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Begegnung

Sie begegnen sich. Nicht täglich, doch meist in der gleichen Stunde.

Im Winter liegt noch das Grauen der Nacht über den Hügeln, durch die ihr entgegengesetzter Weg führt, eisiger Niederschlag macht ihn gefährlich. Sie missachten die Gefahr, wählen nicht die gefahrlose andere Straße.

Im Sommer dagegen klettert die Sonne bereits über die Tannenwipfel am Wegrand, die Lerchen schwingen sich hoch in die Bläue des Himmels, die Schwalben jagen im lauen Wind. Sie hören sie nicht, fahren achtlos vorüber, die Fenster der Autos geschlossen, den Blick auf die Straße gerichtet.

Sie nahen einander und gelangen in ihre Blickfelder: sie sieht, wie sein Auto den Berg herunter fährt und er, wie ihres zügig die Steigung des Berges erklimmt. Die Halogenlichter der Klappscheinwerfer seines Autos leuchten auf, kurz nur -ein schneller Guten-Morgen-Gruß. Auch ihr Auto blinzelt aus den Klappscheinwerfern dem seinen zu.

Die Autos sind einander ähnlich, tragen beide das gleiche Emblem, wurden in der gleichen Werkstatt montiert. Sie sind etwas Besonderes, gehören der Serie an, mit der die Produktion beendet wurde. Sie sind letzte Beweise einer Epoche. Schilder aus Titan auf ihren Trittbrettern geben Zeugnis davon. Sein Auto wurde in der femininen roten Farbe lackiert, ihres ist maskulin grün unter dem Schmutz.

Wenn sie sich begegnen, strebt er seiner Arbeitsstätte in ihrer Heimatstadt zu und sie der ihren, die sich in der Nähe seines Heimatortes befindet. Sie begegnen einander stets wenige Minuten, bevor die Uhr mahnend den Beginn der Arbeitszeit kündet. Darum sind sie meist in großer Eile. Ein rascher Blick nur, die Hand zum Gruße erhoben und auch schon vorbei. Niemals kann sie erkennen, ob Lächeln seinen Mund umspielt oder seine Miene grimmig blickt. Sie merkt nicht, ob sein Anzug blau ist oder grau, er einen Pullover trägt oder sich gar im Hemd der Morgenkühle aussetzt. Kaum weiß sie, ob er jung ist oder gar alt, ob sein Haar grau ist oder blond - es schimmert im Morgenlicht.

Sie weiß nicht, wie er heißt, kennt nur die Buchstaben auf dem Nummernschild seines Wagens, verbindet sie mit seinem Namen. Vielleicht heißt er Klaus oder Karl oder Kasper und dann auch noch Schmidt? Sie weiß es nicht. Er wird ebenso wenig ihren Namen kennen.

Ihr Wesen muss einander verwandt sein. Sie vermutet, dass auch er sehr gerne lange schläft oder morgens beim Aufstehen bummelt. Vielleicht schläft auch er abends recht spät erst ein. Oder er geht vor der Fahrt zum Arbeitsplatz wie sie mit einem Hund? Das würde die Eile erklären.

Nur manchmal, dann treffen sie sich in Muße - doch auch dann nur für den kurzen Augenblick der Vorbeifahrt. Es ist in den Abendstunden. Nach einem Arbeitstag fahren sie nach Hause. Erschöpft und entspannt hängen sie hinter den Steuern, die Schultern an die Lehnen ihrer Ledersitze gelehnt. Sie träumt dem Abend entgegen. Sie befahren die Straße in Unachtsamkeit - alles ist so vertraut. Sie erwarten einander nicht. Doch plötzlich - fast im Vorbeifahren - erspähen sie das bekannte Auto, wie es um die Kurve biegt. Ein rascher Gruß zum beginnenden Abend - oft nur ein kurzer Sonnenstrahl durch verhangene Wolken ihrer regenverwöhnten Heimat.

Manchmal sehen sie sich längere Zeit nicht, zunächst unbemerkt. Wenige Tage später beginnt sie ihn zu vermissen, denkt ihn an einen Urlaubsort. Tage später beginnt sie sich ernsthafte Gedanken zu machen: „Ob er vielleicht krank ist?“ Oder: „Ob er ein anderes Auto fährt, unerkannt?“ Sie würde ihn nicht mehr erkennen!

Sie weiß sehr wenig von ihm, sicher ist nur: er fährt das gleiche Auto.

Und dann plötzlich sieht sie ihn wieder, an einem Morgen, zur gleichen Stunde, im Morgenlicht.

Immer schaut ein Mensch hervor

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