Читать книгу Immer schaut ein Mensch hervor - Annette Gonserowski - Страница 7

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Begegnung im Regen

Der Regen kam mit dem Sturm von Westen. Er peitschte in Böen durch das Tal, beugte die Gräser bis sie waagerecht in Richtung Osten standen, wehte sie hin und her, so dass sie regenschwer am Boden liegen blieben. Der schmale Bach, der sich an stillen Tagen beschaulich durch die Auen schlängelte, war über die Ufer getreten, gebärdete sich mit lautem Brausen, schnellte stromgleich dahin, führte mit sich Geäst und die Flügel der Libelle, die noch vor wenigen Tagen grünschillernd im Sonnenlicht glitzerten. An manchen Stellen überschwemmte er die Landstraße, die hier fernab der Siedlungen durch das Tal führte. Kein Auto befuhr diese Straße an diesem Spätnachmittag, nur die schwarzen Wolken zogen eilig und sturmgepeitscht darüber hinweg. Eine einsame Fußgängerin beging diese Straße, gemeinsam mit ihrem großen, zottigen Hund. Heute, wie an jedem beginnenden Abend.

Die Kapuze ihrer Regenjacke hatte sie unter dem Kinn fest zugebunden, nur eine Strähne ihres Haares lugte unter ihr hervor. Von dieser Haarsträhne tropfte der Regen in dicken Tropfen auf ihre Lippen, die sie hin und wieder mit der Zunge aufzufangen versuchte, bevor diese weiterrannen, über ihr Kinn hinweg. Der Regen lief in Rinnsalen an ihrer gewachsten Jacke hinunter, auf ihre Oberschenkel, der Stoff ihrer abgetragenen Jeans war lange schon durchnässt. Der Hund lief missmutig neben ihr, schüttelte hin und wieder die Nässe aus seinem Fell, so dass Tropfenfontänen in den unablässig strömenden Regen sprühten.

Sie genoss diese Einsamkeit, diese laute Stille, in der die Stimmen der Natur hörbar waren: das Heulen des Windes, wie er durch das Tal fegte und an ihrer Kapuze zerrte, gegen den sie sich stemmen musste, bei jedem Schritt, der den Gräsern und Blättern heute eine laute Sprache gab, die Zweige der Bäume am Wegrand brach und die Äste ächzen ließ.

Sie lauschte dem Springen der Wellen des Baches über den Steinen, hörte das Trommeln der Regentropfen auf dem Asphalt, vernahm ihren Schritt. Der Regen wurde aufgewirbelt bei jedem ihrer Schritte. Sie passte sich dem Tempo ihres Hundes an, der auch heute rechts und links der Straße die Witterung des Wildes und der vorangegangenen Hunde aufnahm. Sie lauschte nach innen, spürte ihr Herz gleichmäßig schlagen, ließ die Gedanken kommen und gehen. Nichts Spektakuläres störte ihr Gleichmaß, die Gedanken verweilten im Hier und Heute, streiften die Geschehnisse des Berufsalltags, auch er war ohne Höhen und Tiefen in immerwährender Wiederholung dahingegangen. Ihre Augen blickten ruhig und zufrieden unter den Augenwimpern, in denen sich der Regen verfangen hatte.

Von weitem hörte sie das Motorbrummen eines nahenden Autos. Ihr Herz setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus. Es war sein Auto.

Gleich würde er an ihr vorbeifahren, wie an jedem Tag.

Er würde sie anschauen, die Augen hinter der dunkel umrandeten Bille würden sie ernst mustern, er würde nicken, kaum merklich, seine Mine würde sich nicht verändern, kein Lächeln seinem Mund das Ernste nehmen. Dann würde er schon vorbeifahren und vorbeigefahren sein, die Auspuffgase würden in ihre Nase dringen, ein Fahrtwindzug würde sie streifen und vergehen, das Motorengeräusch sich entfernen. Sie würde dem Verlangen, ihm nachzuschauen, nicht nachgeben, nicht sehen, wie das Auto kleiner und kleiner wurde gegen den Horizont, wie es sich hinter der Kurve verlieren würde. Nur ihre Gedanken würden mit ihm gehen, über das Ende des Horizonts hinaus. Sie würde wissen, wie dunkel seine Augen jetzt sein würden. In ihren Gedanken würde sie noch einmal in seinen Augen und der Unendlichkeit versinken, in dem dunklen Kranz um seine Iris, bevor sich, wie damals, auch um ihre Augen ein Schleier legen und die Gedanken ausschalten würde.

Das Auto nahte. Das dunkle Braun der Karosse hob sich kaum gegen die Regenschwaden ab. Beim Durchfahren der Pfützen spritzte das Wasser rechts und links am Auto hoch.

Noch eine kleine Kurve, dann die Brücke – dann würde er da sein und sie nicht einmal den Kopf erkennend heben. Er würde es nicht bemerken, dass ihr Blick ihn erfasste, ja, erwartet, ihn erhofft hatte, ersehnt - wie an jedem Tag.

Er würde ihren Herzschlag nicht hören, der ein wenig aus dem Rhythmus gekommen war bei seinem Nahen und der nicht mehr voll Übermut schlug, wie damals, vor vielen Jahren.

Ob er damals spürte, wie der ängstlich stockte, wie sie zitterte unter seiner sanften Berührung?

Nur noch die Brücke.

Schien es nur, dass er langsamer fuhr an diesem Tag? Behinderte Regen seine Sicht? Sah er zwischen dem prasselnden Regen durch die Windschutzscheibe hindurch? Kaum bewältigten die Scheibenwischer die Wassermassen.

Was wäre, wenn er das Auto anhalten würde, wenn er seinen Fuß nur wenige Zentimeter heben, ihn vom Gaspedal nehmen und auf die Bremse setzen würde? Was würde er machen, wenn das Auto langsam und langsamer würde und neben ihr zum Stehen käme?

Würde er die Scheibe herunterlassen?

Was würde er sagen? Wie würde seine Stimme sein?

Würde sie so dunkel klingen wie damals?

Ganz sanft war seine Stimme gewesen, kaum dass sie die Stimme der Piaf durchströmte, deren Chanson leise aus dem Player klang.

Sie hatte lange Haare gehabt, die weit über ihre Schultern fielen. Er hatte seine Nase darin vergraben, während sie im Ungewohnten erstarrte, seine Stimme nur noch wie durch einen Nebel gehört hatte. Seine Stimme, die so anders geklungen hatte, als an jedem anderen Tag zuvor.

Noch jetzt spürte sie ihren damaligen Herzschlag. Dieser ewige Herzschlag, der sich bis heute doch nicht verändert hatte, bei seinem Nahen.

Und seine Arme hatte sie gespürt. Seine Arme, in die sie sich schmiegte, hinein in diesen Blick und diesen Worten, voller Zärtlichkeit. Diese Zärtlichkeit, - nie war sie verloren gegangen.

Nein, diese Zärtlichkeit war nie verloren gegangen. Nicht am Tag danach, nicht an irgendeinem Tag, auch nicht als eine Andere in seinen Armen war.

Nie ging sie verloren - nie. Das wusste er und sie wusste das ebenso. Sie sprachen nicht darüber. Niemand sprach darüber.

Aber ihren Augen sah man es an, wenn sie sich begegneten.

Warum sprachen sie nicht darüber? Sprachen nicht von damals, nicht von der Trennung, der andere Trennungen folgten, die niemals mehr so schmerzten, wie diese. Warum überschritten sie niemals diese Grenze des Schweigens?

Das Auto passierte die Brücke. Klein und zusammengesunken saß er hinter dem Lenkrad des schweren Autos. So schmal war sein Kopf geworden. Die Konturen - ja, die Konturen waren vertraut, seit damals, als ihre Hände sie umschlungen.

Ach, wenn er das Auto anhalten würde. Nur einmal. Wenn er nur einmal bei ihr anhalten würde, auf dieser Straße!

Wenn sie nur einmal das aussprechen könnte, was das Herz so gefangen hielt, es nicht losließ, das schmerzte an manchen Tagen oder sie leicht machte - je nachdem.

Warum sollte er anhalten? Heute oder jemals? Oder besonders heute, wo Regen alles auflöste, durchweichte, weich machte? Warum sollte der Regen die Grenzen durchweichen, die Barrieren, die sie aufgebaut hatten, unsichtbar, beide um sich herum?

Sie betete: „Bitte! Lass ihn anhalten. Bitte. Heute. Nur dieses eine Mal. Bitte! Bitte jetzt!“

Sie schalt sich: „Warum sollte er anhalten? Warum gerade heute?“ Das Auto fuhr neben ihr. Sie sah seine Augen. Sie schauten sehr ernst. So unendlich ernst. So ruhig und still. Sie schauten sie an und sie las in ihnen. Las in dieser Sekunde all das, was sie wusste.

Das Auto fuhr langsam weiter. Es fuhr vorbei! Vorbei!

Heute zwang sie sich nicht, weiter geradeaus zu schauen, zwang sich nicht dem Wunsch zu versagen, ihm hinterher zu sehen. „Mein Gott! Warum? Warum hält er nicht an?!“

Sie schaute sich um, sah das Auto, sah es langsamer und langsamer werden, sah es an den Straßenrand rollen, sah, wie die Räder stillstanden, sah, wie es stand.

Sie sah, wie die Wagentür geöffnet wurde, sah den Stock, der als erstes aus der Tür kam, sah seinen Fuß, wie er Halt suchte, sah seinen Kopf, kahl und klein geworden durch die Behandlung seiner Krankheit, sah ihn, wie er stand, endlich, neben dem Auto, sah seinen ersten Schritt, wacklig und zögernd in ihre Richtung, sah wie er fester wurde, bestimmter.

Sah seine Augen, die noch blickten wie damals, sah das Lächeln, hörte die Stimme, sie klang wie damals, dunkel und sanft, hörte sein Wort, das erste nach dieser Zeit, hörte ihr erstes nach dieser Zeit, es war das gleiche: „Endlich..“

Immer schaut ein Mensch hervor

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