Читать книгу Café oder Liebe - Annie Sattler - Страница 5

Das Leben ist ein Freak

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Charlotte ernährte sich nur noch von Toastbrot und Nutella. Manchmal legte sie zur Abwechslung noch eine zerteilte Banane darauf, um wenigstens etwas Gesundes zu sich zu nehmen. Die Wohnung hatte sie rekordverdächtig schnell und gründlich geputzt und fertig eingerichtet, weil sie gehoffte hatte, dass er kommen würde. Charlotte verstand Daniel nicht. Er war schon süß, zwar war nicht perfekt, aber er hatte Persönlichkeit und gerade das Nicht-Vollkommene fand sie an ihm so attraktiv.

Hey meine Süße. Schön, dass du heute auch wieder da bist, sagte er vor drei Wochen am Wannsee. Wieso sagte er das? Sie hatte sich noch niemals in ihrem Leben so frei gefühlt. Sie war damit fast überfordert. Endlich hatte sie wieder eine eigene Wohnung -zum ersten Mal als Single-, aber noch keinen Fernsehanschluss und kein Internet. Da blieb einem nur Telefonieren, Lesen oder eben an Daniel zu denken. Er hatte sich Anfang Juni nicht gemeldet und sie hatte ihm an seinem Geburtstag trotzdem eine Nachricht geschrieben. Allerdings hatte er sich auch elf Tage nach ihrem Besuch in seinem Café nicht bei ihr gemeldet – und hatte es anscheinend auch nicht vor. Also, beschloss Charlotte ihn doch einfach anzurufen, was eigentlich ein No-Go für jede Frau ist. Wenn die Frau zuerst anrufen muss, ist es schon zum Scheitern verurteilt. Aber sie konnte nicht anders. Sie rief ihn an. Sein Handy war aus. Anderthalb Stunden später rief Daniel sie zurück. Sie telefonierten zehn Minuten und verabredeten sich für den nächsten Donnerstag, 20.30 Uhr, bei ihr. Sie wollten ein bisschen Wein trinken und seinen Geburtstag nachfeiern. »Wenn du lieb bist, verrate ich dir noch, wo ich wohne«, sagte Charlotte am Ende des Telefonats. »Ich verstehe schon, wie du das meinst«, lachte er. »Ich melde mich!« Er meldete sich nicht. Charlotte musste für drei Tage zu einem Seminar nach München und konnte sich während der Vorträge nicht auf den Referenten konzentrieren. Sie malte gedankenverloren auf ihrem Block rum und erschrak als sie „Charlotte Depenbrock“ auf dem Papier las, obwohl ihr der Name gefiel. Contenance, Charlotte! Für solche Träume ist es noch viel zu früh, ermahnte sie sich. Immer wieder schaute sie auf ihr Handy, in der Hoffnung, dass er ihr schreiben würde, wie sehr er sich auf das Treffen am Donnerstag freue und dass sie ihm doch bitte noch ihre Adresse senden soll oder so etwas Ähnliches. Aber er schrieb nicht. Trotzdem war sie überzeugt, dass sie sich dieses Mal wiedersehen würden. Sie hatten ja Tag und Uhrzeit quasi schon telefonisch fest vereinbart. Nach dem Seminar lief sie an jedem Abend planlos durch die Innenstadt von München. Von einem Geschäft ins andere. Sie kaufte drei Paar schicke halterlose Strümpfe bei Ludwig Beck, in einer Parfümerie erstand sie Kosmetik-Produkte, die sie nicht brauchte und sie überlegte sogar, ihm ein Geschenk zu kaufen – ein kleines nachträgliches Geburtstagsgeschenk oder ein Mitbringsel aus München. Aber davon konnte Charlotte sich gerade noch selbst abhalten. Mittwochabend saß sie wieder am Flughafen in München, wartete auf ihren Abflug und telefonierte mit Lena. Daniel hatte ihr immer noch nicht geschrieben und sie rechnete an diesem Abend auch nicht mehr damit, da die Fußball-Europameisterschaft war und Deutschland spielte. Er würde sicher in seinem Café mit seinen Kollegen Fußball gucken, Grillen, Bier trinken – aber mit Sicherheit nicht an sie denken. Sie war enttäuscht. »Schreib ihm doch einfach deine Adresse«, empfiehl ihr Lena. »Er hat eure Verabredung sicher nicht vergessen. Er ist bestimmt nur sehr beschäftigt.« Bevor sie in den Flieger stieg, schickte sie ihm eine Nachricht und teilte ihm darin mit, wie sehr sie sich auf ihr Treffen morgen freue und nannte ihm auch ihre Adresse. Charlotte erwartete vor Ende des Fußballspiels keine Antwort von ihm, aber auch als sie an diesem Abend wieder in Berlin und das Spiel längst zu Ende war, meldete er sich nicht. Er wird sicher morgen schreiben, dachte sie sich und ging schlafen. Am nächsten Morgen war endlich der Tag gekommen. Charlotte stand um 5.00 Uhr auf, putzte noch rasch ihre Wohnung und das Badezimmer, polierte die Weingläser und legte sich ihr Outfit für den Abend raus. Sie hatte am Wochenende zuvor schon diverse Getränke eingekauft und Wein von Clemens hatte sie sowieso immer da. Charlotte war zuversichtlich und voller Vorfreude! Der Tag begann prima: Es war warm, die Sonne strahlte und ihr Chef genehmigte ihr endlich die lang diskutierte Gehaltserhöhung, worauf sie am Abend ebenfalls mit Daniel anstoßen wollte. Charlotte hatte das Gefühl, dass heute alle guten Sterne auf ihrer Seite stünden. Der Tag konnte nur perfekt werden! Wenn Daniel sich nur endlich mal melden würde. Zumindest ein „Alles klar, bis heute Abend!“ hätte ihr gereicht. Einfach ein kurzes Feedback, dass ihr Herz wieder höher schlagen ließe. Aber es kam nichts. Als um 15.00 Uhr immer noch keine Reaktion von ihm kam, wusste sie, dass es eine 50:50 Chance war, ob er heute kommen würde oder nicht. Entweder er kommt oder er sagt ab. Um 18.00 Uhr ging sie zum Yoga, in der Hoffnung, dass er sich in den anderthalb Stunden, in den ihr Handy aus war, melden würde. Aber auch nach dem Yoga hatte sie keine Nachricht von ihm. Dennoch bewahrte sie ihren Optimismus. Immerhin hatte er ihr auch noch nicht abgesagt. Charlotte überlegte, ob er vielleicht so verpeilt sei, dass es ihm einfach untergegangen war, das Date noch mal zu bestätigen. Sie eilte nach Hause unter die Dusche, rasierte sich die Beine, hüllte sie in Parisienne-Bodylotion und in die schwarzen halterlosen Strümpfe aus München ein. Sie zog einen klassischen anthrazitfarbenen Rock und ihr elegantes, schwarzes Calvin-Klein-Top an. Sie frischte ihr Make-Up auf und föhnte sich die Haare nur leicht an, denn sie fand es verführerisch, wenn ihre Haare noch etwas wild und nass waren. Um 20.15 Uhr war sie fertig, schloss ihren iPod an die Lautsprecherboxen an und spielte die Playliste ab, welche sie am Wochenende zuvor schon unter dem Namen Life is a Freak zusammengestellt hatte. Ein Mix aus Café del Mar, Air und Nouvelle Vague. Noch war bei Charlotte die Hoffnung groß, dass er vorbeikommen würde. Sie saß auf ihrem Bett hinter dem Vorhang und schaute auf die Straße hinaus. Aber er kam nicht. Sie rief Lena an. »Er wird schon noch kommen. Warte noch ein paar Minuten. Er hätte dir doch abgesagt, wenn er nicht kommen würde.« Sie rief Jenni an. »Das ist nicht dein Ernst? Er ist noch nicht da? Aber überraschen tut es mich jetzt nicht. Er hat dich ja nicht zum ersten Mal versetzt.« Sie rief Selma an. »Er kommt einfach nicht und sagt dir nicht einmal ab? Halte mich auf dem Laufenden!« Charlotte saß bis halb zehn regungslos auf ihrem Bett und dann wurde auch ihr klar, dass er tatsächlich nicht mehr kommen würde. Aber sie war zu stolz, um ihn anzurufen. Daniel hatte sie verarscht, folgerte sie. So etwas kannte sie bisher nur aus schlechten Filmen und hatte sich immer gefragt, wie die Weiber so blöd sein konnten. Jetzt war sie selbst eine von ihnen. Sie musste raus. Raus aus dieser Wohnung. Sofort. Charlotte lief in ihrem schicken Outfit und in High-Heels an der Spree entlang und war deprimiert. Ein paar Amaretto Sour hätten jetzt geholfen, aber sie war zu deprimiert, um sich allein in eine Bar zu setzen und auch zu geizig, jetzt noch Geld für teuren Alkohol auszugeben. Sie hatte in München schon genug Geld ausgegeben, um sich aufzumuntern. Also holte sie sich einen Döner mit Knoblauchsoße und schlenderte enttäuscht wieder nach Hause. Sie mampfte gierig den Döner und löschte anschließend Daniels Nummer sowie ihre Nachrichten an ihn. Sie wollte nichts mehr von ihm in ihrem Handy haben. Sie hatte sich so sehr auf ihn gefreut und sich die ganzen Tage zuvor vorgestellt, wie sie Wein trinken, auf seinen Geburtstag und auf ihre Gehaltserhöhung anstoßen würden und dass sie sich auf ihrem Sofa küssen würden. Aber er kam nicht und er rief auch nicht an. Charlotte existierte für ihn gar nicht! Wahrscheinlich hat er eine feste Freundin, vermutete sie. Danach gefragt hatte sie ihn nie. Also, fing sie daher besser schon mal an, ihn blöd zu finden. Er konnte das sowieso nicht mehr gut machen. Nicht in diesem Leben. Am nächsten Tag beschloss Charlotte, sich nicht von seiner Ignoranz runterziehen zu lassen. Sie kleidete sich in einer ihrer schönsten Büro-Outfits und schminkte sich genauso schön, wie am Vorabend. Auf dem Weg zur Arbeit fasste sie den Entschluss, der Welt mit einem Lächeln zu begegnen und Daniel zu vergessen. Endlich konnte sie sich wieder richtig auf die Vorbereitung der aktuellen Veranstaltungen auf der Arbeit konzentrieren. Sie kniete sich so tief in die Arbeit rein, wie lange nicht mehr. Sie verdrängte Daniel, freute sich stattdessen über die Gehaltserhöhung und blieb, obwohl es Freitag war, bis 20.00 Uhr im Büro. »Hey, hast du Lust noch was Trinken zu gehen?«, fragte Ragna, ihre beste Freundin im Büro. »Nein, heute eher nicht…« »Dann komm doch mit auf die Open-Air-Party morgen! Da finden wir ein paar neue Kerle für dich und das wird dich von diesem Daniel ablenken!« »Ja, vielleicht. Ich überlege es mir.« Natürlich ging Charlotte nicht mit zu dem Open-Air, da ihr absolut nicht zum Feiern zumute war. Stattdessen lag sie an diesem schwülen Samstagabend allein auf ihrem Sofa, trank eine Flasche süßen Rotwein von Clemens und schaute sich den Film Mondscheintarif auf DVD an. Sie musste ihre Kopfhörer dazu benutzen, weil der DVD-Recorder ihres alten Notebooks so laut ratterte, dass man kein Wort mehr verstand. Sie lag angetrunken auf dem Sofa, war down, schaute den Film und fühlte jede Szene mit. Sie hielt den Daumen hoch, wenn sie der Situation in dem Film zustimmte und klopfte ihrem Notebook „auf die Schulter“, wenn Cora Hübsch, die Hauptfigur in dem Film, durchgehalten, beziehungsweise sich richtig verhalten hatte. In Mondscheintarif ging es hauptsächlich darum, ihn nicht anzurufen und ihm nicht hinterher zu rennen. Charlotte lag am Ende regungslos da und schaute sich nach dem Film noch den ganzen Abspann an. Sie wollte nicht aufstehen, sie wollte einfach so liegen bleiben, für immer. Das ging natürlich nicht, denn irgendwann musste sie von dem vielen Wein auf die Toilette. Also, stand sie auf und schaute nebenbei auf ihr Handy, das während dem Film eine Nachricht erhalten hatte, was sie aber dank ihrer Kopfhörer überhört hatte. Charlotte hätte ihr Leben darauf verwettet, das sie von Ragna war, da sie ihr am Nachmittag geschrieben und für die Open-Air-Party noch abgesagt hatte. Aber nein, sie war von ihm. Sie hatte eine Nachricht von Daniel! Hallo schöne Frau! Es tut mir leid, dass ich dich liegen gelassen habe. Aber hier im Café war gut was los und Caterings hatte ich auch wieder das Wochenende. Sorry, aber das ist mein Leben gerade. Dich nicht gesehen zu haben ist schade, aber steigert die Vorfreude auf das bald. Knutsch Hübsche. Charlotte war geschockt und zitterte, denn damit hatte sie nicht mehr gerechnet. Das waren zu viele Informationen für ihren Gefühlszustand und ihren Alkoholpegel. Okay, was haben wir gerade wieder in dem Film gelernt? Bloß nicht melden! Gut, das würde sie auch nicht tun. Erst einmal nicht, beschloss Charlotte eisern. Erst mal ging sie pullern. Dann schrieb sie eine Nachricht an ihre drei besten Freundinnen und informierte sie darüber, dass Daniel sich gemeldet hatte. Sie zog sich ihr neues kleines Schwarzes über, schnappte sich die Flasche mit dem restlichen Wein, zog High-Heels an, packte ihr Handy und ihre Schlüssel in ihre teuerste Handtasche und flanierte um halb zwölf nachts an der Spree entlang. Charlotte hatte wieder Hoffnung, denn er stand einfach doch auf sie! An der Spree setzte sie sich oben auf die Rückenlehne einer Bank und analysierte mit Jenni telefonisch seine Nachricht. Charlotte las aus seiner Nachricht nur heraus, dass er sie schön und hübsch fände, dass es ihm Leid täte und dass er sie wiedersehen wolle! Jenni sah das anders. Sie entgegnete, dass Charlotte für diese ehrliche Nachricht dankbar sein sollte (war sie auch!) und dass damit ja alles gesagt sei. »Sorry, aber das ist sein Leben gerade. Er steht einfach nicht auf dich! Er hält dich nur hin! Er ist peinlich!« »Ja, ich finde es ebenfalls etwas lächerlich, aber auch so süß!« Charlotte trank glückselig die Flasche Wein leer, genoss die Luft der warmen Sommernacht und träumte von einem Wiedersehen mit Daniel. Am nächsten Tag antwortete sie ihm, dass sie für all das Verständnis habe, nur nicht dafür, dass seine Nachricht 48 Stunden zu spät kam und dass sie an seinem Timing noch arbeiten müssten. Anschließend ging sie im Kopf noch einmal ihre Zielplanung durch. Denn sie war überzeugt davon, dass man jedes Ziel erreichen könne, solange man Schritt für Schritt an seine Ziele heran geht. Ziel 1: Daniel am Wannsee überraschen. Er war da. Check. Er hatte sich Zeit für sie genommen. Check. Er hat sie geküsst. Check. Er steht auf sie. Check. Ziel 1 erreicht. Ziel 2: Daniel wiedersehen. Nein, sie würde sich nicht bei ihm melden! Wenn er sich auch nicht meldet, dann sähe er sie Ende Juni auf seinem Sommerfest wieder. Punkt. Und dann? Charlotte konnte irgendwie nicht weiterdenken. Ziel 2 erschien so schwierig und unerreichbar. »Schwierig ist nur, wie schnell und wie groß man die Schritte macht, wenn man besser mal etwas kürzer getreten wäre«, ermahnte sie Jenni als Charlotte sie am Nachmittag wieder anrief. Jenni war fassungslos, dass sie ihm überhaupt noch geantwortet hatte. Single sein war wirklich toll! Bis man sich wieder verliebt, dann war es grausam, dachte sich Charlotte seufzend. Überhaupt war sie wieder nur noch am Träumen und Nachdenken. Wo war eigentlich sein Problem? Hatte er wirklich keine Zeit? Aber irgendwann in diesem Leben wird er doch wieder Zeit haben! Würde sie auf ihn warten? Solange ihr Herz ihr keine andere Wahl ließe, würde sie auf Daniel warten! Dann ließe sie eben die Zeit ihr Schicksal bestimmen! Es passierte aber nichts. Die Tage vergingen, aber Daniel meldete sich nicht wieder. Nach acht Tagen, an denen sie nur an ihn gedacht und sich ihr Wiedersehen in allen Farben ausgemalt hatte, musste sie sich wirklich sehr zusammenreißen, sich weiterhin nicht bei ihm zu melden. Also, legte sie sich zum Zeitvertreib die Tarot-Karten im Internet und lies sich von ihnen belügen. In deiner „Beziehung“ geht es derzeit darum, aktiv zu werden und vielleicht ein Meisterwerk zu vollbringen. Charlotte fand, dass die Karten sie in die richtige Richtung schubsten und genau das brauchte sie auch jetzt. Also, schaute sie noch, was die Quintessenz ihr riet. Was das Orakel dir rät:Sei hilfsbereit und mitfühlend, höre auf deine innere Stimme und auf den Rat einer einfühlsamen oder medialen Frau (Ha, bestimmt nicht Jenni!), beziehe sie ein und vertraue ihr (ganz sicher nicht Jenni!), lass dich von ihrer Intuition leiten oder befragen eine weise Frau (Lena?). Charlotte nahm sich vor, Lena später mal anzurufen, denn Lena war schon sehr lange in einer Beziehung und inzwischen sogar verheiratet. Zudem hatte sie festgestellt, dass sie ihr gut tat, wenn sie mehr Mut und Zuversicht brauchte. Lena glaubte, genauso wie sie, an das Gute in jedem Menschen und an Happy Endings. Außerdem kannte sie Daniel ja auch ein wenig. »Er ist bestimmt nur sehr beschäftigt, wegen seines Sommerfests«, versuchte Lena sie zu trösten. »Er hat die Feier sogar schon verschoben. Er wollte sie schon viel früher veranstalten.« »Ja, vielleicht hast du Recht und ich muss mich einfach noch ein bisschen gedulden.« »Immerhin hat er sich wieder bei dir gemeldet und dich nicht vergessen!« Seit Daniel ihr die Nachricht geschickt hatte, war sie ihm endgültig verfallen. Charlotte schaute sie sich einhundertmal am Tag an und es tat ihr so gut dieses „Hallo schöne Frau“ und „Knutsch Hübsche“ zu lesen. Okay, sie musste zugeben, dass ihr Ex-Freund damals viel gefühlvoller schreiben konnte, aber in ihn war sie nicht (mehr!) verliebt und jeder Mann ist eben anders. Oh nein, sie war wirklich total verliebt und machtlos ihren Gefühlen gegenüber, stellte Charlotte fest. Aber was mochte sie an Daniel eigentlich? Er war doch gar nicht präsent! Den ganzen Tag schaute sie sich die Fotos an, die Lena damals von ihm und seinem Café gemacht hatte. Sie liebte seine Augen, seine Blicke, seine dunklen Haare, sein Lächeln, seine Lippen (besonders seine zarte Unterlippe), seine Hände (besonders, als diese sie berührten und er ihr sagte, dass sie weiche Haut habe), seine Nase, seine Stimme, seine Schultern. Genauso auch seinen Ehrgeiz, seine augenscheinliche Disziplin und seine zwei Wesensarten. Einerseits wirkte er so tough, straight und bossy, andererseits lieb, schüchtern, jungenhaft und leicht unerfahren. Natürlich plagten Charlotte hartnäckige Zweifel und mit jedem Tag, an dem sie kein Lebenzeichen von ihm bekam, wurden sie immer stärker. Demgegenüber ging so eine Faszination von der ganzen Situation aus, dass sie irgendwann wieder einen Impuls setzen musste, wenn er es schon nicht tun würde. Aber Daniel schien darüber nur unbekümmert zu sein und nicht an sie zu denken. Charlotte war ein emotionales Wrack. Ihr Kopf sagte ihr, dass er schon viel zu weit gegangen war und sie es nicht nötig habe, sich so behandeln zu lassen. Aber ihr Herz hat ein größeres Gedächtnis als ihr Gehirn und konnte ihn nicht vergessen. In einer spirituellen Zeitschrift hatte sie mal gelesen, dass die Organe auch Gehirnzellen, also Erinnerungsvermögen besitzen und dass das Herz ca. 40.000 Gehirnzellen hat. Jede einzelne dieser Zellen in ihrem Herz dachte nur an Daniel. Sie war überzeugt, dass er der Richtige sei und dass es auf dieser Welt noch fruchtbaren Boden für ihre Liebe gäbe. Wir müssen nur die Zeit finden zu säen, dachte sie einerseits. Andererseits dachte sie darüber nach, was für einen Quatsch das doch alles war! Aber sie kam nicht dagegen an. Ihr Herz hatte Recht. Während dem Rumträumen und Warten fand sie den Song „Das Liebeslied“ von Annett Louisan im Internet, lud ihn sich auf ihren iPod herunter und hörte ihn nonstop die ganze Nacht. Annett sang ihr aus der Seele, wobei Charlotte aber fand, dass der Titel „Das Liebesleid“ ihren Zustand passender beschrieben hätte. Eigentlich wollte sie das Liebeslied bloß zum Einschlafen hören, aber um 4.00 Uhr lag sie an diesem Montagmorgen immer noch wach im Bett, hörte diesen Song, hatte Herzrasen und dachte an Daniel. Um 4.30 Uhr hielt Charlotte es nicht mehr aus. Sie war die ganze Nacht wach, ihr Herz pumpte in einer ungesunden Geschwindigkeit Adrenalin durch ihren Körper und sie wurde einfach nicht müde. Es war allerhöchste Zeit wieder aktiv zu werden. Vielleicht hat er ja keine Zeit, na und? Sie hatte Zeit und diese werde sie gleich mal in eine Nachricht an ihn investieren, dachte Charlotte sich festentschlossen. Sie schickte die Nachricht ab und ging unter die Dusche. Ihre Freundinnen konnte sie mitten in der Nacht nicht um Rat fragen. Die Nacht war einfach nicht sicher. Gut, okay, sie war selbst schuld. Sie hatte nicht durchgehalten! Charlotte hat gegen jede Regel des Frauseins verstoßen und Daniel eine Nachricht geschrieben. Eine ziemlich direkte sogar. Wie war das mit dem Zurückrudern? Nein, lieber wieder hoch pokern. Als sie die Nachricht absendete, war sie total stark, selbstbewusst und unverwundbar. Als die Nachricht eine Sekunde später verschickt war, war Charlotte nur noch deprimiert und schämte sich. Vor allem, weil sie es ihren Freundinnen beichten musste, was noch viel schlimmer war, denn sie hatte Angst, dass sie ihr dafür den Hals umdrehen würden. Angst, aber auch Verständnis. Wochenlang hörten sie sich ihr Gejammer an und ermutigten sie mit ihren Erfahrungen und ihrem Bauchgefühl durchzuhalten, bis zum Happy End oder zumindest bis er sich endlich mit ihr träfe – und dann waren alle Therapiestunden umsonst. Sie war rückfällig geworden und noch süchtiger nach ihm als je zuvor. Sie wusste, dass man immer die Dinge haben mochte, welche unerreichbar waren – und gerade weil er sie oder vielmehr ihre Nachrichten so ignorierte, war sie so besessen von ihm und wollte ihn wiedersehen. Sie wollte einfach ein Date mit ihm haben. Charlotte verstand es aber nicht und sie wollte es auch nicht kapieren. Dich nicht gesehen zu haben ist schade, aber steigert die Vorfreude auf das bald. Knutsch hübsche, waren seine letzten Worte, vor acht Tagen und diese waren ihr die ganze letzte Nacht nicht aus dem Kopf gegangen. Sie war verzweifelt verliebt und dachte nur: Solange ihr ihr Herz keine andere Wahl ließe, werde sie auf ihn warten! Charlotte kam sich dennoch so armselig vor. Sie würde sich selbst nicht haben wollen, wenn sie sich als Außenstehende betrachten würde. Nach der Arbeit rief sie ihre Freundin Selma an, um ihr ihr Leid zu klagen. »Selma, ich habe Daniel eine Nachricht geschickt, eine sehr deutliche Nachricht und das war ein großer Fehler!« »Ich finde das überhaupt nicht schlimm. Was hast du ihm denn genau geschrieben?« »Ich habe ihm geschrieben, dass er mir fehlt und dass ich schon gar nicht mehr weiß, wie es sich anfühlt, ihn zu küssen. Okay, der Anfang ist vielleicht zu schnulzig und direkt, aber ich will ihn damit auch etwas aus der Reserve locken!« »Das finde ich wirklich nicht schlimm. Was hast du ihm denn noch geschrieben?« »Na, dass wir uns sicherlich am Samstag sehen werden, weil Clemens mich gefragt hat, ob ich ihm helfe Wein auszuschenken. Und, dass ich den ganzen Tag da sein werde und mir sein großes Event nicht entgehen lasse.« »Du bist klasse, Charlie! Da kann er eigentlich nur positiv reagieren. Klare Ansage, klare Reaktion. Ich denke, dass er halt unheimlich verpeilt ist und es deshalb nicht auf die Kette bekommt. Schau einfach mal was passiert. So kannst du wenigstens sagen, dass es nicht an dir gelegen hat.« »Danke, da bin ich erleichtert! Warum gibt es keinen Mann, der so ist wie du, Selma? Den würde ich sofort nehmen und dann wäre das alles nicht so kompliziert.« »Du spinnst ja!«, lachte Selma. »Aber wenn Daniel so weiter macht, dann gibt's keine Schonfrist mehr!« »Wenn er so weitermacht, wird er jung und einsam sterben!« Sie lachten und Charlotte war wieder beruhigt. Am Dienstag vor dem großen Show-Down telefonierte sie mal wieder mit Jenni und belästigte sie mit ihrem nicht enden wollenden Liebeskummer, was eigentlich schon fast ein Liebeskoma war. »Am kommenden Wochenende ist endlich Daniels Sommerfest in seinem Café und wahrscheinlich meine Beerdigung.« »Warum gehst du denn da überhaupt noch hin?«, meckerte Jenni mit ihr. »Ich will dort auch gar nicht mehr hin, aber ich kann Clemens jetzt auch nicht mehr absagen! Ich habe ihm doch versprochen, an seinem Weinstand zu helfen und ich freue mich auch, Lena und Julius wiederzusehen. Ich muss dorthin, aber meine Hoffnungen lasse ich besser zu Hause.« »Gib Daniel etwas Zeit. Er hat vielleicht nicht so die Erfahrung mit Frauen?«, versuchte Jenni sie zu trösten. »Ja sicher, und ich habe leider nicht so die Geduld mit Männern! Er hat immer noch nicht auf meine letzte Nachricht reagiert und das ist jetzt drei Tage her!« »Ich verstehe sowieso nicht, warum du ihm überhaupt noch mal geschrieben hast. Mensch Charlotte, sei doch endlich mal mehr „Distanzette“, statt immer so ‘ne Klette!« »Ich konnte in diesem Moment einfach nicht anders.« »Komm schon, so was hast du doch wirklich nicht verdient! Ich bin gespannt, was er am Samstag zu dir sagen wird!« Charlotte wusste nicht mehr, wie sie die restliche Woche noch überleben sollte. Mit jedem Tag wurde sie angespannter und nervöser. Am Mittwoch war sie so sehr in Gedanken versunken, dass sie auf dem Weg zur Arbeit zwei U-Bahn-Stationen zu weit fuhr und abends auf dem Heimweg versehentlich eine U-Bahn-Station zu früh ausstieg. Donnerstag vergaß sie ihr Notebook zu Hause, was ihr aber erst auffiel, als sie den leeren Schreibtisch in ihrem Büro sah. Wenigstens hatte Charlotte diesmal die richtigen U-Bahn-Stationen erwischt, als sie nochmals nach Hause pendeln musste, um ihr Notebook zu holen. Am Abend stellte sie aber noch fest, dass sie den ganzen Tag ihr Bügeleisen angelassen hatte. Zum Glück war nichts passiert – nur, dass es an diesem hochsommerlichen Tag elf Stunden ihre Küche beheizte. Am Freitag hatte sie versehentlich ihren schwarzen Liquid-Eyeliner mit der hellen Wäsche mitgewaschen und konnte sich wirklich nicht erklären, wie der Eyeliner mit in die Waschmaschine geraten war, aber dafür hatte sie jetzt wieder Platz in ihrem Kleiderschrank. Der Samstag konnte entweder nur besser werden oder diese schreckliche Woche noch toppen.


Café oder Liebe

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