucher empfangen und nicht alle abweisen. Kein Mensch kann so etwas alleine ertragen.«
Er erwartete sichtlich eine Antwort, aber Rick blieb stumm und ließ die Prozedur über sich ergehen. Doch der Pfleger ließ nicht locker, weder an Ricks Arm noch an Ricks Gefühlszustand.
»Es muss doch sehr schwer sein, von einem Profisportler zu einem ... «.
Er hielt den Atem an und biss sich verlegen auf die Lippe. Rick schaute ihm abfällig in sein vorlautes Gesicht. Keine Miene verzog er dabei. Kein anderer Ausdruck in seinen Augen, außer tiefer Verachtung.
»Man braucht niemanden, um alleine zu sein«, murmelte Rick nach einer Weile.
Wochen vergingen. Sie vergingen zu schnell und doch so langsam. Der Krankenhausalltag war Rick zuwider. Er verbot jegliche Besuche und duldete nur gestört zu werden, wenn es die medizinischen Gegebenheiten erforderten.
Es war dunkel um Rick geworden. Draußen war die Sonne untergegangen und in Ricks Herz war es finster. Er drehte den Kopf zum Fenster und sah in einen sternenklaren Nachthimmel. Die Sterne glitzerten und funkelten nach alter Weise. Wo war der Wind, der ihn besucht hatte?
»Ob mir jemand nachweinen wird?«, fragte er sich.
Rick nahm die angebrochene Keksschachtel von seinem Nachttisch und betrachtete sie kurz, bevor er sie in schneller Bewegung gegen die Wand warf. Die Schokoladenkekse zerschellten daran und was ganz geblieben war, zerbrach am Boden.
»Wo bist du Kris?«, stammelte Rick.
»Ich brauche dich«, weinte er.
»Ich will dich nicht brauchen«, fluchte er.
Er vergrub sein Gesicht in das Kopfkissen, das den verhassten Geruch des Krankenhauses trug. Sein Verstand sagte ihm:
‚Sei froh, dass es solche Krankenhäuser gibt. Sonst wärst du
verblutet oder deinen Verletzungen erlegen.‘
Aber sein Herz wollte den Ort des Leidens und des Wartens verlassen. Rick weinte, bis er vor Erschöpfung einschlief.
In den Tagen der Rehabilitation war Leid sein Leben. Er fühlte sich nur, wenn er Schmerzen hatte. Und dieses Unglück war sein Lebenselixier, die einzige Möglichkeit das Leben in seinem Körper noch zu spüren. Eine endlose Trauer zog er hinter sich her, schwer und kalt, mit starken Spuren der Abnutzung. Seine Freunde hatte er durch sein ablehnendes, grimmiges Verhalten vertrieben. Seine Liebe zu Kris hatte er zerschlagen, durch Worte des Vorwurfs und mit Nichtstun.
Kris hatte sich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr sehen lassen. Sein Herz zog sich bei diesem Gedanken zusammen. Wo war sie? Was macht sie? Denkt sie noch an mich?
Ihm wurde schwindelig und er musste die Krankengymnastik abbrechen. Diese dauerte aufgrund seiner Schwächeanfälle nie länger als unbefriedigende zehn Minuten.
Kris saß indessen vor dem Krankenhaus auf einer Bank. Sie traute sich nicht in den Betonbau hinein, der ihren Rick wie eine undurchdringliche Festung einschloss. Fast berauschend wirkten die Worte der letzten Wochen auf Kris.
‚Du sollst mich vergessen und in Ruhe lassen‘.
Wie Blei sanken die Worte in ihr Herz. Sie sanken immer tiefer, bis sie im Unterbewusstsein verschwunden waren. Der Verstand bildete einen dichten Nebel des Verdrängens darüber. Doch der Nebel als solcher, zeugte vom Verdrängten, ließ aber kein Licht mehr hinein und erfüllte seinen Zweck.
Schmerzlos.
Sie wartete bis zum Abend, dann stand sie kurzerhand auf und lief in das Krankenhaus hinein.
Schnellen Schrittes lief sie die langen Gänge entlang. Bis zu dem Zimmer. Es war ihr schon so gewohnt und so verhasst. Nach einem kurzen Klopfen ging sie hinein und setzte sich auf den Stuhl der neben dem Bett stand.