Читать книгу Fegoria - Dunkle Stunden - Annika Kastner - Страница 6
Alice
ОглавлениеKalte Gischt spritzt mir ins Gesicht. Mühsam öffne ich meine Augen, die durch das Salzwasser verklebt sind, und schaue mich blinzelnd um. Mein gesamter Körper fühlt sich zerschlagen und bleischwer an, als hätte mich ein Bus bei voller Fahrt erwischt und anschließend gewendet, nur um sicher zu gehen, dass ich auch tatsächlich platt bin. Mühsam unterdrücke ich ein Stöhnen, als ich mich schließlich vorsichtig bewege. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt eingeschlafen bin, doch die Ereignisse haben ihren Tribut gefordert und meinen Körper in den Ruhezustand versetzt – die Heilung braucht Kraft und Zeit. Beides Dinge, die mir gerade ziemlich fehlen. Wäre ich noch ein Mensch, daran hege ich keinen Zweifel, wäre ich dort gestorben. Ich erinnere mich an alles, was geschehen ist, jedes Detail, was dazu geführt hat, wie ich hier auf diesem rauen Felsen mitten im Meer gelandet bin. Die Rückblicke sind nicht grausamer als jenes, was mir widerfahren ist. Erinnerung an den Elbenprinzen, der sein Leben riskiert hat, um mich abermals in seine Gewalt zu bringen, was sich jedoch am Ende dieses Weges gar nicht als Entführung, sondern als Rettung entpuppt hat. So viele Lügen, so viel Leid … so viel, was ich erst jetzt verstehe. Er, von dem ich bis vor kurzem gedacht habe, dass er mein Feind wäre und in dessen Arm ich endlich wieder Ruhe finde. Oh, wie falsch ich doch vor ein paar Stunden noch gelegen habe, mit törichter Blindheit geschlagen. Scham durchflutet mich, heiß und lodernd. Ich erinnere mich deutlich an den Hass, ach was, die blanke Wut, die ich empfunden habe, als ich ihn auf dem Fest Auge in Auge gegenübergestanden habe. Der züngelnde Zorn, den ich verspürt habe, den Wunsch, ihn auf der Stelle zu töten. Bei unserem Kampf in den Höhlen hätte ich es getan, wenn ich es gekonnt hätte. Ganz bestimmt! Und dieses Wissen raubt mir fast den Verstand. Gut, dass ich keinen Erfolg gehabt habe und das Schicksal mir gnädig gewesen ist. Wir gehören zusammen, unser Schicksal ist eins, das spüre ich bis in Mark und Bein. Jetzt, wo es beinahe zu spät ist und die Wirkung der faulen Zauberei nachlässt, sehe ich klarer. Sein Weg, ist mein Weg. Wie habe ich dies vergessen können, ihn vergessen? Wie soll ich damit leben, was ich getan habe? Ausgerechnet ihm, den ich über alles liebe? Ich erinnere mich an die Bestien, die dort oben, weit über uns, in den Felsen hausen, und meinen Rücken im unerbittlichen Kampf bis auf die Muskeln aufgerissen haben – jedenfalls fühlt es sich im Moment so an. Es ist mir ein Rätsel, wie ich mich auf den Beinen hab halten können. Ohne Crispin wäre ich dort zugrunde gegangen. Nur ihm ist es zu verdanken, dass ich noch atme. Er, dieser sture Prinz, der bis zum letzten Atemzug für uns kämpfen würde.
Das Salzwasser brennt wie Feuer auf meiner verletzten Haut, doch ich heiße den Schmerz willkommen, er lenkt mich von meiner inneren Qual ab. Warum ist es nur soweit kommen? Haben wir nicht etwas Glück verdient? Seit ich in diesem Land lebe, habe ich mehr Gewalt erfahren, als ein Mensch erfahren sollte. Aber … ich bin kein Mensch. Es liegen noch Jahrhunderte vor mir und ich bete zu den Göttern, dass diese den Schmerz und die Scham fortspülen wie die Wellen mein Blut von diesem Felsen unter mir. Ich drücke mich fester an Crispins warmen Körper, suche Trost. Mich in Sicherheit zu wiegen, da er hier bei mir ist, hilft mir ungemein. Crispin ist gekommen – für mich. Mein Seelengefährte, mein Schicksal. Seine Arme schließen sich enger, besitzergreifender um meinen Rumpf. Mein Herz pocht wild in meiner Brust. Wie kann er mich nach all dem noch lieben? Er ist der Stärkere von uns beiden, schon immer gewesen, und ich lerne langsam, diese Welt aus seinen Augen zu sehen. Meine alte Welt verblasst stündlich mehr, denn mein Leben hier ist so völlig fern von dem, was ich kenne. Hart und gnadenlos, zudem voller Wunder. Dort draußen auf dem Wasser hätte ich beinahe aufgegeben. Ja, ich habe genug gehabt, das gebe ich zu. Dieses Wissen macht mich nicht stolz, aber es ist ein Moment der Schwäche gewesen. Ich bin bereit gewesen, zu gehen, all das hinter mir zu lassen, damit er sich hätte retten können. Nein, er ist es, der uns am Leben hält, der uns nicht aufgibt und dafür bin ich ihm unendlich dankbar. Mein Weg ist noch nicht zu Ende. Asta hat das, was wir haben und jenes, was uns verbindet, zerstören wollen, doch Crispin ist durchaus mächtiger oder einfach nur dickköpfiger – es trifft letztlich beides auf meinen Gefährten zu … Diesen arroganten, selbstherrlichen und doch liebevollen, fürsorglichen Elbenprinzen, der vor Widersprüchen nur so trotzt. Er hat sein Versprechen gehalten, ist für mich bis ans Ende der Welt gegangen, hat sich unseren Widersachern alleine gestellt, nur um mich zurückzufordern. Ich werde schützen, was mein ist, und du bist die meine, Alice. Das sind einst seine Worte an mich gewesen. Nein, der Prinz der Elben ist nicht mein Feind. Es ist, als hat das Wasser eine heilende Wirkung gehabt und mein Blutverlust dazu beigetragen, den Trank zu vernichten. Alles wird plötzlich viel klarer, ergibt einen Sinn. Erinnerungen durchfluten mich. Er ist so viel mehr, das spüre ich tief in mir. Die Liebe meines Lebens. Wir sind verbunden, wir sind eins. Seit Tagen fühle ich mich das erste Mal als ein Ganzes. Als wäre ein wichtiges Puzzleteil, welches gefehlt hat, nun wieder an seinen Platz gerückt. Zusammen ergeben wir ein Bildnis. Ich vertraue ihm. Seit der Ring fort ist, sehe ich klarer, bin gleichzeitig wütend auf mich selbst, dass sie mich so haben täuschen können. Aber ich weiß auch, dass ich keine Chance gegen Asta und Castiell gehabt habe. Gott weiß, wie ich mich gewehrt, dennoch kläglich versagt habe, und damit nicht nur mich, sondern ebenfalls Crispin in Gefahr gebracht habe. Das wird mir kein zweites Mal passieren. Ab jetzt bin ich wachsamer.
Crispin zieht mich enger an sich und versucht, mich vor den Tropfen des tosenden Wassers mit seinem Körper zu schützen, doch dies ist unmöglich, egal wie sehr er sich bemüht. Das Meer wütet um uns herum und er weigert sich, ohne mich an Land zu schwimmen. Er ist so stur wie ein alter Ochse. Es macht mich wütend und glücklich zugleich. Ich möchte nicht von ihm getrennt sein, will jedoch, dass er sich rettet. Nur er allein hätte eine reale Chance zu überleben. Aber nein, nun sitzen wir beide hier fest, denn meine Verletzung hindert mich daran, durch das aufgewühlte Meer an Land zu kommen. Er wird keineswegs packen, mich bis dahin mitzunehmen, völlig gleich, was er behauptet. Ich erzittere. Sein Körper schafft es nicht, mich zu wärmen, der kalte Wind und das Meer sind eine unerbittliche Kombination, die gegen ihn arbeitet. Vor allem da ihm nicht mal ein Hemd geblieben ist, weil ich es trage. Nicht, dass es etwas nützt, im Gegenteil, es ist sogar triefend nass.
Gnadenlos sorgt die raue See dafür, dass wir nicht wirklich trocknen. Das Salz fühlt sich unangenehm auf meiner Haut an. Der Kampf mit der Chimäre, oben im Schloss, hat uns bis an unsere Grenzen gebracht. Auch ihm merke ich die Strapazen deutlich an. Er ist nicht weniger zerschunden als ich. Sein Bein, bis auf die Muskeln aufgetrennt, heilt ebenso dürftig wie mein Rücken, doch er beschwert sich unter keinen Umständen. Nie. Seit Stunden verharren wir hier. Jedenfalls gehe ich von Stunden aus, eine Uhr gibt es nicht. Zeit hat hier eine andere Bedeutung. Die Sonne steht hoch am Himmel, die Nacht ist längst vorbei, doch die Gefahr nicht, sie ist greifbar. Eine Uhr … In ganz Fegoria kennt man sie nicht, aber ich erinnere mich wieder an eine Welt, in der es Uhren gibt, deren Zeiger uns unerbittlich jagen, unsere Tage planen und für einen geordneten Ablauf sorgen. Das fehlt mir. Doch hier, in dieser fremden Welt, läuft es anders. Ich erinnere mich nicht an alles aus dieser Welt, doch es wird immer mehr. Crispin sagt, es läge an einem Trank, den sie mir verabreicht haben. Die Wirkung wird gänzlich verschwinden, sobald mein Körper sich regeneriert hat. Bald – einige Stunden, vielleicht Tage, dann werde ich wieder alles wissen. Sein Wort in Gottes Ohr.
Wenn ich die letzten Stunde Revue passieren lasse, ist es ein Wunder, dass wir beide überhaupt noch leben. Daraus kann ich nur schließen, dass er recht behält und die Götter Pläne mit uns haben. Ob sie so gut sind, wage ich nicht, zu urteilen. Aber wie heißt es so schön, die Hoffnung stirbt zuletzt, oder? Meine Gedanken schweifen umher. Tief ziehe ich die salzige Luft in meine Lungen. Mein Leben hat sich so sehr verändert. Es ist wie ein ferner, unwirklicher Traum und manchmal habe ich Angst, dass ich einfach erwache. Ich liege in den Armen eines Elben, einem echten Wesen mit spitzen Ohren und einem unsterblichen Leben. Ich bin eine Albin. Herr Gott, dazu der Feind der Elben und doch lieben wir uns. Ich bin kein Mensch mehr. Verfluchte Scheiße. Ich bin eine Albin, wiederhole ich für mich selbst nochmal. Meine Ohren sind ebenfalls spitz. Spitze Ohren!!! Das ist … nicht verrückter als alles andere, was ich hier erlebe. Nie wieder werde ich in einem Café sitzen, einen Muffin mit Schokoglasur bestellen oder einen Kinofilm sehen. Dafür das Schwert schwingen und hoffen, dass sie eines Tages eine Dusche erfinden. Oh, noch besser eine Toilette. Was für eine Traumvorstellung. Crispins Nase reibt über meinen Nacken, lenkt mich ab. Ich spüre seine warmen Lippen, die einen leichten Kuss auf meine kühle Haut hauchen. Tausend Schmetterlinge fangen in meinem Bauch an, zu tanzen. Das wilde heiße Feuer in mir, ist in seiner Gegenwart eine warme friedliche Flamme, wie ein Drache, der sich zur Ruhe gelegt hat. Es fühlt sich richtig an, als sollte ich genau hier sein, bei ihm. Der Ring an meiner Hand, den Asta mir gegeben hat, weil er angeblich den Zauber der Elben unterbindet, ist fort. Mit ihm die Lügen. Er ist in den Höhlen geblieben oder ins Meer gespült worden, ich weiß es nicht. Tatsächlich hat dieses kleine Metallteil meine Erinnerungen zusammen mit dem verfluchten Trank blockiert. Sie haben mich und alles, was mich ausmacht, zerstören wollen. Das macht mir schreckliche Angst, denn sie hätten sicherlich Erfolg gehabt. Sie haben mich reingelegt. Mit Gewalt, wie ich jetzt weiß, aber dennoch ist mir bewusst geworden, dass auch eine dunkle Seite in mir wohnt. Eine, wäre mein Weg ein anderer gewesen, mein Ich hätte sein können. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, was Grimm heute Nacht mit mir vorgehabt hat. Hart schlucke ich und verbiete mir, diesen Gedanken weiterzuführen. Crispin ist rechtzeitig bei mir gewesen, das ist alles, was zählt. Er hat es verhindert. Seine Küsse werden all das fortspülen, was Grimm hinterlassen hat. Die Kälte, die Verzweiflung … Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie hart und brutal er und sein Vater sein können. Zahlreiche blaue Flecke auf meinem Körper sprechen Bände. Ich erinnere mich wieder, wie ich gegen sie gekämpft habe, doch ich bin zu schwach gewesen. Einzig mit einem Stab aus Holz habe ich mich ihnen gegenübergestellt. Glühend und lodernd brodelt der Hass in mir, wenn ich an Asta denke. Hass ist ein starkes Gefühl. Mächtig. Er verdient schlimmeres als den Tod.
Mein Blick wandert hinauf. Ich blinzle einige Male. Nach dem Sprung von den Felsen, auf der Flucht vor der Chimäre ins aufgewühlte Meer, harren wir also weiter aus, bis Crispin Vernunft annimmt oder ein Wunder geschieht. Beides soll mir recht sein, obwohl ich das Wunder bevorzuge. Wir haben so viel geschafft, es wäre unfair, wenn es jetzt endet. Nicht so. Aber uns läuft die Zeit davon. »Crispin?« Meine Stimme klingt heiser. Ich unterdrücke ein weiteres schmerzvolles Stöhnen.
»Ja, kleiner Schmetterling?« Sofort richtet er sich auf, winkelt seine Arme an, wirkt sehr besorgt, während ich mich ihm zudrehe. Er ist so stark. Ich hasse es, Angst in seiner Stimme zu erkennen. Durch mich hat er dieses Gefühl erst kennengelernt. Jemand wie er hat keine Angst. Nicht so, wie er sie ausstehen hat müssen. Er hat nie eine Gefährtin gewollt, weil es seine Schwachstelle wäre, und selbst damit behält er recht. Hier bin ich und all das zeigt, dass seine Befürchtung wahr geworden ist. Ich schwäche ihn, und genau das werden sich seine Gegner zunutze machen. Eine feuchte Strähne fällt ihm in sein markantes Gesicht, auf dessen Wangen sich ein dunkler Bartschatten gebildet hat und von Kratzern übersät ist. Es verleiht ihm etwas Gefährliches und Hartes, was mein Herz noch ein wenig mehr klopfen lässt. Trotz meiner Schmerzen kann ich nicht umher, festzustellen, wie attraktiv er ist. Er hat seine Tunika, so gut es geht, um meinen Rumpf gebunden, um die Blutung zu stoppen. Wenn ich ihm Glauben schenken darf, hat die Heilung bereits begonnen. Es fühlt sich nicht so an, aber mein Vertrauen hat er. Albe und Elben heilen schneller, dem Himmel sei Dank. Ein dünnes, rotes Rinnsal treibt trotzdem noch vom Felsen ins Meer. Bei meinem Glück wimmelt es gleich vor Haien. Mörderische Fegoria-Monsterhaie. Ich bin sicher, so etwas gibt es hier. Die Krallen der Chimäre haben mich schwer erwischt, doch immerhin haben wir ebenfalls eines dieser Biester in die ewigen Jagdgründe schicken können. Ich bin zwar ein echter Tierfreund, doch bei diesem Vieh hört es wirklich auf.
»Du musst gehen und mich zurücklassen, das muss dir bewusst sein, Crispin. Wenn wir beide bleiben, sterben wir. Noch schlimmer: Grimm oder die Chimäre entdecken uns«, flüstere ich, schaue ihm direkt ins Gesicht … Wobei mir ein schneller Tod durch die Chimäre lieber wäre als eine Ewigkeit mit Grimm. Crispin presst mürrisch die Lippen aufeinander, seine Miene nimmt einen störrischen Ausdruck an. Er wird nicht nachgeben, das weiß ich, und jenes Wissen macht mich verrückt. Will er hier mit mir sterben? Ja, die Antwort liegt auf der Hand. Mir ist bewusst, dass Diskussionen zwischen uns noch nie leicht gewesen sind. Wir sind beide dickköpfig und stur, nicht gerade unsere besten Eigenschaften.
»Niemals. Vorher sterbe ich mit dir hier draußen, Alice. Verlange alles, nur nicht das. Ich schaffe es nicht mehr und bin am Ende meiner Kräfte, was das angeht. Nichts und niemand wird uns trennen. Genug ist genug. Schau dich und mich an, uns bekommt es nicht, wenn wir dies versuchen. Und ohne dich habe ich keinen Grund mehr, weiter zu machen. Wofür sollte ich noch kämpfen? Gehst du von dieser in die nächste Welt, werde ich dir folgen. Dann soll es so sein. Ich bin all das leid. Diese Sorge, die Ängste und die Schmerzen, die du erdulden musst. Es ist mir gleich, was mit mir geschieht, Alice, aber ich kann es nicht ertragen, dich gepeinigt zu sehen. Sie fügen mir keine körperlichen Schmerzen zu, doch wenn ich weiß, dass du leidest, verletzt es mich an anderer Stelle.« Er zeigt auf sein Herz. Mein Mund ist nur noch eine harte Linie. Ich sage ja, er wird nicht nachgeben.
»Genau, wir werden auch sterben, wenn du nicht zur Vernunft kommst. Wir beide, Crispin. Du kannst es schaffen, ich nicht. Sei doch mal eine Sekunde realistisch. Dein Volk braucht dich. Mein Rücken … Ich glaube, das Vieh hat etwas Wichtiges kaputtgemacht. Meine Muskeln …«
»Das wird heilen, Alice. Du bist eine Albin. Das bringt dich nicht um. Es regeneriert bereits, das habe ich dir längst mitgeteilt. Gib dir noch etwas mehr Zeit. Wir haben es so weit gebracht. Reiß dich zusammen, verflucht. Du bist eine Kriegerin, du bist stark. Ja, mein Volk zählt auf mich, aber was brauche ich? Ich kenne die Antwort und deswegen bin ich hier, nicht bei meinem Volk, also belasse es dabei. Du bist robust, das wissen wir beide. Dein Überleben ist relevant für mich und unsere Zukunft. Für die Zukunft Fegorias. Aufgeben kommt für jemanden wie dich nicht infrage. Enttäusche mich nicht.«
Ich lache auf. »Und so lange willst du hier ausharren? Tage? Wir haben diese Zeit nicht, du Sturkopf. Ach was, ein Esel bist du. Du kannst noch so sehr drauf beharren, diesmal bist du im Unrecht, was du eigentlich weißt, du willst es nur keinesfalls zugeben. Diesen Kampf wirst du nicht gewinnen. Dieses Mal nicht. Lass mich zurück und rette dich. Meinst du nicht, sie werden uns früher oder später auch hier suchen? So viel Zeit kann Elil uns kaum verschaffen.« Crispins Augen scheinen Blitze zu versprühen. Er beißt die Zähne fest aufeinander, mahlt sie geradezu. Mutig strecke ich meine Hand aus und streiche dem Mann, den ich vor Stunden noch für meinen Widersacher gehalten habe, die widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. Alles in mir schreit danach, ihn zu küssen, ihm diesen störrischen Ausdruck vom Gesicht zu wischen. Mein Körper verzerrt sich nach ihm.
»Es ist nicht an der Zeit, uns voneinander zu verabschieden, Alice. Egal, was du sagst, es wird meine Meinung nicht ändern. Dann sterben wir hier, gemeinsam.«
Es fühlt sich vertraut an, ihn zu berühren. Ich möchte nichts lieber, als für immer in seinen Armen liegen. Seine Brust hebt und senkt sich schnell. Er ist verärgert. Sauer auf mich, erbost auf die Welt und vermutlich darauf, dass ich recht habe. Versteht er denn nicht, dass ich nicht aufgeben, sondern ihn retten will, so wie er mich stets rettet? Warum räumt er sich dieses Recht ein und verwehrt es mir? An ihm sehe ich ebenso Spuren des Kampfes: seine zerrissene Hose, die mit rostroten Flecken übersät ist, seine aufgeplatzte Lippe, das blau unterlaufene Auge, welches jedem Preisboxer Ehre machen würde. All die Blessuren und Kratzer, verteilt auf seinem muskulösen Körper, den ein Bildhauer nicht besser hätte erschaffen können, und doch wirkt er stark und unerschütterlich. Leider auch wild entschlossen. Grimm, dieser verfluchte … Was wäre passiert, wäre ich länger dortgeblieben? Wäre aus mir ebenso ein Monster geworden, wie er eines ist? Wäre ich verloren gewesen? Mit mir all das, wofür wir kämpfen wollen? Ich empfinde Scham, wie ich mit den zwei Alben gesprochen habe, die zu meiner Familie gehören. Familie. Ich habe hier Angehörige meines Blutes. Ich bin nicht allein. Was rede ich, jenes bin ich sowieso nicht. Crispin, Cian, Noam. Sie sind ebenso meine Familie wie Alliaria und Elil. Die Erinnerungen schmerzen. Jede, die wiederkehrt, ist ein Dolchstoß in mein Herz.
Ich schaue dem Mann in die Augen, zu dem ich mich so hingezogen fühle und der mich momentan schrecklich wütend macht, weil er nicht hören will. Gerade, als er etwas erwidern will, lässt uns eine Stimme zusammenzucken. »Störe ich?« Eine weibliche Stimme, die vergnügt klingt, ertönt. Ich fahre erschrocken herum. Violette Augen funkeln mich an, gehören zu einer bildschönen grünhaarigen Frau, die sich mit den Ellenbogen auf dem Felsen abstützt. Obwohl die Wellen ungebändigt peitschen, wirkt es bei ihr, als hätte sie nicht ansatzweise Schwierigkeiten, sich dort zu halten. Elegant streckt sie ihre langen Arme von sich, ehe sie ihren Kopf in die Handflächen legt und uns dabei lieblich zublinzelt.
Ihre roten Lippen öffnen sich zu einem Lächeln, entblößen spitze Zähne, die mich erschaudern lassen. Ich rücke von ihr ab. Eine Nixe oder täusche ich mich? Meine Mutter ist wie sie gewesen und doch fröstelt es mich bei ihrem Anblick. Unwillkürlich gleite ich mit meiner Zunge an meinen Zähnen entlang. Gott sei Dank ertaste ich nichts Spitzes. Wo kommt sie plötzlich her? Wer ist sie? Eine Flosse lugt hinter ihr aus dem Wasser. Meine Augen weiten sich überrascht. Ja, ich habe recht, eine Nixe. Dunkel erinnere ich mich an die Schlacht in Escher und an Hände, die Orks ins Wasser gezogen haben. Es schüttelt mich abermals. Nixen sind gefährlich. Das sind Kelalans Worte gewesen, als er mir die Wesen Fegorias erklärt hat. Meine Mutter ist nicht gefährlich gewesen, oder? Wobei, hier in Fegoria ist jeder ein potenzieller Feind.
»Ich gestehe, euch zuzusehen, ist irgendwie erotisch und beschämend zugleich. Ihr wirkt so verzweifelt, wollt euch für den anderen aufopfern und dennoch sind die Blicke zwischen euch glühend. Was geschieht nun? Paart ihr euch? Ich habe nicht so recht gewusst, wann ich in euren Kampf gegen das Ertrinken eingreifen soll. Das Beobachten hat mich amüsiert, wenn ich ehrlich bin. Ich liebe es, dabei zuzusehen, wie einem Wesen die Luft ausgeht, das Herz allmählich aufhört zu schlagen, und sie langsam untergehen, um den Meerestieren Nahrung zu bieten. Ein wunderbares Schauspiel. Es erquickt mich jedes Mal. Eure dünnen schwachen Beinchen, wie sie gezappelt haben … Ihr seid so hilflos im Wasser.« Sie blickt mich aus ovalen Augen an. »Von dir habe ich mehr erwarte, Tochter des Meeres. Immerhin teilen wir uns gleiches Blut. Wie auch immer, ihr habt es ja gemeistert, obwohl ich mir etwas mehr Zeit als nötig gelassen habe.« Lange schlanke Finger mit krallenartigen Nägeln kratzen vor mir kleine Steine vom Felsen und verursachen dabei ein Geräusch, welches mich noch näher an Crispin heran rutschen lässt.