Читать книгу Immer schaut ein Mensch hervor - Annette Gonserowski - Страница 9
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Er steht an der Straßenseite unter den Zweigen der alten Buche. Die blattlosen Zweige werfen im Scheinwerferlicht bizarre Schatten auf sein Gesicht. Er ist in den Baumschatten eingetaucht, während die Laterne, drei Bäume weiter, diffuses Licht auf die Straße wirft.
Der Ostwind lässt die Zweige knarren und ächzen, zerrt an den Hosenbeinen seiner Jeans, die er in wärmende Boots geschoben hat. Die Kapuze seiner wattierten Jacke hat er über den Kopf gestülpt, die Kordel unter dem Kinn festgezurrt.
Er schaut auf die Zufahrt zum Werk, das sich auf der anderen Straßenseite ausdehnt. Sie ist leer, wie immer um diese Zeit. Nur ein LKW mit dem Kennzeichnen eines fremden Landes steht auf dem Parkstreifen. Die Gardinen der Fahrerkabine sind zugezogen, die Standheizung summt.
Die Wachstube der Werkswache ist erleuchtet. Sie wird es die ganze Nacht sein. Die Schranke, die die Zufahrt zum Werk versperrt, ist geschlossen. Die Monitore im Hintergrund der Wachstube schimmern bläulich: alle Zufahrten des Werkes sind auf ihnen zu sehen.
Der wachhabende Werkschutzmann telefoniert, das kann er erkennen. Hin und wieder schaut er in seine Richtung. Vor einigen Wochen ist er aus der Stube herausgekommen, zu ihm herüber, hatte ihn gefragt: „ Warum stehen Sie hier jeden Abend?“
Er hatte geantwortet: „Ich warte“.
„Auf was?“ hatte der Wachmann gefragt.
Da hatte er nur die Schultern hochgezogen, der Wachmann war kopfschüttelnd zurückgegangen. Seitdem lässt er ihn in Ruhe dort stehen.
Die Kirchturmuhr schlägt 7 Uhr abends.
Jetzt wird er gleich kommen, wie an jedem Abend. Punkt 7 Uhr verlässt er, der Personalchef, stets das Werk. Zuerst werden die Scheinwerfer seines PKWs die kleine Anhöhe innerhalb des Werksgeländes erhellen, dann wird der Wagen hinunterrollen, an den Hallentoren vorbei, die vom Zaun durch eine Werksstraße getrennt sind. Schon wenn er die Biegung zur Werksschranke befahren wird, wird diese sich heben, sein PKW langsam heran rollen, er grüßend die Hand heben. Die Pförtner werden zurückgrüßen. Wenn er das Werksgelände verlassen hat, wird die Schranke sich hinter ihm schließen.
Und schon erscheinen die Scheinwerfer auf der Anhöhe. Sein Wagen rollt langsam zur Schranke. Alles geschieht wie immer. Wie immer schaut der Mann hinter dem Steuer im Vorbeifahren für den Bruchteil einer Sekunde zu ihm, um uninteressiert fortzuschauen.
Vor einigen Jahren war er einmal in seinem Büro.
Damals gehörte er dazu, war Arbeiter des Werkes, war täglich durch das Drehtor neben dem Pförtnerhaus gegangen, das Stecken seiner kodierten Stempelkarte hatte ihm Einlass gewährt. Von dort war er stets zu der Werkshalle gegangen, in der er arbeitete, hatte sie durch das große Hallentor betreten, war zu seinem Arbeitsplatz gelangt. Er hatte dort gerne gearbeitet, sich ganz zugehörig zu der Belegschaft gefühlt, die fast wie eine große Familie war. Wie stolz war er gewesen, als er bei einem Tag der offenen Tür seine Familie an seinen Arbeitsplatz führte. Sie hatten gestaunt, als er ihnen den Roboter erklärte, der die Rohlinge auf das Laufband legte, das sie zur Presse fuhr. Mit großen Augen hatten sie geschaut, als das Rohmaterial, von den starken Armen des Roboters gegriffen, rotglühend aus dem Heizofen genommen und in die riesige Presse gehoben wurde, wie die Presse sich senkte und das Material in Form presste.
Er hatte dazu gehört, bis zu dem Tag, der das Leben vieler Menschen veränderte.
Erst hatte man darüber gemunkelt, dann hatte man darüber geredet und dann wurden Listen mit sozialen Merkmalen erstellt, mit denen die Mitarbeiter festgelegt wurden, die entlassen werden sollten. Da war es sicher: es würden viele sein. In unbeobachteten Momenten hatten sie sich heimlich beobachtet, gehofft, dass es der Kollege sein würde, auf den die Sozialauswahl treffen würde.
Und dann war dieser Tag gekommen, der sein Leben verändert hatte. Der Tag, an dem die Kündigungen ausgesprochen wurden.
Als sein Vorgesetzter ihn und zwei Kollegen aufforderte in die Personalabteilung zu gehen, da hatten sie gewusst, was sie erwartete. Er war gemeinsam mit seinem Kollegen die Anhöhe auf der anderen Seite herunter gegangen, in Richtung des Verwaltungsgebäudes, festen Schrittes, die Schultern gestrafft, den Kopf erhoben, sich gegenseitig Mut machend, während ihr Herz sich vor Aufregung zu überschlagen gedroht hatte.
Die Sekretärin im Vorzimmer hatte sie bedrückt angeschaut und sofort die Tür zum Personalchef geöffnet. Der war auch ernst gewesen, als er ihnen das Kündigungsschreiben überreicht hatte. Er hatte versucht aufmunternde Worte für sie zu finden, dass sie doch noch jung seien und sie bestimmt eine Arbeit finden würden. Und wenn die Auftragslage in der Firma sich wieder bessern würde, ja, dann würde er sie wieder einstellen. Er hatte ihnen sogar eine Zigarette angeboten, die sie mit zitternden Fingern entgegengenommen hatten.
Auf dem Rückweg die Anhöhe hinauf hatten sie ihre Fassung verloren. Schleppenden Schrittes, mit hängenden Schultern, waren sie in Richtung ihres Arbeitsplatzes gegangen, hatten sich nicht der Tränen geschämt, die über ihre Wangen gelaufen waren.
Die Sekretärin hatte hinter dem Fenster ihres Büros gestanden, ihnen nachgeschaut, dicke Tränen waren auch über ihre Wangen gelaufen.
Er hatte danach verschiedene Arbeiten angenommen. Oft waren sie nicht von langer Dauer gewesen. Die Beschäftigungslage in der Region hatte sich verschlechtert.
Eine der großen Firmen des Ortes hatte sein Werk ins Ausland verlegt.
Eine andere Firma war von ausländischen Investoren aufgekauft, die Gewinne abgeschöpft und das Werk geschlossen worden.
Viele kleine Zulieferfirmen hatten daraufhin ebenfalls ihre Betriebe aufgeben müssen. Viele Arbeitsplätze waren verloren gegangen.
„Ein Arbeitsplatz. das wäre wie ein Gewinn im Lotto“, sagte er sich manchmal. Aber an Glücksspielen hatte er sich nie beteiligt .
Oft hatte er versucht, wieder Mitarbeiter des Werkes zu werden. Sehr viel Mühe hatte er sich gegeben ein Bewerbungsschreiben zu verfassen, hatte diesem seinen Lebenslauf beigefügt, in dem all die Tätigkeiten vermerkt waren, die er verrichtet hatte. Von Bewerbung zu Bewerbung wurde die Liste der kurzfristigen Arbeitszeiten länger.
Diese Bewerbungsschreiben hatte er selbst beim Pförtner abgegeben. Ins Werk hatte man ihn nicht mehr gelassen. Niemand, der keine Einladung hatte, gelangte in das Werk.
Immer kam nach wenigen Tagen das Bewerbungsschreiben zurück. Immer stand im Schreiben derselbe Satz: „Leider können wir Ihnen keinen Arbeitsplatz anbieten.“
An vielen Tagen danach war er deprimiert gewesen, hatte mit sich und der Welt gehadert, sich in seiner Wohnung verkrochen: sein Selbstwertgefühl war tiefer im Boden, als das je erkannte schwarze Loch, in das er fiel.
Es hatte Zeiten gegeben, da war er wütend geworden, wenn er den Absagebrief erhielt. Man kannte ihn doch! Warum stellte man ihn nicht ein?
Dann hatte er angerufen. Die Sekretärin hatte ihn erkannt.
Das Ergebnis war das Gleiche: man stellte niemand ein.
Die Kirchturmuhr schlägt nun 20 Uhr. Gleich wird Schichtwechsel sein. Seine ehemaligen Kollegen werden durch das Drehtor treten, zum Parkplatz gehen , in ihre PKWs steigen und nach Hause fahren – so wie er es auch immer gemacht hat.
Seinen PKW hat er schon lange abgemeldet und verkauft.
Früher konnte er sich und seiner Familie spontan kleine Wünsch erfüllen, heute betreten sie voller Scham die Ausgabestelle, in der die Kirchengemeinde monatlich einmal Lebensmitteln für sie bereithält.
Seine Frau klagt nicht. Aber er hat ihre traurigen Augen gesehen, als sie die Tochter tröstend in den Arm nahm, die weinte, weil sie in der Musikschule abgemeldet wurde.
Jetzt kommen die ersten Werksangehörigen aus dem Hallentor, streben in Richtung des Drehtors.
Nun wendet auch er sich ab, geht tiefer in den Baumschatten, geht hinein in den Park, macht sich auf den Weg.