Читать книгу Wenn das nicht geschehen wäre - Anny von Panhuys - Страница 7

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Oh, war das heute ein Arbeitstag! Frau Zinn, sehr schlank, etwas bräunlich gepudert und das kurze Haar glatt an den Kopf gebürstet, dass es einer silbergrauen Kappe glich, war schon ganz nervös von dem Gehetze. Ruhig und immer freundlich lächelnd hielt Brigitte allem stand, aber es war so viel Arbeit, dass ihr mittags keine Zeit blieb, nach Hause zu gehen. Sie musste ihrer Mutter telefonisch mitteilen, sie käme erst am Abend heim. Sie ass bei Frau Zinn, und da sie auch das Frühstücken in dem Durcheinander der Arbeit vergessen hatte, war sie gar nicht an ihre grosse Handtasche gegangen, wurde nicht mehr daran erinnert, dass sich darin eine fremde Brieftasche befand, die sie heute mittag im Polizei-Fundbüro hatte abgeben wollen.

Erst abends beim Nachhausegehen, gerade als Brigitte die Gartentür aufschloss und sich auf das Ausruhen freute, fiel ihr ihre Vergesslichkeit ein.

Sollte sie noch einmal umkehren? Bewahre! Dem Verlierer geschah es ganz recht, wenn er sich ein paar Stunden länger ängstigen musste. Dadurch lernte er es vielleicht, in Zukunft besser auf seine Wertsachen achtzugeben. Eine Brieftasche gehört doch zu den Wertsachen, selbst wenn kein Geld darin ist und sie nur Personalpapiere oder sonstige wichtige Dokumente enthält.

Das junge Mädchen durchschritt den Vorgarten, und als sie den Flur betrat, freute sie sich wie so oft, wenn sie heimkam, wie wunderhübsch sie wohnte. Wirklich, wie in einem Schloss. Die Wände der Gänge waren bemalt mit Landschaftsbildern, die wahrscheinlich von keinem besonderen Künstler geschaffen worden waren, aber doch warm und lebendig wirkten. Bilder aus der näheren Umgebung des Städtchens waren es. Ein Stück Landschaft am Finow-Kanal. An seinem Rand ein Hammerwerk mit hellem, rotem Ziegeldach. Friedrich der Grosse hatte es erbauen lassen. Hier sah es noch betriebsam und arbeitsfroh aus — und das war auch so vor hundertfünfzig Jahren gewesen, und so blieb es auch auf die Wand gebannt. In Wirklichkeit war das Hammerwerk längst müde und vergreist wie der Kanal, den jetzt der junge, breite Grossschifffahrtsweg ersetzte. Auf einer anderen Wand erkannte man den Werbellin-See, auf einer dritten Kloster Chorin. Und die Landschaftsbilder bedeckten alle Gangwände und gaben Zeugnis davon, dass der Erbauer der Villa seine Heimat, die Kurmark, sehr liebgehabt hatte, dass er ihre Eigenheiten und Schönheiten in seinem Heim immer hatte um sich haben wollen und gewünscht hatte, ständig daran erinnert zu werden.

Die einzelnen Wohnungen waren durch Korridortüren abgeschlossen. Der Vater des Hausherrn hatte diese nicht gern machen lassen, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, wenn er Mieter aufnehmen wollte. Die Korridortüren störten den Gesamteindruck des Innenhauses.

Als Brigitte das Wohnzimmer betrat, war der Abendbrottisch schon gedeckt und das Rundfunkgerät angeknipst. Irgendeine beliebte Kapelle spielte ‚An der schönen blauen Donau’ von Johann Strauss.

Brigitte, die sich vor wenigen Minuten noch sehr müde gefühlt hatte und am liebsten ohne Essen ins Bett gekrochen wäre, wurde wieder munter und froh beim Eintritt in das Zimmer. So gross und hoch war es und so angenehm warm. Die Deckenbeleuchtung war voll eingeschaltet und der Tisch geschmackvoll gedeckt. Das liess sich Frau von Hahnendorf nicht nehmen. Selbst wenn es Sonnabendmittag nur Kartoffelsuppe mit Würstchen gab, durfte eine Schale oder eine Vase mit Blumen nicht fehlen. Die gehörte wie von selbst zu dem blendend weissen Tischtuch.

Brigittes Schwester Bianka rief ihr entgegen:

„Ich habe schon mächtigen Kohldampf. Menschenskind, wo bist du bloss heute geblieben?“

Brigitte lächelte. Die weichen, wiegenden Melodien des Wiener Walzers erfüllten sie mit leiser Sehnsucht, die sie nicht zu deuten wusste. Vielleicht war es jähes Fernweh, vielleicht auch nur Lust, sich in einem hellen, strahlenden Saal im Tanz zu wiegen. Sie wusste sich die Sehnsucht nicht zu erklären und dachte auch weiter nicht darüber nach. Zweiundzwanzig Jahre gehen noch nicht jeder Sehnsucht auf den Grund.

Sie beantwortete die Frage der Schwester:

„Wir haben seit heute riesig viel zu tun. Erika Lorenz heiratet bald und wir haben den Auftrag, die ganze Ausstattung zu liefern. Andere gute Kunden wollen sich natürlich auch nicht beiseiteschieben lassen, sonst springen sie ab. Erika Lorenz kriegt ’ne Ausstattung wie früher ’ne Fürstenbraut.“

„Die können’s ja auch,“ erwiderte Bianka ein bisschen, aber wirklich nur ein ganz klein bisschen von flüchtigem Neid gequält.

Bianka und Brigitte ähnelten sich. Bianka war drei Jahre jünger. Die Haare beider Mädchen waren mattblond, aber Brigittes Augen waren blau wie die der Mutter, die Biankas braun wie die des Vaters. Ihre Figuren waren schlank und kräftig, ihre Haut rosig und gesund. Schöne kräftige Zähne fielen sofort an ihnen auf. Bianka war Fotografin bei der Firma Ellert. Sie schwärmte oft davon, später ein eigenes Atelier zu haben und fotografierte privat alles, was nicht ganz energisch dagegen Verwahrung einlegte.

„Kennst du den Verlobten von Erika Lorenz?“ fragte Bianka.

„Nö!“ kam es zurück.

Knapper konnte Brigitte nicht mehr antworten. Sie verspürte plötzlich Riesenhunger, alles andere schien ihr zunächst unwichtig.

Eben trat die Mutter ein und rief Bianka zu, ihr beim Auftragen zu helfen. Es war soweit mit dem Essen. Der Vater kam aus dem Nebenzimmer, und sie sassen dann zu viert um den Tisch, hatten alle guten Appetit und das Gespräch war nur einsilbig.

Frau Steffi Pflegte zu sagen: ‚Wenn beim Essen nicht soviel geschwatzt wird, schadet es nichts. Die Hauptsache ist, dass wir alle beisammen sind!’ Harras lag seitlich vom Tisch, er hatte sein Nachtmahl schon in der Küche eingenommen und verschmähte Brosamen. Sein kluger, grosser Kopf ruckte manchmal nach rechts und links, als müsse er sich überzeugen, ob auch alle, die er verehrte, versammelt wären.

Frau Steffi erzählte: „Vorhin habe ich in der Zeitung gelesen, es hat einer seine Brieftasche verloren. Er setzt für den Finder eine Belohnung von zweihundert Mark aus. Ganz nett, wer sich die verdienen kann.“

„Schade, dass ich sie nicht gesunden habe, dann könnte ich mir endlich ein Motorrad kaufen,“ seufzte Bianka. Sie sah befremdet zu der Schwester hinüber: „Was ist denn mit dir los, Brigitte? Du siehst ja aus, als ob dir flau wäre oder als ob du die Brieftasche gefunden hättest.“

Die letzten Worte klangen neckisch und spöttisch.

Brigitte legte Messer und Gabel hin und sagte langsam und betont:

„Ich habe tatsächlich eine Brieftasche gefunden. Ich wollte sie heute mittag aufs Fundbüro tragen, aber weil ich bei Frau Zinn ass, habe ich’s vergessen. Und heute abend habe ich auch nicht daran gedacht.“

Ihr Vater fragte: „Ist das wirklich wahr oder machst du nur Scherz?“

„Es ist wahrhaftig wahr, Vati, dass ich heute morgen, gleich nachdem wir uns getrennt, eine Brieftasche gefunden habe. Ich steckte sie in meine Handtasche und da muss sie sich natürlich noch befinden.“

„Bist du aber ein Glückskind!“ staunte Bianka. „Verdienst also dadurch, dass du dich heute morgen einmal gebückt hast, gleich zweihundert Mark.“

Brigitte antwortete nicht. Es leuchtete ihr noch nicht ein, dass sie von irgendeinem fremden Mann zweihundert Mark erhalten sollte. Nur dafür, dass sie getan, was jeder Vorübergehende beim Anblick einer herrenlos auf der Strasse liegenden Brieftasche auch getan hätte. Sie war sogar pflichtvergessen gewesen, der Fund müsste längst auf der Polizei sein. Aber das liess sich nicht mehr ändern, und sie wollte dem Verlierer ihre Erklärung für ihre Unterlassungssünde geben. Gleich morgen früh sollte die Angelegenheit in Ordnung gebracht werden.

„Wie steht es denn mit dem Inhalt der Brieftasche?“ fragte Bianka und ihre braunen Augen funkelten nur so vor Neugier.

Die Ältere zog die Schultern hoch. „Keine Ahnung, und das geht mich auch nichts an. Ich wollte sie auf die Polizei tragen, ohne den Inhalt zu beschnüffeln.“

„Also können wir die Untersuchung gemeinsam gleich nachher vornehmen,“ entschied Bianka und ihr Lächeln trug ebenfalls den Stempel der Neugier.

Brigitte sah sie gross an.

„Ich wiederhole: Ich wollte die Brieftasche auf die Polizei tragen, ohne den Inhalt zu beschnüffeln. Du scheinst mich nicht richtig verstanden zu haben.“

Die Schwester machte eine ärgerliche Handbewegung.

„Hast wohl moralische Hemmungen, was? Menschenskind, gib doch nicht so an. Du musst doch nachgucken, was in der Brieftasche ist und rauskriegen, wem sie gehört.“

Ihr Vater enthob seine Älteste einer Antwort und erwiderte ganz in Brigittes Sinn: „Da schon ein Inserat wegen des Verlustes in der Zeitung steht, erübrigt sich ein Nachforschen in der Brieftasche nach dem Eigentümer von selbst. Ebensowenig war das nötig, wenn Brigitte den Fund auf der Polizei abgeben wollte. Und jetzt Schluss damit, der Inhalt der Brieftasche geht uns nichts an!“

Bianka murmelte etwas Unverständliches, aber niemand nahm Notiz davon. Dann räumte sie den Tisch ab und Frau Steffi holte die Zeitung, zeigte den Aufruf.

Der Unbekannte hatte ihn also gleich heute vormittag, nachdem er den Verlust bemerkte, aufgegeben. Das betreffende Inserat fiel sofort auf. Es war doppelt umrandet und in grossen Buchstaben gehalten. Es lautete:

Brieftasche aus braunem Leder, mit Inhalt, auf dem Weg von der Oststrasse nach dem Promenadenplatz verlorengegangen gegen 8 Uhr morgens. Der ehrliche Finder erhält eine Belohnung von RM. 200.—

Meldung erbeten im ‚Hotel Schütz’.

„Du musst hingehen, Brigitte,“ meinte Frau Steffi, „du kannst dich dann selbst glaubwürdig entschuldigen, weil du die Brieftasche nicht gleich auf die Polizei gebracht hast.“

Ihr Mann schüttelte den Kopf. „Das einfachste ist es, die Geschichte auf der Stelle, wenigstens telefonisch, einzuleiten. Der Verlierer muss vor allem schnellstens erfahren, dass die Brieftasche gefunden wurde. Wir sind übrigens eine etwas zu langsame Familie, sonst wäre schon längst einer von uns mit dem Fundstück unterwegs.“

Seine Frau lachte: „Wir wollen doch nichts unterschlagen, und Brigitte sollte vor allem erst essen. Doch mit dem Telefonieren hast du recht. Übrigens wo hast du denn deinen Fund aufgehoben?“ fragte sie ihre Älteste.

Brigitte gab zurück: „Ich habe meine Handtasche mit der Brieftasche darin in mein Zimmer getragen.“

‚Mein Zimmer’, das war auch gleichzeitig Biankas Zimmer. Die Schwestern schliefen in demselben Raum, und die jüngere befand sich soeben dort, um etwas zu holen.

Ihre Augen forschten umher und entdeckten bald Brigittes Handtasche. Die Neugier erwachte sofort wieder in Bianka und meldete sich gleich überaus heftig und quälend.

Eine Brieftasche, auf die ein Finderlohn von zweihundert Mark ausgesetzt war, konnte ihr nicht gleichgültig sein. Das war für sie viel Geld. Wenigstens von aussen wollte sie das Ding einmal betrachten. Und zwar rasch, ehe vielleicht Brigitte käme.

Schon hatte sie die Handtasche geöffnet und gleich darauf hielt sie den Fund in ihren Fingern. Gediegenes braunes Leder, stellte sie fest, mindestens zwanzig Mark mochte die Brieftasche gekostet haben. Ob man wohl so ein ganz klein wenig ausspionieren sollte, was sich darin befände? Ob man das wagen durfte?

Was wäre denn schon Besonderes dabei! Brigitte hatte manchmal verdrehte Ideen, aber darum brauchte man sich schliesslich nicht zu kümmern. Von hundert Findern hätten wahrscheinlich neunzig nachgeguckt, was in der Brieftasche wäre.

Das junge Mädchen war mit zwei Sprüngen bei der Tür und schob den Riegel vor — für alle Fälle. Brigitte würde gerade jetzt kaum kommen, aber überraschen möchte sie sich auch nicht lassen. Brigitte konnte manchmal recht eklig und patzig sein, und im Boxen war sie ihr auch bedeutend überlegen.

Schon war sie beim Öffnen der Brieftasche. Papiere sah sie zunächst. Briefe und Rechnungen. Sie las einen Namen, der sich immer wiederholte. Ein Männername war es, der kraftvoll und stark im Rhythmus seiner Silben klang: Paul Harnisch!

Bianka verzog den Mund. Ein Name sagt gar nichts, die Erfahrung hatte sie in ihrem jungen Leben auch schon gemacht. Sie kannte jemand, der hiess Roland Stossdegen und war ein schmaler, blasser Geselle, dem Himbeerwasser statt Blut in den Adern zu fliessen schien.

Das fiel ihr flüchtig so nebenbei ein.

Also Briefe und Rechnungen waren in der kleinen Lederbehausung, kein Geld, aber es fand sich noch ein sehr flaches Blechkästchen. Anscheinend eigens sehr flach gewählt, damit es nicht auftragen sollte. Ob sie aufmachen durfte, ob sie sich überzeugen durfte, was drinnen war? Ob der Inhalt die hohe Belohnung erklären konnte? Sie wollte einen Blick wagen.

Aber das Blechkästchen klemmte sich, doch die Neugierige liess sich dadurch nicht stören. Aufgehen sollte und musste das kleine widerspenstige Ding.

Endlich! murmelte Bianka unwillkürlich, als sich der Deckel jetzt bewegte und zurückbog, nachdem sie zuletzt mit kräftigem Ruck ihr Heil versucht hatte.

Aber bei der jähen Bewegung, mit der die ziemlich gewalttätige Öffnung zustande gekommen war, schien es Bianka, als ob etwas aus dem flachen Blechbehälter spränge. Doch sie hörte keinen Aufschlag auf den Dielen und dachte, es handelte sich nur um Einbildung. Es war nichts herausgesprungen und nichts gefallen. Sie war nur ein bisschen nervös, weil sie eine fremde Brieftasche untersuchte, was Brigitte und ihr Vater nicht wissen durften.

Ein schmaler Goldreif mit hellem Stein lag in dem einfachen Blechkästchen. Sie steckte ihn spielerisch an und drehte ihre geschmückte Hand hin und her. Wie herrlich das blitzte und funkelte. Sicher war der ziemlich grosse, à jour gefasste Stein des Ringes, ein Brillant. Im Licht des Lüsters brach es wie winziges Feuerwerk aus seiner kristallenen Klarheit und versprühte in zarten Regenbogenfarben.

Mit einem langgedehnten Seufzer, dessen Übersetzung lautete: Ach, wärst du mein! zog Bianka den Ring wieder vom Finger und legte ihn an seinen Platz zurück, schob alles in der Brieftasche zurecht, wie es vorher gewesen war, und brachte den ledernen Gegenstand ihrer Neugier wieder in Brigittes Handtasche unter. Dann huschte sie aus dem Zimmer und vorerst in die Küche. Sie hörte, wie der Vater in seinem Zimmer dem Fernsprechamt eine Nummer nannte und kehrte in die Wohnstube zurück. Ihre kurze Abwesenheit, die noch dazu durch das Abräumen des Tisches begründet war, konnte gar nicht aufgefallen sein.

Da kam ihr Vater auch schon zurück und berichtete:

„Ein Herr Paul Harnisch aus der Nachbarstadt ist der Verlierer der Brieftasche, wie mir der Hotelportier sagte, aber der Herr wäre augenblicklich nicht im Hotel. Ich habe ihm deshalb aufgetragen, wir würden Herrn Harnisch morgen früh, kurz vor acht Uhr, sein Eigentum wiederbringen. Man soll das dem Herrn ausrichten, sobald er zurückkommt.“ Er wandte sich an die älteste Tochter: „Wir gehen also morgen vor Geschäftsanfang zusammen nach dem Hotel Schütz.“

Sie erwiderte etwas bedrückt:

„Das mit der Belohnung ist mir aber schrecklich peinlich.“

Bianka lachte laut: „Du bist wohl rein närrisch! Wie kann dir denn das peinlich sein. Dieser Herr Harnisch wird seine Brieftasche schon richtig einschätzen. Du weisst doch gar nicht, was drin ist. Vielleicht sogar Brillanten!“

Oh, war ihr das rasch hinausgeschlüpft! Warum konnte sie die unüberlegte Äusserung nicht mehr zurücknehmen. Aber die Bemerkung war keinem aufgefallen. Bianka fing rasch von anderen Dingen zu reden an — vom Fotografieren. Das Thema war bei ihr unerschöpflich.

Sie sagte stolz: „Einen schöneren Beruf könnte ich mir wirklich nicht vorstellen. Überlegt das doch nur einmal richtig: Alles, was es auf der Welt gibt, Menschen und Tiere, Landstrassen und Bauwerke und tausend andere Dinge, die geschehen, kann man mit der Kamera festhalten und allen vor Augen führen. Das Wunder aller Wunder ist der Fotoapparat. Nächsten Sommer in meinen Ferien wandere ich damit los quer durch Deutschland und fange alle Schönheit des Vaterlandes damit ein.“

Ihre Augen strahlten in Gedanken an den Plan.

Brigitte seufzte und sagte: „Ich bin jetzt sehr müde und möchte schlafen gehen.“

„Tue es doch, Mädel“, riet die Mutter.

Aus dem Lautsprecher klang gerade ein sanftes Wiegenlied, von einer Meisterhand wundervoll auf der Geige gespielt.

Einen Augenblick lauschte Brigitte noch, dann ging sie, nachdem sie den Eltern und der Schwester gute Nacht gewünscht hatte.

„Ich werde auch bald in den Kahn steigen“, rief ihr Bianka nach. Aber sie wartete noch eine volle Stunde, ehe sie der Schwester folgte. Es war wohl besser, wenn sie beide heute nicht mehr von der Brieftasche redeten, denn das Gespräch würde doch sicher wieder dort landen. Sie fürchtete, durch eine rasche Bemerkung zu verraten, dass sie ‚geschnüffelt’ hatte. Ein Glück, dass die Bemerkung vorhin unbeachtet geblieben war. Als die das Schlafzimmer betrat, lag Brigitte wach im Bett. Sie seufzte: „Die Belohnung stört mich, Bianka, ich käme mir wie ein Schnorrer vor, wenn ich sie annehmen würde.“

Die Schwester lachte: „So’n Quatsch! Die Belohnung steht dir rechtlich zu, du Prinzessin auf der Erbse. Mach nur keinen Unfug, etwa wie: Nein, mein Herr, ich danke sehr! Wenn dich dein zartes Gewissen aber zu sehr plagt, dann gib den — na sagen wir mal — vierten Teil davon für einen guten Zweck, und von dem, was bleibt, sei zu Weihnachten nobel gegen die Eltern und deine arme Schwester. Du weisst doch, in meiner Börse ist schon am fünften des Monats immer ultimo. Und schliesslich ... von ’nem ganz alten Herrn nimmt sich eine Belohnung leicht an.“

Brigitte fragte erstaunt: „Woher weisst du denn, dass dieser Paul Harnisch ein alter Herr ist?“

„Ich denke es mir, weil er tappig genug gewesen ist, so’ne grosse Brieftasche überhaupt zu verlieren!“

„Woher ist dir denn bekannt, dass diese gross ist?“ fragte Brigitte etwas lebhafter.

Wieder kam die Antwort zurück: „Ich denke es mir!“ Und nach winziger Pause setzte Bianka hinzu: „Herrenbrieftaschen sind doch meistens oder immer gross!“

Brigitte machte gedehnt: „Ach so ..“, und meinte: „Ich glaubte schon, du hättest vorhin in meiner Handtasche herumgestöbert. Du warst nämlich ’ne ganze Weile nicht im Wohnzimmer.“

„Da habe ich doch Geschirr in die Küche getragen,“ erklärte Bianka, „ .. und ganz ehrlich heraus: Abgesehen von der Belohnung, von der ich hoffentlich auch einen netten Vorteil haben werde, ist mir die Chose höchst schnuppe. Ob ich die olle Brieftasche sehe oder nicht!“

Sie war wütend auf sich. Da wäre sie beinahe wieder reingeschlittert. Ein bisschen patzig fügte sie hinzu: „Reden wir doch nicht weiter von dem Dreck!“

Brigitte musste lachen. „Meine Hochachtung, du bist eine sehr feine junge Dame, — man merkt dir die höhere Bildung sofort an.“

Nun lachten sie beide. Inzwischen hatte sich Bianka ausgekleidet und schlüpfte in ihr Bett, kuschelte sich darin recht behaglich zurecht. Sie begann in summendem Ton, doch Wort für Wort verständlich:

„Im Unkenschloss, da geht es um,

Da schleicht es über die Treppe ..“

„Sei still,“ mahnte Brigitte, „ich möchte endlich einschlafen.“

Bianka flüsterte kichernd: „Das herrliche Machwerk stammt doch von mir, warum soll ich mich nicht daran erfreuen, ich heimliche Poetin. Aber weisst du, ich denke es mir grossartig, wenn ich mal so gegen Mitternacht wach würde, und die Schleppe der Spanierin rauschte draussen durch den Gang, die Schleppe der Princesita, die unserm Urgrossvater davongelaufen sein soll. Hanebüchen steinern sieht er auf dem Bild aus, das in Vatis Stube hängt, und ich glaube, ich wäre auch abgehauen, wenn ich seine Frau gewesen wäre.“

Brigitte schalt ärgerlich: „Jetzt halt doch endlich den Mund, ich muss schlafen! Morgen wartet wieder viel Arbeit auf mich.“

Doch Bianka antwortete vergnügt: „Gestatte wenigstens, dass ich den ersten Vers zu Ende bringe.“ Sie summte weiter, wo sie vorhin aufgehört hatte:

„Die Spanierin kommt in ihr Haus,

Um ein Uhr muss sie wieder hinaus:

In den Park, in den Wald, in die weite Welt,

Irgendwo in ein Grab unterm Himmelszelt.“

Sie sagte plötzlich weich und warm: „Schlaf wohl. Gittalein.“

Die Schwester erwiderte ebenso: „Schlaf auch wohl, Anka.“

* * *

Wenn das nicht geschehen wäre

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