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Alice

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Kal­te Gischt spritzt mir ins Ge­sicht. Müh­sam öff­ne ich mei­ne Augen, die durch das Salz­was­ser ver­klebt sind, und schaue mich blin­zelnd um. Mein ge­sam­ter Körper fühlt sich zer­schla­gen und bleisch­wer an, als hät­te mich ein Bus bei vol­ler Fahrt er­wischt und an­schlie­ßend ge­wen­det, nur um si­cher zu ge­hen, dass ich auch tat­säch­lich platt bin. Müh­sam un­ter­drü­cke ich ein Stöh­nen, als ich mich schließ­lich vor­sich­tig be­we­ge. Es ist ein Wun­der, dass ich über­haupt ein­ge­schla­fen bin, doch die Er­eig­nis­se ha­ben ih­ren Tri­but ge­for­dert und mei­nen Körper in den Ru­he­zu­stand ver­setzt – die Hei­lung braucht Kraft und Zeit. Bei­des Din­ge, die mir ge­ra­de ziem­lich feh­len. Wä­re ich noch ein Mensch, da­ran he­ge ich kei­nen Zwei­fel, wä­re ich dort ge­stor­ben. Ich er­in­ne­re mich an alles, was ge­sche­hen ist, je­des Detail, was da­zu ge­führt hat, wie ich hier auf die­sem rau­en Fel­sen mit­ten im Meer ge­lan­det bin. Die Rück­bli­cke sind nicht grau­sa­mer als je­nes, was mir wi­der­fah­ren ist. Er­in­ne­rung an den El­ben­prin­zen, der sein Le­ben ris­kiert hat, um mich aber­mals in sei­ne Ge­walt zu brin­gen, was sich je­doch am En­de die­ses We­ges gar nicht als Ent­füh­rung, son­dern als Ret­tung ent­puppt hat. So viele Lü­gen, so viel Leid … so viel, was ich erst jetzt ver­ste­he. Er, von dem ich bis vor kur­zem ge­dacht ha­be, dass er mein Feind wä­re und in des­sen Arm ich end­lich wie­der Ru­he fin­de. Oh, wie falsch ich doch vor ein paar Stun­den noch ge­le­gen ha­be, mit tö­rich­ter Blind­heit ge­schla­gen. Scham durch­flu­tet mich, heiß und lo­dernd. Ich er­in­ne­re mich deut­lich an den Hass, ach was, die blan­ke Wut, die ich emp­fun­den ha­be, als ich ihn auf dem Fest Au­ge in Au­ge ge­gen­über­ge­stan­den ha­be. Der zün­geln­de Zorn, den ich ver­spürt ha­be, den Wunsch, ihn auf der Stel­le zu tö­ten. Bei un­se­rem Kampf in den Höh­len hät­te ich es ge­tan, wenn ich es ge­konnt hät­te. Ganz be­stimmt! Und die­ses Wis­sen raubt mir fast den Ver­stand. Gut, dass ich kei­nen Er­folg ge­habt ha­be und das Schi­cksal mir gnä­dig ge­we­sen ist. Wir ge­hö­ren zu­sam­men, un­ser Schi­cksal ist eins, das spü­re ich bis in Mark und Bein. Jetzt, wo es bei­nahe zu spät ist und die Wir­kung der fau­len Zau­be­rei nach­lässt, se­he ich kla­rer. Sein Weg, ist mein Weg. Wie ha­be ich dies ver­ges­sen kön­nen, ihn ver­ges­sen? Wie soll ich da­mit le­ben, was ich ge­tan ha­be? Aus­ge­rech­net ihm, den ich über alles lie­be? Ich er­in­ne­re mich an die Be­stien, die dort oben, weit über uns, in den Fel­sen hau­sen, und mei­nen Rü­cken im un­er­bitt­li­chen Kampf bis auf die Mus­keln auf­ge­ris­sen ha­ben – je­den­falls fühlt es sich im Mo­ment so an. Es ist mir ein Rät­sel, wie ich mich auf den Bei­nen hab hal­ten kön­nen. Oh­ne Cri­spin wä­re ich dort zu­grun­de ge­gan­gen. Nur ihm ist es zu ver­dan­ken, dass ich noch at­me. Er, die­ser stu­re Prinz, der bis zum letz­ten Atem­zug für uns kämp­fen wür­de.

Das Salz­was­ser brennt wie Feu­er auf mei­ner ver­letz­ten Haut, doch ich hei­ße den Schmerz will­kom­men, er lenkt mich von mei­ner in­ne­ren Qual ab. Wa­rum ist es nur so­weit kom­men? Ha­ben wir nicht et­was Glück ver­dient? Seit ich in die­sem Land le­be, ha­be ich mehr Ge­walt er­fah­ren, als ein Mensch er­fah­ren soll­te. Aber … ich bin kein Mensch. Es lie­gen noch Jahr­hun­der­te vor mir und ich be­te zu den Göt­tern, dass die­se den Schmerz und die Scham fort­spü­len wie die Wel­len mein Blut von die­sem Fel­sen un­ter mir. Ich drü­cke mich fes­ter an Cri­spins war­men Körper, su­che Trost. Mich in Si­cher­heit zu wie­gen, da er hier bei mir ist, hilft mir un­ge­mein. Cri­spin ist ge­kom­men – für mich. Mein Seelen­ge­fähr­te, mein Schi­cksal. Sei­ne Ar­me schlie­ßen sich en­ger, be­sitz­ergrei­fen­der um mei­nen Rumpf. Mein Herz pocht wild in mei­ner Brust. Wie kann er mich nach all dem noch lie­ben? Er ist der Stär­ke­re von uns bei­den, schon immer ge­we­sen, und ich ler­ne lang­sam, die­se Welt aus sei­nen Augen zu se­hen. Mei­ne al­te Welt ver­blasst stünd­lich mehr, denn mein Le­ben hier ist so völ­lig fern von dem, was ich ken­ne. Hart und gna­den­los, zu­dem vol­ler Wun­der. Dort drau­ßen auf dem Was­ser hät­te ich bei­nahe auf­ge­ge­ben. Ja, ich ha­be ge­nug ge­habt, das ge­be ich zu. Die­ses Wis­sen macht mich nicht stolz, aber es ist ein Mo­ment der Schwäche ge­we­sen. Ich bin be­reit ge­we­sen, zu ge­hen, all das hin­ter mir zu las­sen, da­mit er sich hät­te ret­ten kön­nen. Nein, er ist es, der uns am Le­ben hält, der uns nicht auf­gibt und da­für bin ich ihm un­end­lich dank­bar. Mein Weg ist noch nicht zu En­de. As­ta hat das, was wir ha­ben und je­nes, was uns ver­bin­det, zers­tö­ren wol­len, doch Cri­spin ist durch­aus mäch­ti­ger oder ein­fach nur di­ckköp­fi­ger – es trifft letzt­lich bei­des auf mei­nen Ge­fähr­ten zu … Die­sen ar­ro­gan­ten, selbst­herr­li­chen und doch lie­be­vol­len, für­sor­gli­chen El­ben­prin­zen, der vor Wi­der­sprü­chen nur so trotzt. Er hat sein Ver­spre­chen ge­hal­ten, ist für mich bis ans En­de der Welt ge­gan­gen, hat sich un­se­ren Wi­der­sach­ern allei­ne ge­stellt, nur um mich zurück­zu­for­dern. Ich wer­de schüt­zen, was mein ist, und du bist die mei­ne, Ali­ce. Das sind einst sei­ne Wor­te an mich ge­we­sen. Nein, der Prinz der El­ben ist nicht mein Feind. Es ist, als hat das Was­ser ei­ne hei­len­de Wir­kung ge­habt und mein Blut­ver­lust da­zu beige­tra­gen, den Trank zu ver­nich­ten. Alles wird plötz­lich viel kla­rer, er­gibt ei­nen Sinn. Er­in­ne­run­gen durch­flu­ten mich. Er ist so viel mehr, das spü­re ich tief in mir. Die Lie­be mei­nes Lebens. Wir sind ver­bun­den, wir sind eins. Seit Ta­gen füh­le ich mich das er­ste Mal als ein Gan­zes. Als wä­re ein wich­ti­ges Puz­zle­teil, wel­ches ge­fehlt hat, nun wie­der an sei­nen Platz ge­rückt. Zu­sam­men er­ge­ben wir ein Bild­nis. Ich ver­traue ihm. Seit der Ring fort ist, se­he ich kla­rer, bin gleich­zei­tig wü­tend auf mich selbst, dass sie mich so ha­ben täu­schen kön­nen. Aber ich weiß auch, dass ich kei­ne Chan­ce ge­gen As­ta und Cas­tiell ge­habt ha­be. Gott weiß, wie ich mich ge­wehrt, den­noch kläg­lich ver­sagt ha­be, und da­mit nicht nur mich, son­dern eben­falls Cri­spin in Ge­fahr ge­bracht ha­be. Das wird mir kein zwei­tes Mal pas­sie­ren. Ab jetzt bin ich wachs­amer.

Cri­spin zieht mich en­ger an sich und ver­sucht, mich vor den Trop­fen des to­sen­den Was­sers mit sei­nem Körper zu schüt­zen, doch dies ist un­mög­lich, egal wie sehr er sich be­müht. Das Meer wü­tet um uns he­rum und er wei­gert sich, oh­ne mich an Land zu schwim­men. Er ist so stur wie ein al­ter Och­se. Es macht mich wü­tend und glü­cklich zu­gleich. Ich möch­te nicht von ihm ge­trennt sein, will je­doch, dass er sich ret­tet. Nur er allein hät­te ei­ne rea­le Chan­ce zu über­le­ben. Aber nein, nun sit­zen wir bei­de hier fest, denn mei­ne Ver­let­zung hin­dert mich da­ran, durch das auf­ge­wühl­te Meer an Land zu kom­men. Er wird kei­nes­wegs pa­cken, mich bis da­hin mit­zu­neh­men, völ­lig gleich, was er be­haup­tet. Ich er­zit­te­re. Sein Körper schafft es nicht, mich zu wär­men, der kal­te Wind und das Meer sind ei­ne un­er­bitt­li­che Kom­bi­na­tion, die ge­gen ihn ar­bei­tet. Vor al­lem da ihm nicht mal ein Hemd ge­blie­ben ist, weil ich es tra­ge. Nicht, dass es et­was nützt, im Ge­gen­teil, es ist so­gar trie­fend nass.

Gna­den­los sorgt die raue See da­für, dass wir nicht wirk­lich trock­nen. Das Salz fühlt sich un­an­ge­nehm auf mei­ner Haut an. Der Kampf mit der Chi­mä­re, oben im Schloss, hat uns bis an un­se­re Gren­zen ge­bracht. Auch ihm mer­ke ich die Stra­pa­zen deut­lich an. Er ist nicht we­ni­ger zer­schun­den als ich. Sein Bein, bis auf die Mus­keln auf­ge­trennt, heilt eben­so dürf­tig wie mein Rü­cken, doch er be­schwert sich un­ter kei­nen Um­stän­den. Nie. Seit Stun­den ver­har­ren wir hier. Je­den­falls ge­he ich von Stun­den aus, ei­ne Uhr gibt es nicht. Zeit hat hier ei­ne an­de­re Be­deu­tung. Die Son­ne steht hoch am Himmel, die Nacht ist längst vor­bei, doch die Ge­fahr nicht, sie ist greif­bar. Ei­ne Uhr … In ganz Fe­go­ria kennt man sie nicht, aber ich er­in­ne­re mich wie­der an ei­ne Welt, in der es Uhren gibt, de­ren Zei­ger uns un­er­bitt­lich ja­gen, un­se­re Ta­ge pla­nen und für ei­nen geord­ne­ten Ab­lauf sor­gen. Das fehlt mir. Doch hier, in die­ser frem­den Welt, läuft es an­ders. Ich er­in­ne­re mich nicht an alles aus die­ser Welt, doch es wird immer mehr. Cri­spin sagt, es lä­ge an ei­nem Trank, den sie mir ver­ab­reicht ha­ben. Die Wir­kung wird gänz­lich ver­schwin­den, so­bald mein Körper sich re­ge­ne­riert hat. Bald – ei­ni­ge Stun­den, viel­leicht Ta­ge, dann wer­de ich wie­der alles wis­sen. Sein Wort in Got­tes Ohr.

Wenn ich die letz­ten Stun­de Re­vue pas­sie­ren las­se, ist es ein Wun­der, dass wir bei­de über­haupt noch le­ben. Da­raus kann ich nur schlie­ßen, dass er recht be­hält und die Göt­ter Plä­ne mit uns ha­ben. Ob sie so gut sind, wa­ge ich nicht, zu ur­tei­len. Aber wie heißt es so schön, die Hoff­nung stirbt zu­letzt, oder? Mei­ne Ge­dan­ken schwei­fen um­her. Tief zie­he ich die sal­zi­ge Luft in mei­ne Lun­gen. Mein Le­ben hat sich so sehr ver­än­dert. Es ist wie ein fer­ner, un­wirk­li­cher Traum und manch­mal ha­be ich Angst, dass ich ein­fach er­wa­che. Ich lie­ge in den Ar­men ei­nes El­ben, ei­nem ech­ten We­sen mit spit­zen Oh­ren und ei­nem un­ster­bli­chen Le­ben. Ich bin ei­ne Al­bin. Herr Gott, da­zu der Feind der El­ben und doch lie­ben wir uns. Ich bin kein Mensch mehr. Ver­fluch­te Schei­ße. Ich bin ei­ne Al­bin, wie­der­ho­le ich für mich selbst noch­mal. Mei­ne Oh­ren sind eben­falls spitz. Spit­ze Oh­ren!!! Das ist … nicht ver­rück­ter als alles an­de­re, was ich hier er­le­be. Nie wie­der wer­de ich in ei­nem Café sit­zen, ei­nen Muf­fin mit Scho­kog­la­sur be­stel­len oder ei­nen Ki­no­film se­hen. Da­für das Schwert schwin­gen und hof­fen, dass sie ei­nes Tages ei­ne Du­sche er­fin­den. Oh, noch bes­ser ei­ne Toi­let­te. Was für ei­ne Traum­vor­stel­lung. Cri­spins Na­se reibt über mei­nen Na­cken, lenkt mich ab. Ich spü­re sei­ne war­men Lip­pen, die ei­nen leich­ten Kuss auf mei­ne küh­le Haut hau­chen. Tausend Schmet­ter­lin­ge fan­gen in mei­nem Bauch an, zu tan­zen. Das wil­de hei­ße Feu­er in mir, ist in sei­ner Ge­gen­wart ei­ne war­me fried­li­che Flam­me, wie ein Dra­che, der sich zur Ru­he ge­legt hat. Es fühlt sich rich­tig an, als soll­te ich ge­nau hier sein, bei ihm. Der Ring an mei­ner Hand, den As­ta mir ge­ge­ben hat, weil er an­ge­blich den Zau­ber der El­ben un­ter­bin­det, ist fort. Mit ihm die Lü­gen. Er ist in den Höh­len ge­blie­ben oder ins Meer ge­spült wor­den, ich weiß es nicht. Tat­säch­lich hat die­ses klei­ne Me­tall­teil mei­ne Er­in­ne­run­gen zu­sam­men mit dem ver­fluch­ten Trank blo­ckiert. Sie ha­ben mich und alles, was mich aus­macht, zers­tö­ren wol­len. Das macht mir schre­ckli­che Angst, denn sie hät­ten si­cher­lich Er­folg ge­habt. Sie ha­ben mich rein­ge­legt. Mit Ge­walt, wie ich jetzt weiß, aber den­noch ist mir be­wusst ge­wor­den, dass auch ei­ne dunk­le Sei­te in mir wohnt. Ei­ne, wä­re mein Weg ein an­de­rer ge­we­sen, mein Ich hät­te sein kön­nen. Mir wird schlecht bei dem Ge­dan­ken, was Grimm heu­te Nacht mit mir vor­ge­habt hat. Hart schlucke ich und ver­bie­te mir, die­sen Ge­dan­ken weiter­zu­füh­ren. Cri­spin ist recht­zei­tig bei mir ge­we­sen, das ist alles, was zählt. Er hat es ver­hin­dert. Sei­ne Küs­se wer­den all das fort­spü­len, was Grimm hin­ter­las­sen hat. Die Käl­te, die Ver­zweif­lung … Ich weiß aus ei­ge­ner Er­fah­rung, wie hart und bru­tal er und sein Vater sein kön­nen. Zahl­rei­che blaue Fle­cke auf mei­nem Körper spre­chen Bän­de. Ich er­in­ne­re mich wie­der, wie ich ge­gen sie ge­kämpft ha­be, doch ich bin zu schwach ge­we­sen. Ein­zig mit ei­nem Stab aus Holz ha­be ich mich ih­nen ge­gen­über­ge­stellt. Glü­hend und lo­dernd bro­delt der Hass in mir, wenn ich an As­ta den­ke. Hass ist ein star­kes Ge­fühl. Mäch­tig. Er ver­dient schlim­me­res als den Tod.

Mein Blick wan­dert hin­auf. Ich blinz­le ei­ni­ge Ma­le. Nach dem Sprung von den Fel­sen, auf der Flucht vor der Chi­mä­re ins auf­ge­wühl­te Meer, har­ren wir al­so weiter aus, bis Cri­spin Ver­nunft an­nimmt oder ein Wun­der ge­schieht. Bei­des soll mir recht sein, ob­wohl ich das Wun­der be­vor­zu­ge. Wir ha­ben so viel ge­schafft, es wä­re un­fair, wenn es jetzt en­det. Nicht so. Aber uns läuft die Zeit da­von. »Cri­spin?« Mei­ne Stim­me klingt hei­ser. Ich un­ter­drü­cke ein wei­te­res schmerz­vol­les Stöh­nen.

»Ja, klei­ner Schmet­ter­ling?« So­fort rich­tet er sich auf, win­kelt sei­ne Ar­me an, wirkt sehr be­sorgt, wäh­rend ich mich ihm zu­dre­he. Er ist so stark. Ich has­se es, Angst in sei­ner Stim­me zu er­ken­nen. Durch mich hat er die­ses Ge­fühl erst ken­nen­ge­lernt. Je­mand wie er hat kei­ne Angst. Nicht so, wie er sie aus­ste­hen hat müs­sen. Er hat nie ei­ne Ge­fähr­tin ge­wollt, weil es sei­ne Schwach­stel­le wä­re, und selbst da­mit be­hält er recht. Hier bin ich und all das zeigt, dass sei­ne Be­fürch­tung wahr ge­wor­den ist. Ich schwäche ihn, und ge­nau das wer­den sich sei­ne Geg­ner zu­nut­ze ma­chen. Ei­ne feuch­te Sträh­ne fällt ihm in sein mar­kan­tes Ge­sicht, auf des­sen Wan­gen sich ein dunk­ler Bart­schat­ten ge­bil­det hat und von Krat­zern über­sät ist. Es ver­leiht ihm et­was Ge­fähr­li­ches und Har­tes, was mein Herz noch ein we­nig mehr klop­fen lässt. Trotz mei­ner Schmer­zen kann ich nicht um­her, fest­zu­stel­len, wie at­trak­tiv er ist. Er hat sei­ne Tu­ni­ka, so gut es geht, um mei­nen Rumpf ge­bun­den, um die Blu­tung zu stop­pen. Wenn ich ihm Glau­ben schen­ken darf, hat die Hei­lung be­reits be­gon­nen. Es fühlt sich nicht so an, aber mein Ver­trauen hat er. Al­be und El­ben hei­len schnel­ler, dem Himmel sei Dank. Ein dün­nes, ro­tes Rinn­sal treibt trotz­dem noch vom Fel­sen ins Meer. Bei mei­nem Glück wim­melt es gleich vor Hai­en. Mör­de­ri­sche Fe­go­ria-Mons­ter­haie. Ich bin si­cher, so et­was gibt es hier. Die Kral­len der Chi­mä­re ha­ben mich schwer er­wischt, doch immer­hin ha­ben wir eben­falls ei­nes die­ser Bies­ter in die ewi­gen Jagd­grün­de schi­cken kön­nen. Ich bin zwar ein ech­ter Tier­freund, doch bei die­sem Vieh hört es wirk­lich auf.

»Du musst ge­hen und mich zurück­las­sen, das muss dir be­wusst sein, Cri­spin. Wenn wir bei­de blei­ben, ster­ben wir. Noch schlim­mer: Grimm oder die Chi­mä­re ent­de­cken uns«, flüs­te­re ich, schaue ihm direkt ins Ge­sicht … Wo­bei mir ein schnel­ler Tod durch die Chi­mä­re lie­ber wä­re als ei­ne Ewig­keit mit Grimm. Cri­spin presst mür­risch die Lip­pen auf­ein­an­der, sei­ne Mie­ne nimmt ei­nen stör­ri­schen Aus­druck an. Er wird nicht nach­ge­ben, das weiß ich, und je­nes Wis­sen macht mich ver­rückt. Will er hier mit mir ster­ben? Ja, die Ant­wort liegt auf der Hand. Mir ist be­wusst, dass Dis­kuss­io­nen zwi­schen uns noch nie leicht ge­we­sen sind. Wir sind bei­de di­ckköp­fig und stur, nicht ge­ra­de un­se­re be­sten Eigen­schaf­ten.

»Nie­mals. Vor­her ster­be ich mit dir hier drau­ßen, Ali­ce. Ver­lan­ge alles, nur nicht das. Ich schaf­fe es nicht mehr und bin am En­de mei­ner Kräf­te, was das an­geht. Nichts und nie­mand wird uns tren­nen. Ge­nug ist ge­nug. Schau dich und mich an, uns be­kommt es nicht, wenn wir dies ver­su­chen. Und oh­ne dich ha­be ich kei­nen Grund mehr, weiter zu ma­chen. Wo­für soll­te ich noch kämp­fen? Gehst du von die­ser in die näch­ste Welt, wer­de ich dir fol­gen. Dann soll es so sein. Ich bin all das leid. Die­se Sor­ge, die Äng­ste und die Schmer­zen, die du er­dul­den musst. Es ist mir gleich, was mit mir ge­schieht, Ali­ce, aber ich kann es nicht er­tra­gen, dich ge­pei­nigt zu se­hen. Sie fü­gen mir kei­ne körper­li­chen Schmer­zen zu, doch wenn ich weiß, dass du lei­dest, ver­letzt es mich an an­de­rer Stel­le.« Er zeigt auf sein Herz. Mein Mund ist nur noch ei­ne har­te Li­nie. Ich sa­ge ja, er wird nicht nach­ge­ben.

»Ge­nau, wir wer­den auch ster­ben, wenn du nicht zur Ver­nunft kommst. Wir bei­de, Cri­spin. Du kannst es schaf­fen, ich nicht. Sei doch mal ei­ne Se­kun­de rea­lis­tisch. Dein Volk braucht dich. Mein Rü­cken … Ich glau­be, das Vieh hat et­was Wich­ti­ges ka­putt­ge­macht. Mei­ne Mus­keln …«

»Das wird hei­len, Ali­ce. Du bist ei­ne Al­bin. Das bringt dich nicht um. Es re­ge­ne­riert be­reits, das ha­be ich dir längst mit­ge­teilt. Gib dir noch et­was mehr Zeit. Wir ha­ben es so weit ge­bracht. Reiß dich zu­sam­men, ver­flucht. Du bist ei­ne Krie­ge­rin, du bist stark. Ja, mein Volk zählt auf mich, aber was brau­che ich? Ich ken­ne die Ant­wort und des­we­gen bin ich hier, nicht bei mei­nem Volk, al­so be­las­se es da­bei. Du bist ro­bust, das wis­sen wir bei­de. Dein Über­le­ben ist re­le­vant für mich und un­se­re Zu­kunft. Für die Zu­kunft Fe­go­ri­as. Auf­ge­ben kommt für je­man­den wie dich nicht in­fra­ge. Ent­täu­sche mich nicht.«

Ich la­che auf. »Und so lan­ge willst du hier aus­har­ren? Ta­ge? Wir ha­ben die­se Zeit nicht, du Stur­kopf. Ach was, ein Esel bist du. Du kannst noch so sehr drauf be­har­ren, dies­mal bist du im Un­recht, was du eigent­lich weißt, du willst es nur kei­nes­falls zu­ge­ben. Die­sen Kampf wirst du nicht ge­win­nen. Die­ses Mal nicht. Lass mich zurück und ret­te dich. Meinst du nicht, sie wer­den uns frü­her oder spä­ter auch hier su­chen? So viel Zeit kann Elil uns kaum ver­schaf­fen.« Cri­spins Augen schei­nen Blit­ze zu ver­sprü­hen. Er beißt die Zäh­ne fest auf­ein­an­der, mahlt sie ge­ra­de­zu. Mu­tig stre­cke ich mei­ne Hand aus und strei­che dem Mann, den ich vor Stun­den noch für mei­nen Wi­der­sa­cher ge­hal­ten ha­be, die wi­der­spens­ti­ge Sträh­ne aus dem Ge­sicht. Alles in mir schreit da­nach, ihn zu küs­sen, ihm die­sen stör­ri­schen Aus­druck vom Ge­sicht zu wi­schen. Mein Körper ver­zerrt sich nach ihm.

»Es ist nicht an der Zeit, uns vo­nei­nan­der zu ver­ab­schie­den, Ali­ce. Egal, was du sagst, es wird mei­ne Mei­nung nicht än­dern. Dann ster­ben wir hier, ge­mein­sam.«

Es fühlt sich ver­traut an, ihn zu be­rüh­ren. Ich möch­te nichts lie­ber, als für immer in sei­nen Ar­men lie­gen. Sei­ne Brust hebt und senkt sich schnell. Er ist ver­är­gert. Sau­er auf mich, er­bost auf die Welt und ver­mut­lich da­rauf, dass ich recht ha­be. Ver­steht er denn nicht, dass ich nicht auf­ge­ben, son­dern ihn ret­ten will, so wie er mich stets ret­tet? Wa­rum räumt er sich die­ses Recht ein und ver­wehrt es mir? An ihm se­he ich eben­so Spu­ren des Kamp­fes: sei­ne zer­ris­se­ne Ho­se, die mit rost­ro­ten Fle­cken über­sät ist, sei­ne auf­ge­platz­te Lip­pe, das blau un­ter­lau­fe­ne Au­ge, wel­ches je­dem Preis­boxer Eh­re ma­chen wür­de. All die Bles­su­ren und Krat­zer, ver­teilt auf sei­nem mus­ku­lö­sen Körper, den ein Bild­hau­er nicht bes­ser hät­te er­schaf­fen kön­nen, und doch wirkt er stark und un­er­schüt­ter­lich. Lei­der auch wild ent­schlos­sen. Grimm, die­ser ver­fluch­te … Was wä­re pas­siert, wä­re ich län­ger dort­ge­blie­ben? Wä­re aus mir eben­so ein Mons­ter ge­wor­den, wie er ei­nes ist? Wä­re ich ver­lo­ren ge­we­sen? Mit mir all das, wo­für wir kämp­fen wol­len? Ich emp­fin­de Scham, wie ich mit den zwei Al­ben ge­spro­chen ha­be, die zu mei­ner Fa­mi­lie ge­hö­ren. Fa­mi­lie. Ich ha­be hier An­ge­hö­ri­ge mei­nes Blu­tes. Ich bin nicht allein. Was re­de ich, je­nes bin ich so­wie­so nicht. Cri­spin, Ci­an, No­am. Sie sind eben­so mei­ne Fa­mi­lie wie All­ia­ria und Elil. Die Er­in­ne­run­gen schmer­zen. Je­de, die wie­der­kehrt, ist ein Dolch­stoß in mein Herz.

Ich schaue dem Mann in die Augen, zu dem ich mich so hin­ge­zo­gen füh­le und der mich mo­men­tan schre­cklich wü­tend macht, weil er nicht hö­ren will. Ge­ra­de, als er et­was er­wi­dern will, lässt uns ei­ne Stim­me zu­sam­men­zu­cken. »Stö­re ich?« Ei­ne weib­li­che Stim­me, die verg­nügt klingt, er­tönt. Ich fah­re er­schro­cken he­rum. Vio­let­te Augen fun­keln mich an, ge­hö­ren zu ei­ner bild­schö­nen grün­haa­ri­gen Frau, die sich mit den El­len­bogen auf dem Fel­sen ab­stützt. Ob­wohl die Wel­len un­ge­bän­digt peit­schen, wirkt es bei ihr, als hät­te sie nicht an­satz­wei­se Schwie­rig­kei­ten, sich dort zu hal­ten. Ele­gant streckt sie ih­re lan­gen Ar­me von sich, ehe sie ih­ren Kopf in die Hand­flä­chen legt und uns da­bei lie­blich zu­blin­zelt.

Ih­re ro­ten Lip­pen öff­nen sich zu ei­nem Lä­cheln, ent­blö­ßen spit­ze Zäh­ne, die mich er­schau­dern las­sen. Ich rücke von ihr ab. Ei­ne Ni­xe oder täu­sche ich mich? Mei­ne Mutter ist wie sie ge­we­sen und doch frös­telt es mich bei ih­rem An­blick. Un­will­kür­lich glei­te ich mit mei­ner Zun­ge an mei­nen Zäh­nen ent­lang. Gott sei Dank er­tas­te ich nichts Spit­zes. Wo kommt sie plötz­lich her? Wer ist sie? Ei­ne Flos­se lugt hin­ter ihr aus dem Was­ser. Mei­ne Augen wei­ten sich über­rascht. Ja, ich ha­be recht, ei­ne Ni­xe. Dun­kel er­in­ne­re ich mich an die Schlacht in Escher und an Hän­de, die Orks ins Was­ser ge­zo­gen ha­ben. Es schüt­telt mich aber­mals. Ni­xen sind ge­fähr­lich. Das sind Ke­la­lans Wor­te ge­we­sen, als er mir die We­sen Fe­go­ri­as er­klärt hat. Mei­ne Mutter ist nicht ge­fähr­lich ge­we­sen, oder? Wo­bei, hier in Fe­go­ria ist je­der ein po­ten­ziel­ler Feind.

»Ich ge­ste­he, euch zu­zu­se­hen, ist ir­gend­wie er­otisch und be­schä­mend zu­gleich. Ihr wirkt so ver­zwei­felt, wollt euch für den an­de­ren auf­opfern und den­noch sind die Bli­cke zwi­schen euch glü­hend. Was ge­schieht nun? Paart ihr euch? Ich ha­be nicht so recht ge­wusst, wann ich in eu­ren Kampf ge­gen das Er­trin­ken ein­grei­fen soll. Das Be­ob­ach­ten hat mich amü­siert, wenn ich ehr­lich bin. Ich lie­be es, da­bei zu­zu­se­hen, wie ei­nem We­sen die Luft aus­geht, das Herz all­mäh­lich auf­hört zu schla­gen, und sie lang­sam un­ter­ge­hen, um den Meeres­tie­ren Nah­rung zu bie­ten. Ein wun­der­ba­res Schau­spiel. Es er­quickt mich je­des Mal. Eu­re dün­nen schwa­chen Bein­chen, wie sie ge­zap­pelt ha­ben … Ihr seid so hil­flos im Was­ser.« Sie blickt mich aus ova­len Augen an. »Von dir ha­be ich mehr er­war­te, Tochter des Meeres. Immer­hin tei­len wir uns glei­ches Blut. Wie auch immer, ihr habt es ja ge­meis­tert, ob­wohl ich mir et­was mehr Zeit als nö­tig ge­las­sen ha­be.« Lan­ge schlan­ke Fin­ger mit kral­le­nar­ti­gen Nä­geln krat­zen vor mir klei­ne Stei­ne vom Fel­sen und ver­ur­sa­chen da­bei ein Ge­räusch, wel­ches mich noch nä­her an Cri­spin he­ran rut­schen lässt.

Fegoria - Dunkle Stunden

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