Читать книгу Immer schaut ein Mensch hervor - Annette Gonserowski - Страница 10
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Er klemmte den Keilrahmen mit der Leinwand in die Staffelei. Das Foto der Frau legte er auf den Hocker daneben. Er schaute das Foto an - einen Augenblick lang und genauso lange umspielte ein Lächeln seinen Mund. So, als ob die Frau auf dem Foto an einem unsichtbaren Faden seine Mundwinkel nach oben gezogen hätte.
Er blickte auf die Leinwand. Weiß und leer stand sie gegen das Licht. In der Fensterscheibe im Hintergrund spiegelten die Schatten der blattleeren Zweige in der Morgensonne.
Er atmete tief. Auch heute klopfte sein Herz schneller vor dem ersten Pinselstrich. Dieser Pinselstrich, der die Entscheidung des richtigen Platzes treffen würde.
Wieder wandte er seinen Blick dem Foto zu. Seine Augen traten in Kontakt mit der Frau, die auf dem Foto in entspannter Pose auf einem Stuhl saß, vertieft in das Lesen eines Konzertprogrammes. Prüfend fuhr sein Blick ihren Konturen nach. Wie vertraut sie ihm waren. Schon sehr oft hatte er dieses Bild betrachtet. Er lächelte, als er daran dachte. Tausendmal? Waren tausendmal wohl ausreichend? Er schloss die Augen und schon zeichneten sich die Umrisse lichtumrandet vor seinen Augen ab. Sein ausgestreckter Zeigefinger zeichnete in die Stille hinein lautlos die Konturen in die Luft. Sein Herz begann ruhiger zu schlagen: Er war bei ihr angekommen.
Aus der Tube drückte er ein wenig lichten Ocker auf seine Palette, mischte ein wenig Weiß und Kadmiumrot hinein. An eine andere Stelle platzierte er ein wenig Ultramarinblau, daneben mischte er aus Zitronengelb und einem Klecks Ultramarinblau ein Grün.
Oben, ein wenig vom Rand entfernt, setzte er seinen Pinselstrich auf der Leinwand an, zog in einer schwungvollen Linie die Form ihres Schädels nach, ließ sie wie die Oberlinie einer Maske über den Augenbögen enden. Seine Augen blickten nun sanft: diese glatte Rundung des Oberkopfes, die vor seinen inneren Augen klar umrissen war, malte er ohne noch einmal einen Blick auf das Foto zu werfen. Nun mischte er ein wenig Ultramarin in die Farbe, malte den Schatten des Lichts auf die linke Seite. Sanft führte er den Pinsel über die Leinwand. Die Konturen nahmen Gestalt an. Oberhalb des rechten Auges, auf der Stirn, sah er das Licht, ließ es im klaren Weiß erstrahlen. Er trat einen Schritt zurück. Ja, das war gut.
Er überlegte: „Male ich ihre Haare jetzt, oder später?“ Er würde sie später malen.
Er lächelte, denn ihm fiel ein, was sie ihm von ihren Haaren erzählt hatte: „Ich habe kurze Haare“, hatte sie ihm anvertraut und erst viel später hatte er erfahren, dass sie naturkrause Haare hatte, die sich schwer zu einer Frisur bändigen ließen. Dies kleidete sie gut, denn ihr Kopf war schlank. Sie hatte einen kleinen Kopf und in Gedanken hatte er seine Hände um ihn gelegt.
Auf diesem Bild waren die Haare ein wenig länger gewachsen, sie schimmerten im Gegenlicht. Er nahm mit der Pinselspitze ein wenig weiß von der Palette und tupfte es an den Rand der Stirn. Ein wenig helles Braun tupfte er dazwischen.
Sein Blick glitt weiter. Das Ohr ... er lächelte, als er einen Hauch Kadmiumrot unter das Gemisch aus lichtem Ocker und weiß und grün mischte. Ihr Ohr war gerötet. Wie aufgeregt musste sie gewesen sein, als der Fotograf diesen Augenblick festhielt. Das Ohr malte er klein, es lag eng an dem Kopf an. Ihm gefielen ihre Ohren. Wie oft hatte er sich vorgestellt, dass er sich ihrem Ohr zuneigen und ihr flüsternd Worte anvertrauen würde.
Versonnen sah er ihr Foto an. Wie hoch ihre Stirn war, wie glatt, kaum breiteten sich Falten darüber. Diese Stirn, hinter der ein intelligenter Geist verborgen war. Er bewunderte sie darum. Aber auch Zweifel und Sorgen wohnten dahinter und Gedanken, die sie sorgfältig verbarg. „Ich bin eine Zerrissene“, hatte sie mit Nestroy gesagt und er hatte sie deswegen geliebt. Wie gern er sie hatte, immer und immer noch. Nie hatte sie ihren Zauber verloren.
Ihre schön geschwungenen Augenbrauen schimmerten hell durch die hochgeschobene Brille, an die sie lässig ihren ausgestreckten Zeigefinger gelehnt hatte. Über den Augenlidern trug die Haut eine weißliche Färbung. Wie zart das aussah. Seine Hand zitterte leicht, als er den Pinsel sanft über die Leinwand führte. Sie würde doch nicht krank sein?
Das rechte Auge hatte sie ein wenig mehr geöffnet. Ihre Pupille schimmerte unter den Wimpern. Das Grünbraun ihrer Augen war zu ahnen. Kleine Fältchen zogen sich vom Augenwinkel zur Wange bis zum Ohr, verrieten ihm ihr Lächeln. Die Ader an ihrer Schläfe trat deutlich hervor. Er ließ seinen Pinsel an ihren Augen ruhen und versank in seinen Gedanken. Ihre Augen, wie sehr hatte er sich gewünscht einmal in ihrem Blick zu versinken. Sie hatten es sich zusammen vorgestellt, in einem kleinen Café am Rande der Welt einander zu begegnen. Er hatte es gewusst: es würde keine Fremdheit zwischen ihnen sein. Vielleicht zuerst ein wenig Schüchternheit, das hatten sie einander eingeräumt. Aber dann wäre die Vertrautheit da gewesen, die sie in ihren Briefen aufgebaut hatten. Sie waren sicher gewesen, dass sie nach einer Weile die Welt um sich herum vergessen hätten. Nur ihre Augen wären wichtig gewesen, wichtiger als alle Worte.
Für das Unterlid mischte er ein wenig Braun in die Farbe, zog damit auch die Fältchen um die Augen herum nach. Wie lieb sie schaute. Ihre halb gesenkten Augen vermittelten Vertrauen und heitere Gelassenheit. Behutsam fuhr er mit ihrem Zeigefinger die Konturen nach. Einmal berühren, wie sehr hatte er sich das gewünscht.
Die Wimpern ihrer Augen waren hell und gerade, er deutete sie an mit einem Hauch dunkleren Braun.
Sein Blick verweilte bei ihrer Nase, von der sie sagte, dass sie dick sei. Er betrachtete sie lange. Sie hatte schöne Proportionen: der Nasenrücken war lang und gerade, die Nasenflügel schön geformt. Die Nasenspitze war rund und ein Lichtpunkt hatte sich darauf verfangen. Mit gespitztem Mund hauchte er einen Kuss in die Luft, plazierte ihn geradewegs auf diese Nasenspitze. Er lächelte, rief sich zur Ordnung. Niemals hätte er ihr einen Kuss auf die Nasenspitze geben können, auch wenn er ihr begegnet wäre. Nie hätten ihre Nasen sich spielerisch aneinander reiben können, denn sie wären einander begegnet wie Erwachsene, die einander erst einmal kennenlernen müssten. Diese Vertrautheit war nur in seinen Träumen.
Wieder nahm er seinen Pinsel auf, mischte Rot unter die Fleischfarbe. er schüttelte den Kopf: „Warum war die Nase so rot? Hatte sie sie zu lange der Sonne ausgesetzt? Oder.. „ er wagte nicht zu Ende zu denken... oder war es dem Rotwein zuzuschreiben, dem sie gern am Abend auf der Terrasse sitzend zusprach?“
Ein Lächeln umspielte nun seinen Mund. Wie schön, in dieser Art zu entspannen: ein Buch vor den Augen, ein Glas Rotwein oder eine Tasse Tee dazu, beim Aufschauen der Blick über das Tal hin zu den Bergen am Horizont.... und Sonnenlichter, die auf den Buchseiten tanzten.
Behutsam mischte er neue Farben an und griff den etwas dickeren Pinsel, tauchte ihn in das Farbgemisch, setzte an, um ihre Wangen zu modellieren. Sie waren vom Lächeln gerundet. Er fuhr behutsam ihren Rundungen nach. Er führte den Pinsel sanft. Wie streichelnd fuhr er über die Leinwand. Wieder und wieder. Die Wangen hoben sich nun plastisch hervor. Er hielt seine Hand behutsam mit einem kleinen Abstand darüber, so als ob er mit deren Wärme die noch nasse Farbe trocknen wollte. Die Konturen zum Mund hin färbte er dunkler. Von den Wangenknochen zum Ohr malte er mit verdünntem Violett. Ihr schmales Gesicht trat nun deutlich hervor.
Er hielt mit dem Malen inne und trat einen Schritt zurück, betrachtete versonnen sein Werk. Wie nah er sich ihr fühlte. Wärme war um ihn herum. Ihre Gesichtszüge waren ihm vertraut, obwohl er ihr niemals persönlich begegnet war. In ihren Worten war er ihr begegnet. Da hatte er gespürt, dass seine Seele die verwandte Seele getroffen hatte und war glücklich gewesen.
Er betrachtete ihren Mund, der breit zu einem Lächeln geschwungen war. Es war ein sinnlicher Mund. „Ich habe eine Schmuselippe“ hatte sie einmal scherzend gesagt und er hatte es ihr gerne geglaubt. Das Kadmiumrot milderte er ab mit einem Hauch Braun, pinselte es behutsam im Lippenschwung. Dieser Mund - wie freundlich er lächelte. Er lächelte auch. Freundlich? Lieb lächelte sie, einfach lieb. Oder sollte er sagen, dass es erotisch wirkte, äußerst anziehend?
Er lachte und sein Lachen klang hell in dem spärlich möblierten Raum. Niemals hätte er ihr das gesagt, dass ihre Lippen erotisch wirkten. Das spielte in einer Freundschaft ja nun wirklich keine Rolle. Aber einer Freundin könnte man es doch sagen. Die würde es auch verstehen und sich vielleicht freuen. „Nein“, dachte er weiter, „sagen kann ich ihr das nicht. Es würde sie verschrecken. Sie würde sich zurückziehen und schweigen.“ Das würde er schlecht ertragen.
Den Pinsel tauchte er in das Weiß, tupfte sorgfältig kleine Punkte um Mund und Kinn, führte ihn weiter in Richtung des Ohres. Die Gesichtshälfte schimmerte nun im Licht. Wie wunderschön das aussah. In seinen Fingern kribbelte es. Wie gern hätte er sie einmal berührt.
Seine Augen blickten nun traurig. Wie gern wäre er ihr begegnet. „Ach“, dachte er und schob die Gedanken beiseite. „Alles ist gut so, wie es ist.“ Mit neuem Mut drückte er ein wenig Braun auf die Palette, strichelte fein eine Partie seitlich des Kinns im bräunlichen Ton. Ja, das war sie. Mehr und mehr nahm sie Kontur an.
Ihre Nackenpartie malte er in einem Strich.
„Was würde sie machen, wenn er mit dem Pinsel ihren Nacken berührte? Eine Gänsehaut bekommen, den Nacken dem Strich entziehen?“ Seine Augen lachten bei diesem Gedanken.
„Ich bin sehr empfindsam am Hals“, hatte sie ihm einmal anvertraut.
Er schmunzelte, als er die Farbe in sicheren Strichen auftrug. Auf die Halspartie in Richtung der Schulter legte er einen dunkleren Schatten, ließ sie in das Blau des Blusenkragens übergehen.
Nun wandte er sich der Hand zu, die erhoben den Rand der dunklen Brille berührte. „Meine Finger sind das Schönste an mir. Sie sind lang, schlank und zärtlich. Aber sie können auch zupacken“, hatte sie ihm erzählt, als er sie fragte. Ja, sie hatte feine Hände und es fiel ihm nicht schwer, ihren Worten zu glauben. Und wieder kam die Vision des Cafés vor in seine Gedanken. Wie sehr hatte er sich gewünscht, diese Phantasie würde Wirklichkeit werden. Ihr einmal zu begegnen, einmal ihre Stimme zu hören, in ihre Augen zu blicken. Einmal ihre Wangen zu berühren bei der Begrüßung, ihre Lippen zu spüren für den Bruchteil einer Sekunde. Ihre Hand zu halten, im Gespräch, wie er es gern tat, bei engen Freunden. Oder sie festzuhalten, für eine Weile. Sie zu berühren - oder nicht einmal das: ihr nur zu begegnen.
Traurig malte er die Konturen der Finger, zog feine Linien über den Handballen, färbte das Handgelenk dunkler, meinte ihren Pulsschlag zu spüren.
Ein lockeres Kleid verhüllte ihre schlanke Gestalt, fiel in weichen Falten weit über den Stuhlrand. Er begann mit der Linie ihrer Schultern, die linke hatte sie ein wenig gesenkt. Er malte blaue Schatten ins leuchtende Weiß. Er malte sorgfältig, verhüllte malend all das was ihm lieb war: seine Gedanken, seine Sehnsucht, seine Freundschaft. Er beendete das Bild einen Fingerbreit über ihrem Herzen.