Читать книгу Das Mädchen aus Mexiko - Anny von Panhuys - Страница 8
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ОглавлениеAm nächsten Morgen, nachdem die Tante ihren Brunnen getrunken und sich mit einem Buche auf dem Balkon niedergelassen hatte, machte sich Isabel unter dem Vorwand, Schreibpapier einkaufen zu wollen, davon.
Auf Umwegen erreichte sie den Standplatz des Zirkus Gehrke. Sie wurde jubelnd von Vater, Mutter und Kind begrüsst. Fragen stürmten auf sie ein. Sie lachte nur und freute sich, dass man ihr so viel auf den Sammelteller geworfen.
Mariechen lag wieder auf dem Bett, sie sagte schüchtern: „Vater meint, wenn Sie noch ein paarmal bei uns auftreten würden, wären wir aus der Not.“
Ihre Mutter hielt ihr die Hand auf den Mund und ward rot. „Verzeihen Sie, Fräulein, man redet das so hin.“
Max Gehrke drehte an seinen Rockknöpfen. „Ach, wir wollen doch ehrlich sein! Wirklich, Fräulein, wenn es Ihnen möglich wäre, heute und morgen abend noch mitzuarbeiten, dann wäre das für uns eine sehr, sehr grosse Hilfe. Es fehlt uns am Notwendigsten!“
Isabel hob leicht die Hand. „Ich arbeiten ’eute und morgen mit. Wenn Sie wollen, dann ich reite tambien. Ich muss aber erst weissen, was das Pferd kann.“
Mann und Frau tauschten einen zufriedenen Blick. „Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen ‚Schneewittchen‘, so heisst nämlich unser Schimmel!“
Isabel setzte ihren Hut ab und bat Kathi Gehrke um einen einfachen, alten Mantel. Sie durfte draussen nicht auffallen, es konnten Leute vorübergehen, und man sollte glauben, sie gehöre zum Zirkus.
Die Frau begriff und hing Isabel einen von Sonne und Regen fahlen Mantel um.
Draussen standen ein paar Kinder herum, von weitem tauchte ein Herr auf.
Isabel streichelte das Pferd, klopfte seinen Hals und sass plötzlich oben, ohne dass das Ehepaar begriff, wie sie da hinaufgekommen war. Sie sass auf dem ungesattelten Pferde und glitt wieder herunter, als sei das die einfachste Sache der Welt.
„Ich will ‚Schneewittchen‘ satteln!“ rief Gehrke.
Ein junger Mann, der als Kutscher und Schlangenmensch das einzige Mitglied des Zirkus war, das nicht zur Familie gehörte, starrte Isabel verwundert an und half das Pferd satteln.
Isabel blickte sich um. Die paar Kinder als Zuschauer rechneten nicht, die Gestalt des Herrn aus der Landstrasse war verschwunden, er war wohl in den Waldweg eingebogen. Sie legte den Mantel auf eine Bank und bestieg das Pferd, das innerhalb der Bahn sofort in die gewohnte Gangart verfiel.
Isabel wäre ein bisschen mehr Temperament lieber gewesen, aber es war schon schön, wieder einmal auf einem Pferderücken zu sitzen. Mit „Schneewittchen“ wurde sie bald einig, das gute Tier dachte nicht daran, ihr irgendwelche Schwierigkeiten zu bereiten.
Am Waldesrand aber, hinter einer dicken Buche, stand der Gutsbesitzer Lothar von Brandt und sah dem Schauspiel zu, das sie ihm bot.
Er war erst gestern abend angekommen, um seine verheiratete Schwester, die Frau des berühmten Bildhauers Potter, hier zu treffen, die in Berlin wohnte und mit einer Freundin in Soden zur Kur weilte. Diese Freundin kannte Lothar von Brandt schon von Berlin her, und er wusste, sein Schwesterchen dachte ernstlich an eine Heirat zwischen ihm und der hübschen, koketten Gisela Rehren.
Abgeneigt war er dem Plane nicht. Gisela Rehren war aus sehr guter Familie, reich, hübsch und anscheinend sehr in ihn verliebt! Also weshalb nicht? Er liebte sie zwar nicht, aber sie gefiel ihm, und zur Liebe besass er überhaupt keine Befähigung, sagte er sich, sonst wäre er nicht dreissig geworden, ohne bisher das geringste davon empfunden zu haben.
Um zehn Uhr wollte er sich mit seiner Schwester Greta und ihrer Freundin treffen, um eine kleine, gemeinsame Promenade vor Tisch zu machen. Aber ihm war die Zeit bis dahin zu lang geworden.
Er war einer der reichsten Gutsbesitzer Rheinhessens und war es gewöhnt, schon des Morgens in aller Herrgottsfrühe hinauszuwandern oder zu reiten. Es hatte ihn nicht im Hotel gehalten.
Er stand jetzt hinter dem Baum und machte seine Beobachtungen. Er fand, die Kleine im weissen Kleid, die dort anscheinend ihre Zirkusprobe abhielt, war reizend. So ein entzückendes Mädelchen hatte er noch nie gesehen, dünkte ihm. Und reiten konnte das niedliche Geschöpfchen auch. Allerhand Achtung! Er verstand doch etwas davon!
Gisela Rehren konnte nicht reiten, das störte ihn an ihr.
Isabel liess das Pferd galoppieren, sprang ab, stand wieder auf seinem Rücken, und dann machte sie plötzlich halt, wickelte sich in den hässlichen, alten Mantel und ging zum Wohnwagen.
Sie hatte beim Herumjagen vom Pferd aus bemerkt, dass da eine hohe Männergestalt hinter einem Baum am Waldesrande stand und ihr zusah.
Nun sass sie wieder mit dem Ehepaar am Bett des Kindes. „Ich will ’eute und morgen bei Sie arbeiten, wie ich ’abe versprecht, aber Sie werden keiner Mensch sagen, wer ich bin.“
„Das wissen wir ja auch gar nicht,“ unterbrach sie Kathi Gehrke.
„Sie brauchen das auch nicht wissen!“ lachte Isabel. „Wenn aber einmal würde jemand fragen, wer ich bin, Ihre Mann muss sagen: Meine ‚Mujer‘ ’at alles gemacht, mein Gemahl! Es wird keiner Mensch nach mir fragen, ich denke das. Aber ich will, Sie müssen mir das versprechen.“
Das Ehepaar gelobte es — ebenso Mariechen.
Am Abend, nachdem Helene Kornelius zur Ruhe gegangen war, schlich sich Isabel wieder fort.
Es gingen so viele Leute bis gegen elf Uhr draussen spazieren, so dass ihr Ausgang nicht auffiel.
Schon von weitem hörte sie die Drehorgel spielen, hörte den Clown seine Spässe machen.
Kathi Gehrke war geschminkt und kostümiert. „Ich fürchtete, Sie würden vielleicht nicht kommen.“ Sie hatte ein Kostüm gewaschen und etwas zurechtgemacht für Isabels Reitnummer.
Die Tür des Wohnwagens war dem Walde zugewandt. Es war noch nicht völlig dunkel, aber niemand hatte die schmale, kleine Isabel Herbert dort hineinhuschen sehen.
Heute hatte sie sich stark gepudert, ein ganz klein wenig veränderte das doch, meinte sie.
Der Schimmel stand bereit, die Drehorgel begann einen Marsch, und — eins, zwei, drei — sass Isabel auf dem braven Reittier.
Lothar von Brandt hatte seine Schwester und Gisela Rehren hierher begleiten müssen. Die beiden hatten heute bei Tisch gehört, es sei ein kleiner Wanderzirkus im Ort, und die Grossstädterinnen fanden es sehr belustigend, sich so etwas einmal anzusehen.
Lothar von Brandt wäre lieber allein hergegangen, um die entzückende, niedliche Reiterin noch einmal zu sehen.
Jetzt sprengte sie um die Bahn, und Lothar von Brandt erschien das blonde Mädel mit dem Gesichtchen von fremartigem Typus und den schwarzen Augen jetzt noch reizvoller als am Vormittag.
Und zu reiten verstand die Kleine! Wundervoll ritt sie, sie konnte was!
Wie mochte die nur hierher verschlagen worden sein — in diesen Wanderzirkus allerniedrigsten Ranges? Weiss der Himmel, jeder gute Zirkus hätte ihr eine Stellung geboten. Ordentlich leid tat sie ihm.
Wahrscheinlich hatte sie noch niemand darauf aufmerksam gemacht, dass sie anderswo mehr Geld verdienen konnte als hier. Schade um das Persönchen! Ihr Kostüm war ärmlich, und der Mantel heute vormittag, den sie nach dem Reiten umgehängt hatte, war nicht wert, dass sie die hübschen Füsschen daran abputzte.
Lothar von Brandt musste über sich selbst lächeln. Was ging ihn der Mantel und das Kostüm der kleinen Artistin an?
Er wandte sich nach rechts, wollte etwas zu Gisela Rehren sagen. Ihr sehr gradliniges Gesicht trug einen verächtlichen Ausdruck, der ihm nicht gefiel, und den er diesen klaren Zügen gar nicht zugetraut hätte.
Sie fühlte seinen Blick. „Das ist eine unangenehme Person, diese Reiterin, nicht wahr, Herr von Brandt?“
Lothar erwiderte leise: „Ich finde, das Persönchen ist zum Malen reizvoll!“ Er sagte es harmlos und überzeugt.
Gisela Rehren hatte Mühe, ihren Ärger zu unterdrücken. Sie hatte genau beobachtet, dass Lothar von Brandt noch keinen Blick von der Reiterin verwandt hatte. Sie hatte es sich aber in den Kopf gesetzt, die Frau Lothars zu werden, und fand es beleidigend, dass er in ihrer Gegenwart überhaupt bemerkte, ob so ein Mädel hübsch war oder nicht.
Sie neigte sich ihrer Freundin zu, Lothars Schwester, Greta Potter. „Mir gefällt die Reiterin gar nicht, auch mit ihrer Kunst ist’s nicht weit her.“
„O, sie ist doch ein ganz hübsches Wesen,“ gab Greta zurück, „und reiten kann sie famos!“
Gisela ärgerte sich abermals. Sie guckte gar nicht mehr hin, was in der Manege vorging, sondern sah die Zuschauer an, und manchmal beobachtete sie heimlich Lothar von Brandt, der kein Auge von der Reiterin liess. Das war doch merkwürdig.
Isabel tanzte auf dem Seil, sie machte oben am Reck allerlei kühne Dinge und ahnte gar nicht, dass sie in zwei sonst kühle, graue Männeraugen warmen Glanz gezwungen hatte.
Heute waren viel mehr Zuschauer als gestern hier, und als Isabel, in den alten, graufleckigen Mantel Kathi Gehrkes gehüllt, einsammeln ging, füllte sich der Teller viel mehr als gestern.
Sie kam auch zu Lothar von Brandt. Er sah die kleine Artistin von nahe. Blutjung war sie. Ihre schwarzen Augen strahlten ihn an, ihr Dank klang leise. Der strahlende Blick hatte sich aber bis in das Herz des Mannes gesenkt und blieb darin.
Isabel war längst weitergegangen, da starrte Lothar von Brandt noch immer dorthin, wo sich das reizende Köpfchen geneigt und wo ihn die herrlichsten Augen angelacht hatten.
Gisela Rehren schob ihr braunes Gelock zurecht. Sie hätte ja blind sein müssen, um nicht zu bemerken, dass diese magere, kinderjunge und kinderkleine Person dem kalten, zurückhaltenden Lothar von Brandt den Kopf verdreht hatte. Der sah und hörte ja nichts mehr.
Dieses Zirkusmädel bedeutete eine Gefahr für ihre Hoffnungen und Pläne. Man konnte nie wissen, welche Folgen der heutige Abend herbeiführte! Man hatte in dieser Beziehung schon die merkwürdigsten Dinge gehört!
Ein Gedanke durchzuckte sie. Sie sagte zu Greta Potter: „Ich bin schrecklich müde und habe etwas Kopfschmerz, die scheussliche Drehorgel macht mich ausserdem nervös. — Ich gehe nach Hause — aber ich bitte dich, lass dich nicht deshalb stören!“
Greta nickte ihr zu. „Ich möchte bis zum Schluss bleiben.“
Lothar von Brandt wandte sich ihr zu. „Ich begleite Sie gern heim, Fräulein Rehren, und hole dann Greta ab.“
Sie dankte. „Bitte, bleiben Sie nur! Es ist heute abend sehr belebt, und wir wohnen ja so nahe.“
Er drängte ihr seine Galanterie nicht auf, und daran merkte sie erst recht, dass ihm schon mehr daran lag, dieses Mädel mit den frechen Augen zu sehen, als ein Viertelstündchen mit ihr durch den dämmerigen, warmen Sommerabend zu gehen.
Sie gab Greta die Hand, lächelte deren Bruder, als sie ihm ebenfalls die Hand gab, freundlich zu, und dann sah Lothar ihre mittelgrosse, ein wenig zur Fülle neigende Gestalt zwischen vielen Umherstehenden untertauchen.
Er wartete sehnsüchtig auf das nächste Erscheinen der kleinen Schönheit und achtete gar nicht darauf, wie sich inzwischen der Schlangenmensch in grellrotem Trikot mühte, seine Gelenkigkeit zu zeigen.