Читать книгу Wenn das nicht geschehen wäre - Anny von Panhuys - Страница 6
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ОглавлениеAn der Promenade lag das Haus, das vielleicht eine grosse Villa, vielleicht aber auch ein kleines Schloss genannt werden konnte. Es stand in einem weiten Garten, und im Spätherbst und Winter, wenn man vollen Durchblick auf das Gebäude hatte, schien es, als wäre der umfangreiche Platz davor eigens nur dazu angelegt worden, damit sich recht viele Menschen darauf versammeln sollten, die dem vornehmsten Haus der Stadt Bewunderung schuldig wären.
Über dem ersten Stockwerk las man das Wort: ‚Princesita’. Nur wenige wussten, wenn sie die durch Wind und Wetter verwischten Buchstaben, die einstmals golden glänzten, entziffert hatten, damit etwas anzufangen. Und es lag doch der Klang des gleichen deutschen Wortes darin und drängte sich hervor. ‚Princesita’ war spanisch und hiess auf deutsch: ‚Prinzesschen’.
Eigentlich passte der Name nicht recht für das dunkelgraue Haus, das allerdings dereinst schneeweiss gewesen war. Der Himmel mochte wissen, wie lange schon kein Maurergerüst hier mehr aufgebaut worden war, um fleissigen Arbeitern als Stützpunkt zu dienen beim Säubern und Anstreichen. Aber schön und vornehm war Villa Princesita trotzdem. Die Städter nannten den Bau ‚Schloss’, und weil sie mit dem spanischen Wort so schwer fertig wurden, betitelten sie ihn kurz ‚Unkenschloss’. Das sprach sich glatt und einfach aus, und es klang auch ein wenig geheimnisvoll, so dem Geschmack der meisten entsprechend. Es hörte sich so angenehm gruselig an, und dafür haben viele Menschen nun einmal eine ganze Menge übrig.
Im Park, der sich hinter dem Haus bis an die Waldberge heranschob, gab es einen Teich, in dem der Wassergott aus Sandstein, mit dem Dreizack bewaffnet, im Schmuck seines mächtigen Haares und Bartes, sich mit seinen nackten, sandsteinernen Wasserweiblein allerlei von der Zeit erzählte, als sie hierhergebracht wurden. Beinahe anderthalb hundert Jahre waren seitdem vergangen. Wie waren sie damals bestaunt worden von den Menschen, die in der Villa Princesita ein und ausgingen.
Oberst a. D. Johann von Hahnendorf hatte das Haus erbaut für seine junge Frau, eine Prinzessin Juanita Torres y de Oviedo, die er zufällig auf einer Reise kennengelernt hatte, und die ihn dann nach wenigen Ehejahren plötzlich verliess und nicht mehr aufzufinden gewesen war. Niemand war ihr je wieder begegnet, niemand wusste, wo sie geblieben war, und das Gerücht ging damals um, sie wäre mit einem anderen Mann in die weite Welt gegangen. Mit einem Manne ihrer Heimat, der sie besser verstand als der rauhbeinige, derbe deutsche Soldat, der viel älter als sie gewesen. Andere hatten sogar geäussert, Johann von Hahnendorf hätte seine schöne Frau aus Eifersucht umgebracht.
Von alledem redete Herr Wassergott mit seinen nackten Nixen, und sie lächelten dann zusammen seltsam wissend. Wenn sich der Mond hoch oben über den Waldbergen zeigte, dort, wo die vielen Wege in die Oberheide führen, konnte man das Lächeln deutlich erkennen, und die Unken konzertierten dazu in einförmiger Unermüdlichkeit.
Wenn um diese Zeit noch Spaziergänger an der Villa vorbeigingen, lächelten sie wohl auch, und es sagte einer zum anderen: „Hörst du das Gequake und Geunke? Unheimlich ist das, ich möchte hier nicht wohnen.“
Die aber hier wohnten, hörten es wahrscheinlich kaum noch.
Von jenem Oberst a. D. Johann von Hahnendorf, der das Haus seinem Neffen vermacht hatte, stammte der jetzige Besitzer ab, und er musste ums liebe tägliche Brot arbeiten. Das Haus war längst eingeteilt in Mietswohnungen. Vier Parteien lebten darin: Der Hausbesitzer und Buchhalter Erich von Hahnendorf, die Schriftstellerin Walborg, Studienrat Treller und der frühere Zirkusdirektor Michael. Er hatte sich ins Privatleben zurückgezogen, und sein Sohn führte das Manegenzepter über Artisten und Tiere und all das Drum und Dran eines grossen Wanderzirkus.
Das Laub an den Bäumen leuchtete hier und dort noch sommerlich grün durch die gelben und bräunlichen Herbstblätter, die ein Malerpinsel rot und golden betupft zu haben schien. Hinter dem kleinen Park stieg der Wald bergan, und wenn man zu den rückseitigen Fenstern der Villa hinausschaute, war der Anblick des Waldes, der sich terrassenförmig aufbaute, immer wieder schön. Das fanden alle Mieter, die im Unkenschloss ihr Heim aufgeschlagen hatten. Wer einmal darin wohnte, würde es kaum leichten Herzens verlassen. Die Räume waren hoch und gross, es war Platz darin für viele Möbel, und man wohnte hier still wie auf einer abgeschiedenen Insel.
Die Sonne sah nicht mehr so liebenswürdig sommerwarm aus, sie blinzelte nicht mehr so lebhaft mit ihren Strahlenaugen. Kühler, zurückhaltender war ihr volles, leuchtendes Antlitz, aber dennoch reizvoll wie nur jemals. Frau Sonne kann nie reizlos sein. —
Frau Kulkow fegte mit einem derben Besen die schmale Steintreppe ab, die seitlich ins Haus führte und zehn Stufen zählte. Die Parterreräume lagen ziemlich hoch. An der Vorderseite befand sich eine Freitreppe, aber sie wurde niemals benutzt. Sie verharrte in bequemer Untätigkeit, und die zwei Fabeltiere, die rechts und links von ihr auf niedrigen Sockeln lagerten, schienen aufzupassen, dass sich kein unberusener Fuss hier heranwagte. Sphinxe waren es, mit grausamen, hart geschnittenen Frauenköpfen und kräftig herausmodellierten Löwenleibern.
Witwe Emma Kulkow bewohnte zwei Zimmer und Küche im Kellergeschoss, das aber nicht sehr in die Tiefe ging. Vom rückseitigen Eingang führten einige Stufen nach unten. Die Fenster versteckten sich nur etwa zu einem Drittel unter der Erde. Frau Kulkow hatte freie Wohnung und kümmerte sich dafür um alle Hausarbeiten.
Zum Haus gehörten noch Harras, der Schäferhund mit dem goldbraunen und schwarzen Fell und der gelben Halskrause, der Hahnendorfs getreuer Vasall war, dann der Dackel Waldi, der bei Fräulein Walborg daheim war, die Katze Minka, die Studienrats gehörte, und der Papagei des Zirkusdirektors. Frau Kulkow besass nur eine Schildkröte, und die rührte sich tagelang nicht vom Fleck. Frau Kulkow hing an dem Tier, das ihr seliger Mann ihr einmal mitgebracht hatte, aber die Ruhe des kleinen, langsamen Freundes brachte ihre quecksilbrige Beweglichkeit — sie war fünfzig Jahre — oft in Harnisch, und dann schimpfte sie: „Biest, komm doch mal endlich aus die Ecke raus — oder soll ick dir vielleicht ’nen Motor insetzen lassen?“ Die Schildkröte hiess Pluto. Wie ihr Mann auf den Namen verfallen war, mit dem man nur sehr grosse Hunde zu benennen pflegte, wusste sie nicht, und die Schildkröte wusste es auch nicht, aber sie war nun mal so getauft, und es störte sie nicht.
Es gab oft erstaunte Gesichter, wenn Frau Kulkow Besucher ermahnen musste, vorsichtig aufzutreten, weil Pluto gerade dort schlief, wohin sie den Fuss setzen wollten.
Das waren die Bewohner der Villa Princesita oder des Unkenschlosses.
Frau Kulkow fegte also die seitlich gelegene zehnstufige Treppe und säuberte sie von den rötlichen Blättern des wilden Weins, der über das Dach und die Säulen des Treppenvorbaus rankte.
Sie sang dabei:
„Im Unkenschloss, da geht es um,
Da schleicht es über die Treppe,
Und in der bösen Geisterstund’,
Da rauscht eine seidene Schleppe.
Die Spanierin kommt in ihr Haus,
Um ein Uhr muss sie wieder hinaus:
In den Garten, in den Wald, in die weite Welt,
Irgendwo in ein Grab unterm Himmelszelt!“
Es war etwas vor drei Viertel acht, und Erich von Hahnendorf trat eben mit seiner Tochter Brigitte aus der Haustür. Er sagte ein wenig ärgerlich:
„Ich habe Sie doch schon zum soundsovielten Male gebeten, den Blödsinn nicht mehr zu singen, Frau Kulkow. Jedesmal versprechen Sie es mir, und ein paar Tage darauf höre ich den Quatsch von neuem.“
Frau Kulkow konnte ganz grossartig treuherzig dreinschauen mit ihren schwarzbraunen Kulleraugen.
Sie antwortete: „Ick nehme mir ja ooch immer vor, det Lied nich mehr zu singen, aber et is so jeheimnisvoll un traurig. So jefühlvoll. Un sowat jefällt mir. Et singt sich immer wie von janz alleene.“
Er zuckte die Achseln: „Wenn ich bloss herausbekäme, wer den Unsinn verbrochen hat, dem Kerl haute ich eine runter, nach der ihm solch Dichten ein für allemal verginge.“
Brigitte machte ein scheinheiliges Gesicht.
„Nach dem Versprechen wird sich der Dichter sicher nicht bei dir melden, Vati.“
Die Frau griente. Herrn von Hahnendorfs zweite Tochter Bianka hatte ihr das Lied beigebracht, und Emma Kulkow vermutete auch in ihr die Dichterin. Aber klatschig war die Kulkown nicht, wenn es sich um ihren Liebling Bianka handelte. Bewahre, für die wäre sie im wahren Sinn des Wortes durchs Feuer gegangen. Das junge Mädchen hatte ihr die Wohnung vermittelt beim Vater. Nein, auf Bianka liess sie nichts kommen.
Kaum waren die beiden ausser Sicht, sang Emma Kulkow vergnügt weiter:
„Im Unkenschloss, da geht es um,
Da klopft’s nachts an die Türen.
Prinzesschen bittet: Macht mir auf,
Lass euer Herz doch rühren!
Macht ihr nicht auf im alten Haus,
Muss ich um ein Uhr wieder hinaus:
In den Garten, in den Wald, in die weite Welt,
Irgendwo in mein Grab unterm Himmelszelt.
Im Unkenschloss, da geht es um,
Da bleibt jede Tür verriegelt.
Es raunt durchs Haus: Du brachst die Treu,
Dein Schicksal ist besiegelt.
Komm täglich um Mitternacht nur ins Haus!
Um ein Uhr musst du doch wieder hinaus:
In den Garten, in den Wald, in die weite Welt,
Irgendwo in dein Grab unterm Himmelszelt.“
„Bravo!“ lobte eine lachende Stimme. Die Schriftstellerin, Fräulein Walborg, klein wie ein Gnomenweibchen mit grossem Kopf und kurzen Beinen, stand hinter Frau Kulkow und strahlte über das ganze liebe und immer freundliche Gesicht.
„Hat’s Ihnen so jut jefall’n, Fräulein Walborg? Sie vastehn ja wat von Poesie,“ fragte Emma Kulkow und sah fast stolz aus.
„Ich hab’ das Ding schon öfter von Ihnen gehört, Kulkown,“ lächelte die jämmerlich kleine Sechzigerin. „Ich finde es ulkig. Woher stammt es eigentlich?“
Emma Kulkow dachte: ‚Das werde ich dir gerade auf die Nase binden, damit du’s gelegentlich an Biankas Vater weitergeben kannst!’ Sie zog die Schultern hoch.
„Wie kann ick det wissen, ick hab et mal wo aufjeschnappt. Aber wo, det hab’ ick vajessen!“
„Es scheint schon alt zu sein,“ stellte die Walborg fest und ging weiter die Treppe hinunter. Ihr Dackel Waldi trollte hinterher. Schwarz war er, krummbeinig, und sein zu langer Leib erinnerte an eine auseinander gezogene Handharmonika. Fräulein Jutta Walborg und ihr Dackel waren stadtbekannt.
Brigitte von Hahnendorf war indessen mit ihrem Vater die Promenade hinuntergegangen, und dort, wo sich ein Flüsschen über sorgsam geschichtete kleine Kunstfelsen schäumend drei Meter tief ‚niederstürzte’ und eine schmale Brücke aus Baumstämmen hinüberführte in den belebtesten Stadtteil, nahmen beide Abschied voneinander. Erich von Hahnendorf betätigte sich als Buchhalter in der Stadtmühle, und Brigitte, obwohl sie erst zweiundzwanzig Jahre alt war, als Direktrice bei Frau Zinn, deren Schneiderstube als teuerste und gediegenste der Stadt galt.
Erich von Hahnendorf blickte der Davonschreitenden nach und richtete sich unwillkürlich straffer auf. ‚Ein seines und liebes Mädel ist meine Tochter!’ dachte er stolz. Um ihre Zukunft brauchte ihm kaum bange zu sein. Sie hätte ihr Abitur machen und studieren sollen. Ärztin hatte sie werden wollen, aber eines Tages, als Fünfzehnjährige schon, war sie zu ihm gekommen und hatte sehr vernünftig zu ihm gesagt: „Nimm mich von der Schule fort, Vati. Bis ich Ärztin geworden bin, kostet es euch zuviel Geld, und vielleicht bin ich gar nicht mal besonders dafür begabt. Ich habe auch Freude an hübschen Kleidern und kann dergleichen gut aufzeichnen. Ich helfe Mutti, aus alten Fummeln Neues machen, also ist’s gescheiter, du lässt mich bei der Zinn lernen. Wen die annimmt und behält, der muss Geschick haben. Wollen’s ausprobieren. Auf die Weise werde ich am raschesten zu etwas Geld kommen, und das brauchen wir Hahnendorfs, weil wir arme Luder sind, wenn uns auch das Unkenschloss gehört. Ich möchte helfen, es festzuhalten.“
Brigitte hatte recht gehabt. Ihr Werdegang gestaltete sich sehr zufriedenstellend. Sie hatte im vorigen Jahr ihr Examen mit ‚sehr gut’ bestanden und war nun schon erste Direktrice bei der Zinn. Das bedeutete hier im Städtchen schon etwas.
Gerade als sie durch eine kurze Querstrasse gehen wollte, sah sie vor sich eine lederne Brieftasche liegen. Niemand befand sich in ihrer Nähe. Sie sah sich aufmerksam nach allen Seiten um, doch war kein Mensch zu erblicken, der die Brieftasche verloren haben konnte.
‚Auf die Polizei tragen, gar nicht erst ’reingucken!’ entschloss sie sich. Es ging sie nicht das mindeste an, wie es in der Brieftasche aussah.
Eine Uhr schlug acht. Unwillkürlich setzte sie sich in Trab. Um acht Uhr sollte sie pünktlich bei Frau Zinn antreten. Die Brieftasche musste eben bis zum Mittag warten, eher hatte sie keine Zeit.
Brigitte steckte den Fund in ihre ziemlich grosse Handtasche, in der auch ihr Frühstück seinen Platz zu finden pflegte. In kaum zwei Minuten befand sie sich am Ziele.
* * *