Читать книгу Das Mädchen aus Mexiko - Anny von Panhuys - Страница 5
2
ОглавлениеDie verwitwete Frau Geheimrat Helene Kornelius sass wie vernichtet in ihrem Armstuhl am Fenster. Der Briefträger hatte vorhin einen Brief aus Mexiko gebracht von ihrem Bruder Franz. Er kündigte ihr darin ganz unvermittelt den Besuch seiner einzigen Tochter Isabel an, die schon kurz nach diesem Brief eintreffen sollte.
Sie las den Brief immer wieder, schob mit verzweifelter Geste ihre Hornbrille auf die Stirn und rief überlaut: „Tine, Tiiinee! Tiiiiiineee!“
Tine Mottebusch schlief wohl wieder. Nach dem Frühstück schlief sie meistens ein halbes Stündchen in der Küche ein.
„Tiiinee!“ Gell klang es.
In der Tür erschien die alte Köchin und Vertraute der Frau Geheimrat.
Tine war schon zu ihr gekommen, als sie heiratete, dann später ein Jahr von ihr fort gewesen, weil sie selbst heiratete, und als ihr Mann, ein notorischer Säufer, starb, zog sie wieder zu ihr und war ihr nun seit achtundzwanzig Jahren treu geblieben.
Wenn Frau Geheimrat Kornelius ärgerlich war, redete sie Tine nicht bei ihrem Vornamen an. „Frau Mottebusch, Sie haben wohl wieder ein Verdauungsnickerchen gemacht? Natürlich, da kann ich mir die Kehle ausschreien, aber Sie kommen nicht, und ich weiss vor Angst nicht, was ich anfangen soll.“
Tine rieb sich die roten Hände, ihr Vollmondgesicht nahm einen tragischen Ausdruck an. „Ach, du mein liebes Himmelchen, haben Sie wieder Magendrücken? Na, warten Sie man ich koche Baldriantee, oder wollen Sie lieber Pfefferminztee? Und zuerst hole ich ein Wacholderschnäpschen.“
Die Geheimrätin machte eine unmutige Bewegung. „Ach was, damit können Sie mir nicht helfen. Das kommt aber auch so plötzlich —“ Sie schüttelte den Kopf.
Tine war schon an der Tür. „Nur nicht gleich verzweifeln, Frau Geheimrat! Sie wissen, meine Hausmittel helfen für alles. Und plötzlich kommt das bei Ihnen doch immer.“ Schon schloss sich die Tür hinter ihr.
„Tine! Tiiinee! Tiiiiiineee?“ zeterte es der Enteilenden nach.
Doch Tine dachte nicht daran umzukehren. Erst wollte sie das Wasser für den Tee aufsetzen und dann den Wacholderschnaps einschenken. Wenn die Geheimrätin Magendrücken hatte, war sie immer so aufgeregt, da musste man sie ruhig ein bisschen zetern lassen.
„Tiinee!“ Die brave Dicke stiess einen Schrei aus, denn ihre Herrin stand vor ihr, fächelte ihr mit einem Blatt Papier vor der Nase herum und schrie sie jetzt an: „Was gucken Sie denn so, Frau Mottebusch? Wollen Sie nun endlich so gut sein und zuhören, wenn ich Ihnen was mitzuteilen habe?“
„Ich weiss ja, Sie haben Magendrücken, Frau Geheimrat, aber heute stellen Sie sich ganz toll an. Tut’s denn so weh?“ erkundigte sich Tine teilnehmend.
„Ich habe einen Brief bekommen, der Briefträger gab ihn mir vorhin zum Fenster hinein,“ japste Helene Kornelius. „Mein Bruder will mir seine Tochter schicken.“
Tine Mottebusch fiel beinahe die Blechbüchse mit Pfefferminztee zu Boden. „Wie? Was, wer soll kommen? Die Tochter von Ihrem Bruder in Mexiko?“
Die Geheimrätin neigte nur den Kopf. Sie war selbst noch ganz matt von der Neuigkeit.
Tine Mottebusch sagte beruhigend: „Aber, Frau Geheimrat, was sollen wir hier in unserem stillen Haus mit so was? Schreiben Sie doch ab, dann ist’s ja wieder gut.“
Die andere stöhnte: „Wenn das noch ginge! Ach, ich bin ja nicht so, ich würde mich ja vielleicht freuen, das einzige Kind meines Bruders ein Weilchen bei mir zu haben, aber so plötzlich, so plötzlich! Man muss sich doch vorbereiten können, und mein Bruder schreibt, sie ist schon unterwegs.“
Tine erstarrte zur Salzsäule. Nach einem Weilchen begann sie wieder lebendig zu werden. „Vielleicht ist sie doch noch drüben in dem wilden Land. Ich habe neulich gelesen, mit Radio kann man weit über die Länder wegreden. Wir haben doch einen Radioapparat, rufen Sie doch mal Ihre Meinung da rein, Frau Geheimrat.“
„Ach, Tine, Sie pappeln ja Blech,“ ärgerlich sagte es Helene Kornelius. „Ich meine, wir können jetzt gar nichts tun, als eben ein Zimmer zurechtmachen und abwarten, bis sie kommt. Ich habe nur ein einziges Bild von ihr, da war sie erst fünf Jahre, und es ist darauf nicht viel mehr zu sehen als ein hässlicher, kleiner Balg.“
Tine wiegte den Kopf hin und her und strich sich die starren, graugesprenkelten Haare zurück. „Ihr Bruder hat doch eine von drüben geheiratet. Wollen doch gleich einmal in Ihrem Konfektionslexikon nachgucken, was in Mexiko für ’ne Rasse lebt, Frau Geheimrat.“
Frau Helene verbesserte: „Es heisst Konversationslexikon!“
Tine machte ein gekränktes Gesicht. „Ich habe mich bloss versprochen, ich meinte ja auch Konservationslexikon!“
Helene Kornelius seufzte nur. Es hatte keinen Zweck. Tine sprach leidlich hochdeutsch, doch mit den Fremdwörtern stand sie immer auf gespanntem Fuss, konnte es aber nicht lassen, sie zu benützen.
Eine plötzliche Angst war in Frau Helene erwacht. Sie wusste von ihrem Bruder, seine Frau war eine Mexikanerin gewesen. Aber das sagte gar nichts. Tines Schrei nach dem Lexikon hatte die Angst in ihr erweckt. Das Bild der kleinen Isabel war ziemlich dunkel, besonders das Gesicht. Sie hatte bis jetzt gedacht, es wäre nur eine wenig gute Photographie, weil die Züge so sehr im Schatten lagen. Jetzt aber verspürte sie Herzklopfen. Die Schatten auf dem Gesicht schienen ihr mit einem Male verdächtig. In Mexiko gab es Indianer! Vielleicht war die Frau von Franz eine Indianerin gewesen, und seine Tochter hatte rotbraune Haut!
Sie wankte. „Tine, wenn sie kupferne Haut hätte!“
Tine war verblüfft. „Kupferne Haut? Aber, Frau Geheimrat, das gibt es nicht, Haut ist Haut, Menschen mit Kupferhaut gibt es nicht.“
Helene Kornelius zitterte. „Frau Mottebusch, Sie sind zu dumm! Ich meine ja nur, vielleicht hat meine Nichte Indianerhaut, die sieht kupferfarben aus!“
„Ach, du Grundgütiger?“ schrie Tine auf, „das wäre ja furchtbar. Die Indianer haben hohe Federbüsche im Haar und beinahe nichts an. Nee, nee, das wäre schrecklich, dann müsste man sich ja hier vor jedem anständigen Menschen die Augen aus dem Kopfe schämen, wenn wir eine solche Nichte hätten!“
Beide sahen sich entsetzt an, und dann rannte Tine davon, dass ihr steif geplätteter Kattunrock rauschte, als gehe der Wind draussen durch die Gartenbäume.
Was hatte sie nur vor? Kopfschüttelnd folgte ihr die ebenfalls ziemlich mollige Geheimrätin. Sie fand Tine vor dem Bücherschrank, dem sie eben einen Band des Konversationslexikons entnahm. Sie legte ihn auf den nahen Tisch und begann hastig darin zu blättern.
Helene Kornelius sah etwas überlegen aus, aber im Grunde fand sie Tines Gedanken, sich zu vergewissern, ganz gut. Sie selbst wusste ja so allerlei über das einstige Aztekenland, aber genau besehen doch sehr wenig. Ihr Briefwechsel mit dem Bruder war nie besonders lebhaft gewesen. Sie hatte ihm anfangs sehr gezürnt, dass er um eines berechnenden Mädchens willen die Heimat verliess und das Elterngut verkaufte, dann hatte sie ihm gezürnt, dass er ein „Zirkusmensch“ geworden war.
„Zirkusmensch“ war für sie etwas, was sich nicht in der Sonne der Gutbürgerlichkeit zeigen durfte, ohne dass jedermann eine Menge Flecke an ihm entdeckt hätte. Sie hatte niemals daran gedacht, die Frau ihres Bruders könne etwas anderes als eine Kreolin gewesen sein, eine in Mexiko geborene Weisse spanischer Abkunft. Aber nun war die Angst da, ob es nicht doch etwas anders sein könnte
Tine schaute sich nach ihrer Herrin um, neigte den Kopf dann wieder über das Buch, und mit dem Zeigefinger den Zeilen nachgehend, las sie: „Siebenunddreissig Prozent Indianer, vierundvierzig Prozent Mischlinge —“ Sie richtete sich aus ihrer gebeugten Haltung auf. „Was sind denn das: ‚Mischlinge?“‘
„Dort in Mexiko sind Mischlinge die Kinder von Weissen und Indianerinnen und heissen Mestizen,“ erklärte Helene Kornelius.
Dabei lief ihr plötzlich ein kalter Schauer durch die Glieder. Dass sie erst heute darauf kam. Isabel, ihre Nichte, war sicher eine Mestizin. Sie atmete heftig, und Tine begriff, was in ihr vorging.
„Ja, Frau Geheimrat, das wird wohl so sein.“
„Wir müssen eben abwarten, was da in unser Haus schneien wird, und nun machen Sie oben die Fremdenstube zurecht und daneben das Balkonzimmer, darin wird sich meine Nichte hoffentlich wohl fühlen!“
Eine matte Zärtlichkeit strich über das Herz der Frau Geheimrat für die unbekannte Nichte.
Tine drückte kräftig die rechte, flache Hand auf die Brust. „Frau Geheimrat, nehmen Sie mir’s nicht übel, aber es ist doch wirklich genierlich, wenn hier bei uns ’ne Indianerin auftaucht, meine ich, und wir sollten lieber nachdenken, was wir anfangen müssen, damit es keine zu grosse Blamage gibt.“
Helene Kornelius’ meist sehr ruhige Augen blitzten. Das arme, dunkelhäutige Geschöpf, das ihr der Bruder sandte, tat ihr leid. Ihr Mitleid gewann die Oberhand. „Gehen Sie an Ihre Arbeit, Frau Mottebusch!“ befahl sie.
Tine stemmte die Hände gegen die Hüften, ihre derben Arme bildeten herausfordernd gebogene Henkel. „Ich mische mich nicht mehr ein. Sehen Sie zu, wie Sie mit der wüsten Geschichte allein fertig werden. Meinetwegen kann es hier von Mestizen wimmeln!“
Bums — krach! Die Tür flog zu, und Helene Kornelius blickte ihrer Dienerin etwas verdutzt nach. So aufgeregt wie eben hatte sie Tine Mottebusch noch nie gesehen.