Читать книгу Wirren um Liebe - Anny von Panhuys - Страница 4
1.
ОглавлениеRegina Ißberg erwachte zu früherer Morgenstunde als sonst. Ihr war es, als hätte irgendein lautes Geräusch sie aus dem Schlaf gerissen.
Sie setzte sich im Bett auf und lauschte angespannt hinaus. Und nun hörte sie ganz deutlich etwas, das einem plumpen Fall glich.
Sie befand sich allein in der Wohnung. Die Eltern waren für ein paar Tage nach Klein-Demsdorf zu Verwandten gefahren; sie wollten erst heute nacht zurückkehren, und die Aufwärterin pflegte morgens nie vor sieben Uhr zu kommen. Eben schlug die Standuhr im Wohnzimmer die fünfte Stunde. Doch es war Juni und draußen längst völlig hell.
Durch die nicht fest geschlossenen Läden schoben sich hellgoldene Stäbe, die nicht greifbar und doch fest umrissen waren. Frau Sonne hatte ausgesandt.
Regina Ißberg war kein feiges Mädel, und møt dem Wort „Furcht“ stand sie nicht auf de und du Mit ihren zwanzig Jahren wußte sie, was Sport bedeutete. Im Rudern, Fechten, Turnen, Schwimmen und sogar im Boxen war sie geübt, und ihr schlanker, doch kräftiger und gesunder Körper hätte sich keine kleinliche Schwäche verziehen.
Also aus dem Bett heraus und die Läden aufgestoßen!
Das Licht der hellen, frohen Morgensonne drang jetzt mit aller Macht ein. Regina warf den Bademantel über den blauweißen Schlafanzug, und während sie mit der Rechten glättend über das einfach gescheitelte Haar fuhr, trat sie auf die Diele hinaus.
Von jenseits der Korridortür vernahm sie ganz eigentümliche Laute, die sie nicht recht unterbringen konnte. War es Stöhnen, Grunzen oder gar Schnarchen? Es klang häßlich und mißtönend.
Regina zog nachdenklich die schmalen goldbraunen Haarbögen hoch, die sich wie kleine Brücken über die hellgrauen Augen spannten, und legte ein Ohr an die Spalte der Tür, die nach dem Flur hinausführte. Die befremdenden Laute schienen sich jetzt in ein Stöhnen verwandelt zu haben.
Jedenfalls hielt Regina für nötig, sofort die Flurtür zu öffnen und sich zu überzeugen, was eigentlich in aller Herrgottsfrühe in dem sonst so ruhigen Westendhause los war, in dem es nur drei Wohnungen gab. Im Erdgeschoß wohnte Chemiker Doktor Ißberg, ihr Vater, dem das Haus gehörte, im ersten Stock Frau Lindner, die Witwe eines Arztes, mit ihrem jüngsten Sohn, dem Ingenieur, und den zweiten Stock hatten Gerhards mit ihrer halberwachsenen Tochter inne. Der Mann war ein gutgestellter Versicherungsagent.
Vielleicht war einem der Mieter ein Unfall zugestoßen?
Der Schlüssel drehte sich herum; die Sicherheitskette klirrte leicht, als sie entfernt wurde. Regina drückte die Klinke nieder und erschrak vor dem, was sie sah.
Dicht vor ihrer Flurtür, mit dem Kopf auf der untersten Treppenstufe, lag Dieter Lindner vor ihr, der Student aus dem ersten Stock. Der Hausflur war völlig hell, und in der scharfen Beleuchtung der Morgenfrühe sah das regelmäßige Gesicht des jungen Menschen seltsam fahl und schlaff aus. Seine Hautfarbe spielte ins Graue hinüber.
Unschlüssig, was sie tun sollte, verharrte Regina Ißberg abwartend, als glaube sie, der regungslos Daliegende müsse in der nächsten Sekunde die Augen aufschlagen und ihr erklären, was eigentlich los wäre. Aber er regte sich nicht. Die sonderbaren Töne setzten wieder ein und entpuppten sich als Schnarchen. Auch machte sich ein Geruch von Alkohol deutlich bemerkbar, und Regina begriff mit einemmal, um was es sich hier handelte — um keinen Unfall, sondern um einen Menschen, der zuviel getrunken hatte und einfach umgefallen war vor lauter Alkohol und jetzt vor ihrer Tür lag, ohne eine Ahnung davon zu haben, wo er sich befand.
Pfui Teufel! drängte es sich unwillkürlich über Reginas Lippen. Sie bückte sich und schüttelte den Schlafenden derb an der Schulter. Der schien nichts zu fühlen; er bewegte sich gar nicht, nur das laute Schnarchen ließ vorübergehend nach.
In Reginas Kopf ballten sich die Gedanken wirr zusammen und wurden zu einem Schmerz, den sie spürte — bis dort, wo das kleine pochende Etwas saß, das man Herz nannte.
Dieter Lindner, dem sie sich heimlich zugeneigt, dessen Gruß sie immer wie eine Liebkosung berührt hatte, lag betrunken vor ihr, war so jählings umgerissen worden vom Alkoholteufel, daß ihm nicht mehr Zeit genug geblieben war, an seine Menschenwürde zu denken.
Die Tränen traten ihr in die Augen und ließen für die Dauer von Sekunden alles um sie herum verschwinden, den stillen Hausflur mit den etwas plump gemalten Landschaften an den Wänden, die Treppe und den Mann, der sich so hart gebettet, weil die Treppe, die er vordem oft mit ein paar Sprüngen genommen hatte, heute ein unüberwindliches Hindernis für ihn gewesen war.
Regina schrak zusammen. War nicht eben ganz oben im Hause eine Tür gegangen? Vielleicht würde nun gleich Herr Gerhards die Treppe herunterkommen, der irgendeinen Frühzug benutzen wollte. Heiße Scham überflutete sie bei dem Gedanken, es könne außer ihr noch jemand Dieter Lindner in dem häßlichen Zustand vollständiger Trunkenheit sehen. Auch an seine Mutter dachte sie, die gute liebe Frau, die so stolz auf ihren Jüngsten war. Ihre anderen Kinder waren verheiratet, und sie hatte einmal gesagt, wie sich Regina erinnerte: Wenn mein Dieter heiratet, muß es eine ganz Besondere sein. Er ist so ein Prachtmensch! Und da lag der „Prachtmensch“, sah grau und alt aus und schlief seinen Bombenrausch auf dem Hausflur aus, hatte sich als Kopfkissen die unterste Treppenstufe gewählt.
Regina hatte noch den Nachhall einer im zweiten Stock einschnappenden Tür im Ohr, und alles, was sie dachte, schloß sich so rasend schnell dem an, daß sie schon einen Entschluß faßte, ehe sie von oben noch einen Schritt vernahm. Sie wollte nicht, daß jemand Dieter Lindner in seinem jetzigen Zustand sähe. Es war genug, daß für sie ein Ideal ins Wanken geraten war. Niemand durfte über Dieter Lindner lachen oder spotten. Das Recht dazu mochte sie keinem zugestehen. Sie wußte auch sofort, was sie tun mußte, um es zu verhüten.
Sie hielt sich nicht eine einzige Sekunde mehr mit Überlegen auf, sondern tat, was ihr geboten erschien.
Regina Ißberg war kräftig, aber Dieter Lindner konnte sie natürlich nicht tragen. Sie könnte ihn nur hineinziehen in die Wohnung, ruckweise, Zentimeter um Zentimeter, das müßte gehen, wenn sie sich anstrengte.
Sie bückte sich, packte den vor ihr Liegenden unter den Armen und schleifte ihn, der nur ein paar unverständliche Laute von sich gab, mit kurzen Rucken, wie einen schweren Koffer, hinein in die Diele. Dann holte sie den Hut, der neben Dieter Lindner gelegen hatte, und drückte die Wohnungstür leise ins Schloß. Ihr Herz pochte heftig infolge des Kraftaufwandes, aber ihr Vorhaben war gelungen, Dieter Lindner würde keinem anderen Hausbewohner mehr das häßliche Schauspiel bieten, das er ihr geboten hatte, und darauf allein kam es an.
Sie reckte sich; der Rücken schmerzte ihr, aber was machte das schon?
Sie wandte sich von der Tür ab und blickte gerade hinein in Dieter Lindners weitaufgesperrte Augen, diese Augen, die ihr immer so besonders gefallen in ihrem tiefen satten Blau. Jetzt blickten sie etwas stier; aber selbst da blieben sie schön.
Dieter Lindner saß jetzt auf dem Fußboden, und sein Gesichtsausdruck war unbeschreiblich. Er starrte Regina unverwandt an und mühte sich krampfhaft, herauszufinden, wo er sich befand und wie Regina Ißberg zu ihm gekommen sein könnte. Ein Büschel seiner blonden Haare hing ihm strähnig in die Stirn.
Er wollte sprechen, wahrscheinlich eine Frage tun, aber Regina hörte jetzt die Schritte, vor denen sie sich vorhin gefürchtet, die Treppe herunterkommen und bedeutete ihm, zu schweigen. Verwundert schüttelte er den Kopf, hielt aber den Mund, bis die Person draußen vorbei war.
Etwas heiser fragte er: „Wie komme ich denn hierher? Mir scheint, ich befinde mich in Ihrer Wohnung.“
Er erhob sich ungeschickt und versuchte krampfhaft, Haltung zu bewahren, aber ihm war verflixt flau zumute. Die Diele mit den hellen Eichenmöbeln schien sich mitsamt der hübschen Regina Ißberg um ihn zu drehen wie ein Karussell.
Er brummte: „Stehen Sie doch endlich mal still, wenn ich mit Ihnen spreche!“
Hellauf lachte das Mädel. War es Übermut, Spott, Zorn oder alles zusammen? Es genügte jedenfalls, ihn ziemlich stark zu ernüchtern, erreichte ungefähr die gleiche Wirkung, als hätte man ihm eine Kanne eiskaltes Wasser über den wirren Kopf geschüttet.
Er stand plötzlich viel gerader, fuhr sich mit der Rechten über das Haar, das sich, durch tägliches Bürsten an eine bestimmte Lage gewöhnt, sofort fügte.
„Warum lachen Sie mich aus?“ fuhr er Regina an.
Sie warnte: „Seien Sie vorsichtig und sprechen Sie nicht zu laut, es könnte draußen gehört werden. Und damit Sie Bescheid wissen, ich habe Sie hier zu uns hereingeschleift, weil Sie draußen schlafend auf dem Flur vor unserer Tür lagen. Ich wollte nicht, daß irgendwer Sie in dem abscheulichen Zustand sähe.“
„Sie wollten das nicht?“ wiederholte er und schüttelte verständnislos den Kopf. „Es kann Ihnen doch gleichgültig sein, in welchem Zustand jemand mich sieht.“
Er wollte zur Tür. Da entdeckte sie, daß er neben dem rechten Ohr blutete. Sie stellte sich ihm in den Weg.
„So, wie Sie jetzt aussehen, sollten Sie nicht hinauf zu Ihrer Mutter gehen. Waschen Sie sich lieber erst. Sie bluten an einem Ohr und sehen außerdem so aus, daß Ihre Mutter, falls sie schon auf sein sollte, sehr erschrecken würde. Das müssen Sie ihr ersparen. Gehen Sie in unsere Badestube und machen Sie sich dort zurecht. Unsere Aufwärterin kommt erst gegen sieben Uhr. Jetzt befindet sich niemand außer uns beiden in der Wohnung. Meine Eltern sind verreist, also kann keiner von Ihrer jetzigen Verfassung etwas erfahren.“
Er machte eine Bewegung, als wollte er sich auflehnen gegen ihre nüchterne, ruhige Anordnung, aber er biß sich auf die Lippen und schwieg. Da drüben der schmale Gang führte in die Badestube, die Wohnungseinteilung war ja im ersten Stock bei seiner Mutter die gleiche wie hier. Ohne noch eine Silbe zu äußern, setzte er sich in Bewegung, und Regina hörte gleich darauf, wie der Riegel vor die Tür der Badestube geschoben wurde.
Sie kehrte in ihr Schlafzimmer zurück und trat vor den Spiegel. Erst jetzt wurde sie sich wieder dessen bewußt, daß sie Dieter Lindner im Bademantel und mit offenen Zöpfen gegenübergestanden hatte. Trotzdem nickte sie sich zufrieden zu. Ganz ordentlich sah sie aus, aber nun wollte sie sich doch lieber rasch waschen und anziehen.
Das tat sie denn auch, und zehn Minuten später war sie tadellos angekleidet, trug nun einen einfachen dunkelgrauen Rock und eine weiße dünne Bluse mit viereckigem Ausschnitt. Ein goldenes Kettchen mit einem Glückskleeblatt aus grünem Email lag um den schlanken Hals und ihr glattgescheiteltes Braunhaar war im Nacken zum Knoten zusammengenommen. Ein rosiges, frisches und kräftiges Jungmädel war sie. Sie warf nur einen sehr flüchtigen Blick in den Spiegel und ging dann hinüber ins Wohnzimmer, dessen Tür weit hinter sich offen lassend, so daß man sie von der Diele aus sehen konnte, und wartete, bis sich durch den schmalen Gang von der Badestube her Schritte dem Wohnzimmer näherten.
Dieter Lindner trat bei ihr ein.
Er sah sehr sauber aus und duftete nicht mehr nach Alkohol. Sein Kragen war freilich noch verknittert, die Augen waren verschwommen und der Haltung mangelte die natürliche Straffheit, die Regina immer so besonders an Dieter Lindner gefallen hatte.
„Ich danke Ihnen für Ihre Güte, Fräulein Ißberg, und bitte um Verzeihung für die Umstände, die ich Ihnen bereitet habe“, sagte er.
Es klang kalt und gleichgültig, als hätte er sich den Satz, während er sich im Badezimmer befand, immer wieder vorgesprochen, bis er ihn auswendig konnte.
Ein bißchen mehr Freundlichkeit und Wärme hätte ich doch wohl verdient, dachte Regina. Sie sah ihn an.
„Sie brauchen mir gar nicht zu danken. Mir lag eben daran, meines Vaters Haus sauber zu halten. Wenn jemand Sie so, wie Sie draußen lagen, gefunden, hätte man vielleicht gesagt: Schöne Mieter hat Doktor Ißberg.“
Nicht im mindesten hatte sie gedacht, was sie eben behauptet, aber sie hatte sich geärgert über seinen allzu gleichgültigen Dank.
Er aber war schon nüchtern genug, um sich gekränkt zu fühlen. Mit einer sehr förmlichen Verbeugung sagte er:
„Ich darf aus demselben Grund — ich meine, weil Sie Ihres Vaters Haus sauber zu halten wünschen — wohl auch hoffen, daß Sie das Abenteuer von heute früh gegen jedermann verschweigen werden.“
Sie neigte den Kopf.
„Damit dürfen Sie natürlich rechnen, ich verspreche es Ihnen fest; selbst meine Eltern sollen nichts davon erfahren.“
Den Hut in der Hand, erwiderte er: „Ich danke Ihnen für das Versprechen und will jetzt gehen.“ Er grüßte, und sie begleitete ihn bis zur Tür.
Da — gerade, als sie diese öffnete und oeide zusammen im Türrahmen standen, sahen sie sich Frau Gerhard aus dem zweiten Stock gegenüber, die soeben fortgegangen war und eben das Haus wieder betreten hatte. Sie pflegte seit kurzem täglich mit der Schäferhündin Diana einen kurzen Frühausgang zu machen.
Regina war, als müsse sie sich vor den immer etwas dreisten Augen Frau Else Gerhards in ein Mauseloch verkriechen.
Sie wurde rot bis zu den Schläfen — vor diesen Augen und vor dem niederträchtigen Lächeln, das um den schmalen Frauenmund lag.
Frau Gerhard grüßte und meinte: „Oh, sind Ihre Eltern schon von der Reise zurück, Fräulein Regina?“
Sie besann sich keinen Augenblick. Heute würden Vater und Mutter ja wiederkommen, aber erst nach Mitternacht. Mochte die so abscheulich Lächelnde ruhig glauben, sie wären schon hier.
Sie nickte also: „Gerade sind sie angekommen, und Herr Lindner, der schon heute morgen zum Baden gegangen war, kam gerade zurecht, um den Koffer vom Auto reintragen zu helfen.“
Wie auf ein scharfes Kommando versch wand das Lächeln, das Regina so sehr beleidigte, und freundlich sagte der schmallippige Mund: „Wir scheinen das Haus der Frühaufsteher zu sein. Ihre Frau Mutter, Herr Lindner, sah ich von der Straße aus auch schon zum Fenster hinausschauen.“
Dieter Lindner nahm mit ein paar Sätzen die Treppe. Er war jetzt vollkommen nüchtern und begriff, in welche peinliche Lage Regina Ißberg durch ihn hätte kommen können. Zum Glück renkte sich, wie es schien, noch alles ein.
Frau Gerhard nickte Regina zu und schnalzte mit der Zunge: „Komm, Diana! Komm, mein gutes Hundchen!“
Regina schloß die Wohnungstür und blieb in der Diele stehen mit fest verschlungenen Händen.
Die unvermutete Begegnung war noch leidlich gut abgegangen, aber seit dem abscheulichen Lächeln Frau Gerhards war es, als läge ein Alpdruck auf ihrer Brust.
Der Tag hatte nicht gut begonnen.