Читать книгу Wenn das nicht geschehen wäre - Anny von Panhuys - Страница 8
5.
ОглавлениеEtwas vor drei Viertel acht betraten Herr von Hahnendorf und Brigitte das Hotel Schütz. Der Portier, ein gewiegter junger Mensch, berichtete strahlend, Herr Harnisch hätte sich gestern abend riesig gefreut über die gute Nachricht, er sitze schon im Lesezimmer und warte. Die Herrschaften möchten die Güte haben, ihm dorthin zu folgen.
Herr von Hahnendorf schien vorerst besonders das Wort Lesezimmer wichtig. Das war ein Ausweg, der ihm gefiel. Denn er dachte an seine Arbeit, dass ihm voraussichtlicher Zeitverlust nicht angenehm wäre, und in einem Lesezimmer konnte Brigitte auch Gott sei Dank einen fremden Herrn aufsuchen.
Er wandte sich erleichtert an seine Tochter:
„Mach du, bitte, alles mit dem Herrn allein ab. Ich möchte nicht gern zu spät kommen, und du brauchst mich ja eigentlich gar nicht. Auch kommt es bei dir im Geschäft nicht so auf die Minute an wie bei mir.“
Er wartete erst gar keine Antwort ab und entfernte sich mit kurzem Gruss.
Brigitte war etwas verblüfft. Sie hatte den Vater bitten wollen zu bleiben, aber es war ihr peinlich gewesen, in Gegenwart des Portiers das ängstliche Küken zu spielen, das sie im Grunde auch gar nicht war. Unangenehm war ihr nur der Punkt der Belohnung. Doch es blieb ihr jetzt nichts weiter übrig, als dem Portier zu folgen.
Er öffnete eine breite Glastür, und beide betraten einen Raum mit sechs Schreibtischen und einem grossen Regal, in dem viele Zeitungen lagen. Nur ein Herr befand sich hier und kam Brigitte schon entgegen.
Sie stellte überrascht fest, dass sich Bianka aber gründlich geirrt hatte. Der Verlierer der Brieftasche war kein vom Alter tappig gewordener Herr, sondern noch jung. Sie schätzte ihn auf allerhöchstens dreissig Jahre.
Der Portier zog sich mit einer Verbeugung zurück; er war hier überflüssig.
Paul Harnisch hatte sich bisher noch keine Gedanken darüber gemacht, wer ihm wohl seine Brieftasche wiederbrächte. Es genügte ihm, dass sie gefunden worden war. Aber jetzt, da er einer so besonders hübschen, und vor allem wie das blühende Leben selbst aussehenden jungen Dame gegenüberstand, legte er etwas Gewicht auf den Umstand, dass die Finderin auch ein vorteilhaftes Äussere besass.
„Mein Name ist Paul Harnisch, mein gnädiges Fräulein,“ stellte er sich vor.
Sie nickte kurz: „Ich bin Brigitte Hahnendorf und fand gestern früh eine braune Brieftasche. Ich nehme an, sie gehört Ihnen, hineingeguckt habe ich nicht. Ich hielt das für überflüssig, weil ich meinen Fund im Laufe des gestrigen Tages auf die Polizei tragen wollte, wo man die Brieftasche ja sowieso untersucht hätte.“ Sie lächelte. „Ich hatte aber gestern den ganzen Tag viel zu tun, dass ich meinen Fund glatt vergass. Abends machte uns dann meine Mutter auf das Zeitungsinserat aufmerksam. So fiel mir erst meine Sünde wieder ein.“
Er bat: „Setzen Sie sich doch wenigstens ein paar Minuten, gnädiges Fräulein,“ und schob ihr einen Stuhl zurecht.
Sie liess sich nieder, und er folgte ihrem Beispiel.
Brigitte wollte den Fund schon aus der Handtasche hervorholen, als er scherzend vorschlug:
„Ein paar Fundbürofragen sollten Sie aber doch stellen, damit ich Sie nicht etwa dadurch reinlege, dass ich Ihnen eine Sache abluchse, die vielleicht einen ganz anderen Besitzer hat. Es könnten doch zufällig an einem Tage zwei Brieftaschen verlorengegangen sein.“
„Das stimmt“, gab sie zu, und sie begriff nicht, warum ihr mit einem Male so richtig vergnügt zumute war. Sie zuckte die Achseln. „Ich habe die Brieftasche auch von aussen nicht allzu genau betrachtet. Es wäre also am einfachsten, wenn Sie mir den verlorenen Gegenstand beschreiben würden. Vielleicht hat er irgend etwas an sich, was besonders bemerkenswert ist.“
Er schaute sie an und dachte unwillkürlich dabei, dass er bisher gar nicht gewusst hatte, dass blaue Augen so wunderschön sein könnten wie die der jungen Dame. Sonderbar, er hatte auch bisher geglaubt, Elisabeths Rehaugen dürften den Vergleich mit jedem Augenpaar aushalten, aber diese blauen Augen waren schöner.
Er schalt sich selbst, solche Dinge zu denken. Das Mädel war wirklich nicht hierhergekommen, damit er sich mit Augenstudien besassen sollte. Paul riss sich zusammen:
„Meine Brieftasche ist dunkelbraun und noch ziemlich neu. Über die Rückseite aber läuft ein breiter, hässlicher Kratzer wie ein heller Strich und — —“
„Schon gut,“ unterbrach ihn Brigitte, „der Kratzer ist mir sofort aufgefallen. Also ... Sie haben den Beweis geführt, dass Sie der Besitzer sind.“
Sie öffnete ihre Handtasche und überreichte ihm den verlorenen Gegenstand, um den er, seit er ihn vermisst, so sehr gebangt. Den ganzen Tag war er deswegen herumgelaufen. Allein dreimal zur Polizei. Und abends hatte er sich dann in eine Wirtschaft gesetzt und ein paar Gläser mehr als nötig getrunken, weil ihm gar zu flau zumute gewesen war. Als er danach ins Hotel zurückkehrte, meldete ihm der Portier ein Herr von Hahnendorf hätte telefonisch mitgeteilt, seine Tochter habe eine braune Brieftasche gefunden.
Er war nun überfroh, sein Eigentum wiederbekommen zu haben. Allerdings, zweihundert Mark kostete seine Nachlässigkeit, mit der er die Brieftasche neben, statt in die Futtertasche seines Mantels gesteckt hatte, den er nicht zuknöpfte. Zum Glück hatte er gestern früh bei der Abreise sein ganzes derzeitiges Vermögen, das dreihundert Mark betrug, mitgenommen.
Er schob einen Briefumschlag in Brigittes Handtasche, und die junge Dame, der es auf den Lippen lag abzuwehren: ‚Bitte, behalten Sie das Geld!’ dachte an Bianka und glaubte zu hören, wie sie gestern abend gesagt hatte: ‚So’n Quatsch, die Belohnung steht dir zu, du Prinzessin auf der Erbse!“
Recht hatte Bianka, das sah Brigitte ein. Und so bestätigte sie den Empfang der Belohnung mit einem halblauten Dank.
„Ich habe Ihnen zu danken, gnädiges Fräulein.“
So voll Wärme war seine Stimme, dass Brigitte heimliches Bedauern spürte, weil sie einander wahrscheinlich niemals wiedersehen würden. Und gerade da fiel ihr auch der einfache Goldreif auf, den er an der linken Hand trug. Also war der Träger des Ringes verlobt. Wie leichte Traurigkeit legte es sich über ihre Gedanken, und sie erhob sich etwas hastig.
„Ich muss mich jetzt verabschieden. Wir fangen im Geschäft um acht Uhr an, wenn viel zu tun ist, und es ist schon eine Viertelstunde darüber.“
Er hätte gern gewusst, um was für ein Geschäft es sich handelte, in dem das frische blonde Mädel tätig war, aber er wagte keine Frage, sondern bat nur:
„Geben Sie mir die Hand und lassen Sie mich nochmals meinen herzlichen Dank aussprechen. Sie konnten mir einen wichtigen und grossen Dienst leisten. Ich will Ihnen eingestehen, wenn die Brieftasche in die Hände eines unehrlichen Menschen gefallen wäre, sähe meine nächste Zukunft jetzt sehr trübe aus.“ Er lächelte. „Ich bewundere besonders, dass Sie Ihren Fund gar nicht näher untersuchten, ich hielt bisher alle Frauen für neugierig, gnädiges Fräulein.“
Sie schüttelte den Kopf: „Ich bin im allgemeinen nicht neugierig, und ... bitte, aus der Anrede ‚gnädiges Fräulein’ mache ich mir nicht das mindeste. Ich höre mich lieber beim Namen nennen.“
Sein Mantel und Hut hingen im Lesezimmer. Er bat: „Gestatten Sie mir, Sie ein Stück zu begleiten, Fräulein von Hahnendorf.“
„Gern“, erwiderte sie einfach. Dann schritten sie nebeneinander her, und Brigitte plauderte von ihrem Zuhause, von der Villa Princesita.
So erreichten sie das Haus, in dem Frau Zinn wohnte, und Brigitte gab Paul Harnisch nochmals die Hand. Es war fast, als wolle ihr der Mann ins Gebäude nachlaufen, als hätte er vergessen, ihr noch irgend etwas zu sagen, was ihm wichtig dünkte, aber dann machte er kehrt. Nein, er wandte sich doch noch einmal zurück und las, was auf dem grossen Kupferschild eingraviert war, das ihm seitlich der Eingangstür aufgefallen war. Da stand:
Kleider, Kostüme, Mäntel
Betty Zinn
Schneidermeisterin
Ob Brigitte von Hahnendorf bei dieser Frau Zinn beschäftigt war?
Er lächelte. Möglich. Aber eigentlich sah sie eher so aus, wie er sich die Mädel und Frauen vorstellte, die nach Rekorden im Reiten und Fliegen strebten, oder die mit Schlittschuhen auf der Eisbahn so sicher tanzten wie vielleicht frühere Solodamen des russischen Hofballetts auf leichten Sandaletten.
Paul Harnisch steckte sich eine Zigarette an. Jetzt hatte er sich wahrhaftig genug mit der hübschen Blonden beschäftigt, und es war Zeit, dass seine Gedanken zu seinem dunkelhaarigen Mädchen zurückkehrten. Am wichtigsten aber war es, an den Juwelier zu denken und an den Smaragd und daran, dass er durch den Stein recht bald zu genügend Geld käme, um sich geschäftlich helfen zu können.
Aus tiefster Verzweiflung hatte ihn das hochherzige Geschenk der alten Frau Gregorius gerissen. Sein Lebenshimmel war nun wieder hell und klar, schnell vorübergezogen waren die finsteren Wolken.
Er pfiff leise vor sich hin und stellte dabei fest, dass er tüchtigen Hunger verspürte. Also wollte er lieber erst frühstücken, ehe er den Juwelier aufsuchte, zu dem er schon gestern um die gleiche Zeit hatte gehen wollen. Gestern hatte er das Essen vor Aufregung über seinen Verlust vollkommen vergessen.
Er sass dann im Frühstückszimmer des Hotels Schütz, und nachdem der Kellner Kaffee, Brötchen, Butter und zwei Eier vor ihn hingesetzt hatte, konnte er es nicht unterlassen, seine wiedererhaltene Brieftasche hervorzuziehen. Ihm fiel ein, dass er bisher noch keinen Blick hineingeworfen hatte, und eigentlich hätte er sich doch in Gegenwart der Finderin überzeugen müssen, ob nichts von dem Inhalt fehlte. Aber auf die Idee war er überhaupt nicht verfallen. Es kommt natürlich immer darauf an, wer der Finder ist. Eine Brigitte von Hahnendorf war glasklar, dachte Paul Harnisch. Sie hatte so etwas, das gab einem den Gedanken ein, alles, was mit ihr zusammenhing, konnte nicht anders als sauber und ehrlich und gut sein. Ein wundervolles Menschenkind! Ihr Inneres musste ihrem Äusseren entsprechen. Er glaubte den Blick der grossen blauen Augen ganz nahe vor sich zu sehen, die reinen Linien des etwas grosszügigen Gesichts, und er glaubte sogar ihre weiche, ein wenig tiefe Stimme zu hören. Seltsam, dass ihm auch Elisabeths hohes Organ dabei einfiel und er unwillkürlich Vergleiche anstellte.
Zum Teufel! Er musste sich wahrhaftig zur Ordnung aufrufen. Solche Vergleiche durfte er nicht anstellen.
Elisabeth war äusserlich völlig verschieden von Brigitte Hahnendorf und besass wohl auch einen ganz anderen Charakter. Aber niedlich und süss war das kleine Weibsbild, und wenn er es in den Armen hielt, dünkte es ihm ein reizvolles Spielzeug.
Ein Spielzeug! Oft hatte er das schon gedacht, aber in diesem Augenblick störte ihn dieses — wenn auch nur gedachte — Wort. Auf das Mädchen, das man heiraten will, darf man das Wort nicht anwenden. Bei Brigitte Hahnendorf wäre er nie auf so etwas verfallen.
Er musste sich zum zweitenmal zur Ordnung rufen, denn er war ja im Begriff, die niedliche Elisabeth in den Hintergrund zu befördern, und eine Fremde, von der er herzlich wenig, richtiger — fast gar nichts wusste, in den Vordergrund seines Denkens zu schieben.
Paul Harnisch öffnete die Brieftasche und ein flüchtiger Blick überzeugte ihn, dass alles darin unberührt war.
Beinahe zärtlich ruhte sein Blick auf dem kleinen flachen Blechkästchen, darin er die beiden Geschenke der alten Frau Gregorius verwahrt hatte, weil das Schmucketui zu breit und hoch für die Brieftasche gewesen war. Er machte es auf, um sich zu freuen an dem Strahlen des Solitärs und an dem tiefgründigen Funkeln des Smaragds.
Die wenigen Frühstücksgäste und der Kellner, der sich eben in Pauls Nähe befand, schauten erstaunt auf den grossen Herrn, der etwas abseits Platz genommen hatte. Er hatte aufgeschrien. Nicht laut, bewahre, nur unterdrückt, so im letzten Moment beherrscht, aber einen Schrei hatte er ausgestossen, das stand fest. Und Paul Harnisch hatte auch Grund dazu, denn in dem kleinen Behälter lag einsam und allein der schmale Brillantring, der viel wertvollere Smaragd leistete ihm keine Gesellschaft mehr.
Der Kellner trat an den Tisch, fragte höflich: „Kann ich Ihnen irgendwie dienen, mein Herr?“
Ein verwirrter Blick traf den Frager, und sofort riss sich Paul Harnisch zusammen, brachte sogar ein Lächeln zustande.
„Danke, ich brauche gar nichts, ich habe mich nur gestossen.“
Er sah dem Kellner an, dass der dachte: ‚Netter Schwachmatikus, dieser grosse Kerl!’
Paul mochte nicht mehr weiter essen; der Appetit war ihm gründlich vergangen. Er steckte die Brieftasche ein, verliess den Frühstücksraum und begab sich nach oben.
Das Mädchen war gerade mit dem Ordnen des Zimmers fertig geworden und stellte verwundert fest, wie erschreckend fahl der Gast von Nr. 28 im Gesicht aussah. So, als hätte er eine ganz schlimme Nachricht bekommen, und der Portier hatte ihr doch vorhin erzählt, der Herr hätte Glück gehabt. Seine Brieftasche, für deren Wiederbringung er zweihundert Mark Belohnung aussetzte, wäre gefunden worden. Froh und zufrieden aber schien er darüber nicht zu sein.
Als sich Paul Harnisch allein im Zimmer befand, musste er sich setzen. Seine Knie waren seltsam weich und kraftlos. Es war ein widerliches Gefühl. Auf dem Tisch leerte er die ganze Brieftasche vor sich aus, öffnete auch das Blechkästchen wieder. Doch so gründlich er alles untersuchte, der Smaragd war nirgends zu finden. Paul sagte sich, dass weiteres Suchen zwecklos wäre, aber er sagte sich auch, wenn Brigitte von Hahnendorf die Brieftasche überhaupt nicht geöffnet hatte, wie sie mehrmals versicherte, könnte der Smaragd nicht fort sein. Wie sie mehrmals versicherte! Wie sie beinah zu betont versichert hatte! drängte es sich ihm mit einem Male förmlich auf.
„Pfui!“ sagte er laut, und das Pfui galt seinem jäh erwachten Misstrauen.
Er erhob sich und lief durch das Zimmer. Hin und zurück, immer wieder hin und zurück. In das Chaos, das jetzt in seinem Kopf herrschte, musste er vor allem erst ein kleines bisschen Ordnung zu bringen versuchen. Das war dringend notwendig, damit er einen Entschluss zu fassen vermochte, was er tun sollte. Sein Gefühl wollte an keine Schuld des blonden Mädels glauben, aber sein Verstand hatte sich von dem Pfui nicht beirren lassen. Der sah die Dinge so: Brigitte Hahnendorf hatte die Brieftasche mit dem Smaragd gefunden, da sie diese aber ohne den Stein abgeliefert hatte, musste sie ihn also behalten haben.
Dem Grübelnden schien die Sachlage jetzt beinah noch schlimmer als sie gestern gewesen war, nachdem er den Verlust der Brieftasche entdeckt hatte.
Brigitte Hahnendorf hatte ihm im Hinblick auf die Brieftasche versichert, sie hätte nicht hineingeschaut, und sie wäre nicht neugierig! Seine Hände ballten sich, es tat weh, wenn man den Glauben an so ein blondes Mädel verlor, das aussah wie die verkörperte Wahrhaftigkeit.
Was sollte er tun? Seine Fahrt hierher hatte unter einem schlechten Stern gestanden. Er erinnerte sich, dass die alte Frau Gregorius erzählt hatte, ihr Mann hätte behauptet, der Stein brächte kein Glück. Beinah konnte er glauben, es wäre etwas Wahres daran.
Aber was nun? Auf die Polizei gehen! riet ihm kurz und grob der Verstand, aber gegen die Stimme der kühlen, nüchternen Vernunft wehrte er sich heftig. Er wollte lieber erst mit Brigitte Hahnendorf reden und sie befragen.
Er überlegte, wie er sie möglichst bald sprechen könnte. Er wusste ja nicht, ob sie bei dieser Schneidermeisterin angestellt war, deren Schild ihm vorhin auffiel. In dem betreffenden Haus aber musste sie tätig sein, das stand ausser Frage. Also würde er sie wohl finden.
Paul Harnisch stürmte los. Der Boden hier im Zimmer brannte ihm unter den Füssen. Gewissheit wollte er sich verschaffen, ob so ein blondes Mädel gemein lügen konnte. Bald befand er sich vor dem Haus, wo er sich vor einer knappen Stunde von Brigitte Hahnendorf verabschiedet hatte. Er wollte zuerst bei der Schneidermeisterin nach ihr fragen.
Die öffnende Hausgehilfin erklärte auf seine Frage: „Unsere Direktrice heisst Fräulein von Hahnendorf.“
„Ich möchte sie in einer dringenden Angelegenheit sofort sprechen, bitten Sie Fräulein von Hahnendorf heraus,“ bat er hastig.
Sie schüttelte verwundert den Kopf.
„Das muss ich erst Frau Zinn melden.“ Sie belehrte den Besucher wichtig: „Die Chefin hat es nicht gern, wenn die Arbeit durch private Angelegenheiten der Angestellten aufgehalten wird.“ Frau Zinn pflegte öfter darauf hinzuweisen, und die Hausgehilfin handelte in ihrem Sinne.
„Bitte, ich muss Fräulein von Hahnendorf aber sofort sprechen!“ beharrte er.
„Warten Sie ein paar Augenblicke,“ gab die ältliche Hausgehilfin zurück und machte ihm die Korridortür des ersten Stockwerkes vor der Nase zu.
Die Inhaberin des Schneiderateliers, die an ihrem Schreibtisch sass und mit der Post beschäftigt war, nahm die Mitteilung der Hausgehilfin entgegen. Sie stellte dann die Frage: „Was ist’s denn für ein Mensch?“
„Gross ist er und sehr anständig angezogen und noch jung, so Ende der Zwanzig, aber er hat etwas Aufgeregtes an sich, wie — wie —“ die Brave suchte nach einem Vergleich, und es schoss ihr schliesslich über die Lippen: „Er sieht aus wie einer, der aus Eifersucht ’nen Mord begehen will.“
Frau Zinn fiel vor Schreck der Federhalter aus der Hand.
„Du lieber Himmel, Sofie, so schlimm wird es doch nicht gleich sein!“
Sofie wiegte den Kopf hin und her.
„Ich kann mir nicht helfen, er kommt mir gefährlich vor.“
„Aber Fräulein Brigitte hat doch gar kein Liebesverhältnis,“ wandte die Dame ein und drückte mechanisch ihr glattes, graues Haar an den Schläfen noch fester.
„Das können Sie nicht wissen, Frau Zinn,“ widersprach Sofie. „Eine, die so hübsch ist wie Fräulein Brigitte hat sicher auch ’nen Schatz. Aber einer wie der draussen, der sieht so unheimlich aus, dem traue ich einen Revolver in der Tasche zu ... vor dem hätte ich Manschetten.“
Die Chefin entschied: „Lassen Sie ihn hier eintreten. Ich will ihn mir ansehen.“ Sie war etwas ängstlich geworden, Sofie hatte sie bange gemacht. Sie widerrief deshalb sofort ihre Anordnung: „Nein, lassen Sie ihn nicht herein! Ich werde mich durch das Guckloch in der Korridortür erst selbst überzeugen, zu welcher Sorte von Menschen er gehört.“
Beide schlichen auf den Zehenspitzen hinaus und Frau Zinn hielt Ausschau nach dem Herrn, der ihr als gefährlich aussehend geschildert worden war. Sie musste Sofie recht geben. Einen ganz harmlosen Eindruck machte allerdings der draussen Wartende nicht. Er schien vor allem äusserst ungeduldig zu sein, und zwischen seinen starken Brauen stand eine steile böse Falte.
Frau Zinn öffnete selbst und grüsste kühl und kurz.
„Darf ich fragen, in welcher Angelegenheit Sie Fräulein von Hahnendorf zu sprechen wünschen?“
Das lange Warten hatte Paul Harnisch reizbar gemacht, und er antwortete ebenso kühl und kurz: „In einer Angelegenheit, die nur die Dame und mich angeht.“
„Dann erledigen Sie das am besten ausserhalb meiner Wohnung,“ gab Frau Zinn in eisigem Ton zurück.
Er nahm sich zusammen: „Es eilt aber und lässt sich nicht aufschieben.“ Dann bat er: „Zehn Minuten würden genügen, ich will Fräulein von Hahnendorf nur um eine Aufklärung ersuchen.“
In diesem Augenblick trat Brigitte aus einer der Türen, die im Korridor einmündeten, und erkannte den vor der Tür Stehenden. Unwillkürlich stutzte sie einen Herzschlag lang, aber dann kam sie sofort näher, fragte langsam: „Sind Sie etwa meinetwegen hier, Herr Harnisch?“
So selbstverständlich klang das Sie und die förmliche Anrede, dass Frau Zinn erleichtert feststellte, einen Revolver, um Brigitte Hahnendorf damit zu bedrohen, trug der Fremde sicher nicht in der Tasche. Ehe Paul Harnisch Brigitte noch Antwort zu geben vermochte, mischte sich die Chefin ein: „Der Herr möchte Sie dringend sprechen, Brigitte. Ich stelle Ihnen zu dem Zweck mein Arbeitszimmer zur Verfügung.“
Sie machte eine einladende Handbewegung nach draussen und Paul Harnisch trat ein. Endlich! Er fühlte vor Ungeduld schon ein Zittern in allen Gliedern.
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