Читать книгу Pflege von Menschen mit geistigen Behinderungen - Annelen Schulze Höing - Страница 71

II Konzeptionelle Ansätze zur Integration von Pflege

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Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass der Umfang der zu erbringenden pflegerischen Leistungen in Diensten der Eingliederungshilfe stetig ansteigt. Die sich verändernden Bedarfslagen erfordern eine Auseinandersetzung mit Fragen der Erbringungspraxis, Qualitätssicherung und Finanzierung dieser Leistungen. Diese Anforderungen beziehen sich insbesondere auf:

1. die fachgerechte Ausführung von Pflegeleistungen sowie das Erkennen der pflegerischen Bedarfe und Gesundheitsrisiken,

2. die Entwicklung von Leitlinien und Verfahrensanweisungen und

3. die erforderliche Fortbildung von pädagogischem Personal.

Wie können sich Dienste der Eingliederungshilfe auf die Übernahme pflegerischer Aufgaben vorbereiten?

Im Rahmen des Qualitätsmanagements sind für die Entwicklung des Bereichs Pflege Ressourcen bereitzustellen, um diesen schrittweise zu entwickeln. Dies kann beispielsweise über eine zeitlich begrenzte Schwerpunktsetzung auf das Thema Pflege erfolgen. Über einen Projektzeitraum von ca. drei Jahren können so benötigte Leitlinien, Verfahrensanweisungen und Erfassungsinstrumente ausgearbeitet und Mitarbeitende gezielt zu pflegerischen Themen geschult werden.

Neben der Qualifizierung der Mitarbeitenden sollten auch konzeptionelle Überlegungen in den Prozess einfließen. Hierzu sollten die zu erwartenden veränderten Anforderungen, die sich aus einer zunehmenden Pflegebedürftigkeit der Klienten ergeben (z. B. Betreuung von multimorbiden Klienten, Menschen mit Demenzerkrankungen), in Hinblick auf die hierfür benötigten Versorgungsstrukturen (z. B. Tagesstruktur, Dienstzeiten, Refinanzierung zusätzlicher Angebote) überdacht werden. Im Folgenden werden die Anforderungen im Einzelnen erläutert:

Sicherstellung der fachgerechten Ausführung von Pflegetätigkeiten

Damit pflegerische Assistenz fachgerecht ausgeführt wird und die fachliche Anleitung von Mitarbeitenden ohne pflegerische Ausbildung sichergestellt ist, sind in jedem Arbeitsbereich pflegefachlich qualifizierte Mitarbeiter einzusetzen. In Abhängigkeit von der Größe, Struktur und konzeptionellen Ausrichtung der Einrichtungen ist eine Entscheidung über die grundsätzliche Vorgehensweise zu treffen. Folgende Varianten sind aus Sicht der Autorin praxistaugliche Beispiele hierfür:

• Vorhandene examinierte Pflegefachkräfte, die derzeit nicht im Berufsbild der Pflegefachfrau, Gesundheits- und Kranken-, Kinder- oder Altenpflege arbeiten, durchlaufen eine interne oder externe Qualifizierungsmaßnahme, um ihr Fachwissen auf den neusten wissenschaftlichen Stand zu bringen. Schon während sie sich fachlich auf den neusten Stand bringen, übernehmen sie behandlungspflegerische Maßnahmen und weisen pädagogische Mitarbeiter in grundpflegerische Tätigkeiten ein.

• Pflegefachkräfte (Pflegefachfrauen/männer, Gesundheits- und Kranken- oder Altenpfleger) werden als Multiplikatoren eingestellt, um sich im Schwerpunkt um die pflegerischen Belange der Klienten zu kümmern. Diese Pflegefachkräfte übernehmen alle behandlungspflegerischen Maßnahmen und weisen pädagogische Mitarbeiter in grundpflegerische Tätigkeiten ein.

• In jedem Arbeitsbereich absolvieren alle (oder ein Großteil der) Pädagogen, die sie auf die Übernahme pflegerischer Aufgaben vorbereiten, interne oder externe Qualifizierungsmaßnahmen. Zusätzlich werden je nach Größe der Einrichtung (eine oder mehrere) Pflegefachkräfte eingestellt, die für die Anleitung und Sicherstellung der Pflegequalität verantwortlich sind. Diese »Leiterinnen der Pflege« stehen als Ansprechpartner zur Verfügung und übernehmen eigenverantwortlich die pflegefachliche Aufsicht.

Bei den ersten zwei Varianten ist zu bedenken, dass zwar praktische Probleme auf der operativen Ebene schnell gelöst werden, dass jedoch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Pflege den vorhandenen pädagogischen Mitarbeitern nicht angestoßen wird.

Träger, die es als notwendig erachten, dass pädagogische Mitarbeiter ein neues Berufsverständnis entwickeln, das die Erbringung von pflegerischen Leistungen als integralen Bestandteil eines ganzheitlichen behindertenpädagogischen Konzepts versteht, sollten ihre pädagogischen Mitarbeiter in der Breite pflegerisch fortbilden.

Kombinationen der vorgestellten Varianten sind möglich. Eine allgemeine Empfehlung – im Sinne einer bestmöglichen Vorgehensweise – kann nicht ausgesprochen werden, da jeder Träger über unterschiedliche Ressourcen und Rahmenbedingungen verfügt.

Entwicklung von Pflegeleitlinien und Verfahrensanweisungen (Standards)

Neben dem Einsatz pflegerisch qualifizierten Personals sollten auch Pflegeleitlinien und Verfahrensanweisungen für die praktische Durchführung pflegerischer Maßnahmen erarbeitet werden. Ziel ist es, über die Leitlinien eine fachlich korrekte und einheitliche Vorgehensweise aller Mitarbeitenden im Umgang mit pflegerischen Problemen sicherzustellen. Sind routinemäßige und wiederkehrende Handlungen der Grundpflege, sog. » Immer-so Routinen«, über hausinterne Standards/Leitlinien beschrieben, reduziert sich der Dokumentationsaufwand in der Planung, weil nicht mehr jeder Teilschritt zu beschreiben ist. In der Planung kann auf die Verfahren verwiesen werden und die Aufzeichnungen im Berichtsblatt können sich ausschließlich auf das Auftreten von Abweichungen konzentrieren (vgl. Beikirch, Kämmer, Roes, Handlungsanleitung Strukturmodell (Version 1.0), 2014, S. 16). Sie sind ein grundlegendes Mittel zur Qualitätssicherung und werden alle zwei Jahre auf Aktualität überprüft (evaluiert). Es wird zwischen Pflegeleitlinien und Verfahrensanweisungen (= Standards) unterschieden. Bei beiden Dokumenten handelt es sich um Prozessbeschreibungen, in denen

• personelle Qualifikation und strukturelle Voraussetzungen,

• der zur fachgerechten Ausführung einzuhaltende Prozessablauf sowie

• erwünschte Prozessergebnisse/angestrebte Ziele beschrieben werden.

a) Verfahrensanweisungen

Für Tätigkeiten, bei denen immer die gleiche Prozessabfolge eingehalten werden muss (z. B. bei Medikamentengaben, Insulininjektionen), ist die Entwicklung von Verfahrensanweisungen zu empfehlen. Im Unterschied zu Pflegeleitlinien dienen Verfahrensanweisungen (oder Standards) dazu, deutlich zu machen, dass es sich um eine Prozessabfolge handelt, die immer genau so ausgeführt werden muss, wie es in der Verfahrensanweisung steht. Dies trifft insbesondere auf die medizinische Pflege (ärztlich angeordnete Behandlungspflege) zu. Eine abweichende Vorgehensweise ist nur in begründeten Ausnahmefällen zulässig.

b) Leitlinien

Leitlinien zeigen einzuhaltende Grundsätze und pflegewissenschaftlich anerkannte Maßnahmen auf. Im Unterschied zu Verfahrensanweisungen oder Standards werden verschiedene Möglichkeiten der Vorgehensweise angeboten. Insofern ermöglichen Leitlinien die Vorgehensweise, die sich individuell an den Wünschen des Klienten orientiert. Die Entwicklung von Leitlinien wird für die Regelung von grundpflegerischen Tätigkeiten, die häufig erbracht werden und bei denen die Gefahr von Fehlerquellen als hoch einzuschätzen ist, empfohlen.

Bildung einer Arbeitsgruppe/eines Qualitätszirkels

Zur Entwicklung von Pflegeleitlinien und Verfahrensanweisungen (Prozessbeschreibungen) wird eine Arbeitsgruppe/ein Qualitätszirkel aus Mitarbeitenden dem Thema betreffender Arbeitsbereiche sowie einer Pflegeexpertin gebildet. Werden Prozessbeschreibungen erarbeitet, die eine Zusammenarbeit und Klärung der Schnittstellen zu anderen Bereichen erfordern, sind entsprechende Ansprechpartner einzubeziehen. Wird beispielsweise die Leitlinie »Umgang mit Übergewicht« erarbeitet, ist es sinnvoll, neben den pädagogischen Mitarbeitern auch die Hauswirtschafts- und Küchenleiterin einzubeziehen. In Prozessbeschreibungen erfolgen Festlegungen zu folgenden Kriterien:

• Strukturkriterien (welche personellen, strukturellen und materiellen Voraussetzungen sind erforderlich),

• Prozesskriterien (auf welche Weise und Abfolge sind Tätigkeiten/Hilfestellungen auszuführen) und

• Ergebniskriterien (welche Ergebnisse werden angestrebt).

Einbeziehung aller Mitarbeitenden

Zwischenergebnisse der zu erarbeitenden Leitlinien/Verfahrensanweisungen werden durch die Mitglieder der Arbeitsgruppe den nicht an der Arbeitsgruppe beteiligten Mitarbeitenden schon während der Entwicklung vorgestellt. Diese Vorgehensweise stellt sicher, dass alle Mitarbeitenden in den Entwicklungsprozess eingebunden sind und ihre Änderungsvorschläge einbringen können. Je intensiver diese Einbindung der Mitarbeiterschaft erfolgt, desto erfolgreicher verläuft die Einführung neu entwickelter Leitlinien.

Nach diesem Abstimmungsprozess ggf. auch Probelauf erfolgt die Freigabe der Leitlinie/Verfahrensanweisung durch die Leitung. Mit der Freigabe werden die Leitlinien/Verfahrensanweisungen zur (rechts)verbindlichen Arbeitsgrundlage aller Mitarbeitenden. Die Prozessbeschreibungen werden eingeführt und im Qualitätshandbuch hinterlegt. Dort können diese jederzeit (z. B. im Rahmen der Einarbeitung, bei aktuell auftretenden Fragen) von Mitarbeitenden eingesehen werden. Für folgende grundpflegerische Prozesse wird die Entwicklung von Pflegeleitlinien empfohlen:

• Umgang mit Dehydratation (unzureichender Flüssigkeitsaufnahme)

• Prophylaxe von Dekubitus

• Prophylaxe von Stürzen

• Prophylaxe von Kontrakturen (Gelenkversteifungen)

• Förderung der Harnkontinenz

• Prophylaxe von Intertrigo (Wundliegen Haut auf Haut)

• Umgang mit multiresistenten Keimen MRSA/ESBL und Covidausbrüchen (besondere Wohnformen)

Für folgende behandlungspflegerische Prozesse wird die Entwicklung von Verfahrensanweisungen empfohlen:

• Umgang mit Medikamenten und Betäubungsmitteln

• Umgang mit und Fremdeinschätzung von Schmerzen31

• Umgang mit Schluckstörungen

• Umgang mit Sondenernährung

• Umgang mit chronischen Wunden

Eine Entwicklung von Leitlinien/Verfahrensanweisungen reicht nicht aus, um den zugrunde liegenden Fortbildungs- und Anleitungsbedarf von Mitarbeitenden zu decken. Vielmehr dienen die Leitlinien der Auffrischung und Sicherung des erlernten Wissens.

Es empfiehlt sich, die pflegerischen Standards mit den durch Expertinnen der Eingliederungshilfe entwickelten »Fachlichen Standards zur Teilhabe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung« zu verbinden (siehe Buchtipp).

Buchtipp:

Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft: Standards zur Teilhabe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und komplexem Unterstützungsbedarf. Stuttgart: Kohlhammer, 2021, 121 Seiten, € 29,00; ISBN 978-3-17-039520-6

Fortbildung des Personals

Da die überwiegende Zahl der Mitarbeiter keine umfängliche Pflegeausbildung hat, bestehen bei der Ausführung pflegerischer Tätigkeiten Unsicherheiten und teilweise Unkenntnis bezogen auf die qualifizierte Erbringung von Pflegeleistungen.

Die Schulung aller betreuenden Mitarbeiter zu pflegerischen Themen ist daher von zentraler Bedeutung, damit Mitarbeiter in die Lage versetzt werden, gesundheitliche Risiken frühzeitig zu erkennen und prophylaktisch tätig zu werden. Dies ist insbesondere deshalb wichtig, da gerade Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und Einschränkungen der Kommunikation einen erschwerten Zugang zur ärztlichen Versorgung haben. Aufgabe von Bezugsassistenten ist es auch, in pflegerischen Belangen das »Sprachrohr« der Klienten zu werden, Ärzte auf Risiken aufmerksam zu machen und entsprechende Therapien einzufordern.

Auswahl der Fortbildungsthemen

Die Fortbildungen sollen sich auf alle pflegerischen Themen erstrecken. Pflegefachliche Fortbildungen

• dienen dem Aufbau und Erhalt von pflegefachlicher Kompetenz durch kontinuierliche Aktualisierung des Wissensstands,

• umfassen dabei auch den Erwerb notwendiger pflegerechtlicher Kenntnisse,

• verbessern kommunikative und soziale Kompetenzen,

• ermöglichen die Reflexion von Falldarstellung und

• fördern den Erfahrungsaustausch unter Kollegen.

a) Grundpflege

Der Fortbildungsschwerpunkt sollte auf grundpflegerischen Themen, zu denen auch die Entwicklung von Leitlinien empfohlen wurde, liegen. Darüber hinaus sollte zu folgenden Themen geschult werden:

• Körper- und Hautpflege

• Inkontinenzversorgung

• Beratung zu und Umgang mit pflegerischen Hilfsmitteln

• Hygienevorschriften zum Fremd- und Eigenschutz

• Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen

• (eigener) Umgang mit Sterben, Tod und Sterbebegleitung

b) Prophylaxen

Ein weiteres wichtiges Schulungsthema stellen die Prophylaxen in der Pflege dar. Die Kenntnis der Prophylaxen versetzt die Mitarbeiter in die Lage, Risiken systematisch zu erkennen. Neben den Themen, die bei der Entwicklung von Leitlinien benannt wurden, sind folgende Prophylaxen relevant:

• Soor und Parotitis (Entzündungen im Mundraum)

• Aspiration (Nahrungsmittel gelangen in die Lunge)

• Pneumonie (Lungenentzündung)

• Thrombose (Blutgerinnsel)

• Obstipation (Verstopfung)

c) Behandlungspflege

Bei der Behandlungspflege kommen neben bereits benannten Themen insbesondere Schulungen zum pflegerischen Umgang mit Erkrankungen infrage. Ausgewählt werden Themen zu Erkrankungen, die beim jeweiligen Träger gehäuft auftreten:

• Folgeerkrankungen von und Ernährung bei Diabetes mellitus

• Umgang mit Anfallserkrankungen

• Umgang mit Verdauungsstörungen (z. B. Diarrhoe (Durchfall))

• Umgang mit Pilzinfektion

• Umgang mit Hauterkrankungen (z. B. Schuppenflechte)

d) Gesetzlich vorgeschriebene Pflichtfortbildungen

Alle Mitarbeitenden, die mit pflegerischen Arbeiten betraut werden, unterliegen einer gesetzlichen Fortbildungsverpflichtung.

• Erste Hilfe (Auffrischung im Abstand von zwei Jahren)

• Belehrung zum Infektionsschutz (jährlich)

• Belehrung zum Brandschutz

e) Pflegerische Teilhabeplanung und Dokumentation

Im Fortbildungsprogramm muss eingeplant werden, dass Mitarbeitende in der pflegerischen Ziel- und Maßnahmenplanung und in der fachgerechten Dokumentation und Berichterstattung geschult werden müssen.

Um pflegerische Leistungen fachgerecht zu planen und zu dokumentieren, bedarf es einer Überprüfung und Anpassung bzw. Weiterentwicklung des vorhandenen Dokumentationssystems. Aufzunehmen sind beispielsweise:

• Protokolle zur Überwachung der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr

• Assessmentinstrumente zur Fremderfassung von Schmerzen, ggf. auch zur Erfassung von Dekubitus- und Sturzrisikofaktoren

• Sturzereignisprotokolle

• Überwachungsprotokolle (z. B. Anfallskalender, Vitalzeichen)

Schließlich sollte im Fortbildungsprogramm auch immer die Wunschliste der Mitarbeitenden Berücksichtigung finden.

Wie kann sichergestellt werden, dass pflegerische Risiken frühzeitig erkannt werden?

Es wird empfohlen, die Erhebung des Pflegebedarfs anhand des Gesprächsleitfaden Pflegeerfassung® als Qualitätssicherungsinstrument konzeptionell zu verankern. Alle Klienten sollten mindestens einmal jährlich visitiert und beraten werden. Dies trägt dazu bei, gesundheitliche Risiken von Klienten zu erkennen und Fehler in der Erbringung von pflegerischen Leistungen im Vorfeld zu vermeiden bzw. aufzudecken. Nach Erfahrungen der Autorin hat es sich bewährt, trägerintern ein Team aus Mitarbeitern (pflegerisch ausgebildeten Fachkräften) zu bilden, das intern Pflegeerfassungen durchführt. Dieses Team ist vorab in der Pflegeerfassung und Pflegefachberatung zu schulen und pflegefachlich durch eine examinierte Pflegefachkraft anzuleiten.

Der Umgang mit dem Gesprächsleitfaden Pflegeerfassung® wird im folgenden Kapitel ( Kap. 4) dargestellt.

31 Der Umgang mit Schmerzen wurde aufgenommen, weil Schmerzen ein umgehendes Handeln erfordern.

Pflege von Menschen mit geistigen Behinderungen

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