Читать книгу Die geheimnisvolle Besucherin - Anny von Panhuys - Страница 5
2.
ОглавлениеFrau Sabine Bauer hörte, wie ihr „möbliertes Fräulein“ den Schlüssel ins Schloss der Korridortür steckte, und ging ihr ein paar Schritte entgegen. Die Diele war nur klein, aber behaglich und freundlich mit hellen Korbmöbeln ausgestattet, bunt geblümte Kissen und ein netter buntgewirkter Teppich gaben dem Vorraum eine frohe Note.
Frau Bauer war das Urbild einer angenehmen und gemütlichen Vermieterin. Sie war nur klein, ziemlich mollig, doch blitzsauber und meist gut gelaunt. Einen Fehler besass sie. Dieser Fehler war ihre Neigung zum Übersinnlichen. Für alles, was sich ihr nicht gleich ganz klar und scharf umrissen zeigte, half sie sich mit Erklärungen, die nichts mehr mit greifbarer Wirklichkeit zu tun hatten.
Frau Bauers gutmütig rundes Gesicht mit den drolligen Grübchen in den gutgepolsterten Wangen blickte der Eintretenden mit einer gewissen Ungeduld entgegen, wie jemand, der etwas auf dem Herzen hat und es nicht schnell genug los werden kann.
Karola Michael drückte die Korridortür hinter sich ins Schloss und sah sich ihrer Wirtin gegenüber. Sie grüsste die Frau sehr freundlich, die aber erwiderte den Gruss nur hastig, begann sofort mit merklicher Erregung: „Heute hat jemand nach Ihnen gefragt, Fräulein Michael. Eine Dame, eine alte Dame! Aber nein“, berichtete sie, „alt, was man wirklich alt nennen kann, war sie gar nicht. Möglich, dass sie es doch war, ich weiss es nicht recht. Sie hatte etwas Zeitloses, durch ihre Kleidung. Sie trug Trauer. Nein, es sollte wahrscheinlich keine Trauerkleidung sein, bloss alles, was sie anhatte, war tiefschwarz. Und deshalb wirkte es, als ob sie in Trauer wäre. Ihre Stimme war sehr merkwürdig, gar keinen Klang hatte sie, wie Stimmen ihn haben müssen —“
Karola Michael konnte ein Lachen nicht mehr zurückhalten.
„Liebe Frau Bauer, das scheint tatsächlich ein etwas spukhafter Besuch gewesen zu sein, der mich heute während meiner Abwesenheit beehrte. Ich habe schon von Ihrer Erzählung eine Gänsehaut bekommen.“
Frau Bauer lachte auch, aber es war kein leichtes, freies Lachen, das aus dem Herzen kam.
„Eine Gänsehaut habe ich nun gerade nicht gekriegt, Fräulein Michael, doch wenn ich offen sein soll, ein bisschen sonderbar, ich meine gruselig, ist mir zumute gewesen in der Nähe der Frau. Ich kann es nicht so erklären, ich finde nicht die richtigen Worte. Und wenn ich sie fände, könnten sie Ihnen übertrieben vorkommen.“
Karola Michaels Zähne waren etwas zu gross, aber herrlich gleichmässig und weiss. Sie konnte so wundervoll lachen wie die gemalten Mädchen auf den Reklamebildern für Mundwasser und Zahncreme lachen, und wenn sie es tat, wie jetzt, war sie unwiderstehlich.
„Frau Bauer, was wollte denn nun eigentlich die Dame von mir? Die Dame, die alt war und doch nicht alt, die mit Ihnen gesprochen hat und doch keine richtige Stimme hatte, die Trauer trug, die aber keine Trauer war, wenn’s auch so aussah.“
Das gutmütige Frauengesicht zeigte jetzt einen beleidigten Ausdruck.
„Ach, Fräulein Michael, Sie machen sich über mich lustig!“ Sie hob die gut gepolsterten Schultern. „Meinetwegen, tun Sie’s nur, aber um die Frau, glauben Sie mir, war etwas herum, das ist mir bei keinem Menschen aufgefallen, das —“
Karolas Lachen schwand, sie unterbrach ungeduldig: „Bitte, erklären Sie mir doch wenigstens zunächst, was die Dame überhaupt von mir gewollt hat!“
Frau Sabine Bauer hob wieder die Schultern.
„Das weiss ich leider nicht. Sie fragte nach Ihnen, und es schien ihr ordentlich nahe zu gehen, dass Sie nicht daheim waren. Mindestens hat es sie sehr verdrossen. Sie will wiederkommen. Ich erklärte ihr deshalb genau, wann Sie wahrscheinlich zu Hause sein würden. Ich riet ihr, am Sonntagvormittag zu kommen, da wären Sie voraussichtlich bestimmt anzutreffen. Ich fragte auch, ob ich Ihnen etwas von ihr bestellen solle oder ob sie mir für Sie nicht wenigstens ihren Namen nennen möchte. Sie zeigte aber weder für das eine noch für das andere die geringste Lust.“
„Na, dann dürfte sie wohl am Sonntagvormittag wiederkommen“, beendete Karola die Unterhaltung und ging, ihrer Wirtin freundlich zunickend, in ihr Zimmer, das sie seit zwei Jahren bewohnte, seit sie vom Rhein nach Berlin gekommen war.
Es war gross und gut eingerichtet. Karola blieb abends gern daheim, weil sie sich behaglich fühlte in ihren vier Wänden. Sie legte Mantel und Hut ab, reckte sich ein wenig, dachte an Günter Albus und wie lieb sie ihn hatte, den schlanken Mann mit dem weichgeschwungenen Mund und den Träumeraugen.
Dann aber fiel ihr Frau Bauers etwas befremdender Bericht ein, über die Besucherin, die nach ihr gefragt. Die Art, mit der Sabine Bauer irgendeiner harmlosen ältlichen Person den Mantel des Unheimlichen umgehängt hatte, belustigte sie. Im übrigen zerbrach sie sich nicht einen Augenblick lang den Kopf darüber, wer die Frau gewesen sein und was für eine Angelegenheit sie zu ihr geführt haben mochte.
Nachdem sie sich ein paar belegte Brote zurechtgemacht, ging sie in die Küche, um sich ein Kännchen Tee zu bereiten.
Frau Bauer sass dort und las eine Abendzeitung. Von nebenan klang Radiomusik. Bei Frau Bauer wohnte ausser Karola noch ein Techniker. Der blieb abends auch daheim, und sein Funkapparat schwieg zwischen acht Uhr abends bis Mitternacht keinen Augenblick.
In ihrem Zimmer hörte Karola die Musik nur gedämpft und angenehm. Sie bereitete sich ihren Tee, wechselte ein paar gleichgültige Worte mit der Wirtin und kehrte bald in ihr kleines Tuskulum zurück, dem sie durch verschiedene Kleinigkeiten den Stempel ihres Geschmacks aufgedrückt.
Als sie hier eingezogen war, hatte ein halbes Dutzend billiger Öldrucke in dick vergoldeten Rahmen die Stimmung des sonst netten Raumes stark in ungünstigem Sinn beeindruckt. Aber Karola hatte die Geschmacklosigkeiten längst von den Nägeln genommen und dafür über dem Sofa eine Kopie des Bildes von Rembrandt: „Der Mann im Goldhelm“ angebracht, die sie zufällig in einer Kunsthandlung preiswert erstanden.
Das ernste und ein wenig verschlossene Gesicht, über dem der Goldhelm gleisste und das Dunkel des Bildes wundersam erhellte, gab dem ganzen Zimmer etwas feierlich Vornehmes.
Nachdem sie ihr einfaches Abendessen beendet hatte, nahm sie eine Stickerei zur Hand. Ein Sofakissen für Günter war es, das sie ihm als Weihnachtsgabe zugedacht hatte! Aber die Handarbeit machte ihr heute keine Freude, sie kam gar nicht vorwärts und legte sie bald wieder in die alte geschweifte Kommode zurück. In dem Schubkasten lag ein zusammengebundenes Paket, bestehend aus alten und neuen Fotografien.
Karola verspürte Lust, die Bilder wieder einmal zu betrachten. Sie rückte die Tischlampe zurecht. Dabei fiel ein Bild auf den Teppich. Sie merkte es nicht.
Frau Bauer kam, um wie allabendlich das Geschirr zu holen. Sie sah das Foto auf dem Teppich liegen und bückte sich danach. Beim Aufheben des Bildes warf sie unwillkürlich einen Blick darauf, und von ihren Lippen löste sich ein lauter Ruf des Staunens.
Karola sah die mollige Frau betroffen an, die ihr die schon etwas vergilbte Fotografie dicht vor die Augen hielt und erklärte: „Das ist die Frau, die heute hier war und nach Ihnen gefragt hat. Sie ist auf dem Bild sehr leicht zu erkennen.“
Karola schüttelte den Kopf.
„Sie irren sich, Frau Bauer, es ist einfach unmöglich, dass die auf dem Bild Dargestellte hiergewesen sein kann.“
Sabine Bauer rief mit mühsam unterdrückter Heftigkeit: „Und wenn Sie sicher sind, dass sich die Frau augenblicklich irgendwo am Nordpol aufhält, muss ich Ihnen widersprechen. Diese Frau war heute hier. Beschwören könnte ich das! Und wenn sie noch so weit weg von Berlin wohnen sollte, sie ist doch heute hier gewesen.“
Karola Michael schüttelte wieder den Kopf.
„Liebe, gute Frau Bauer, die Frau, deren Foto Sie in Händen halten, wohnt so weit von hier, dass sie bestimmt nicht hierherkommen könnte.“
Frau Bauer widersprach: „Und wenn sie am Ende der Welt wohnt, sie war hier.“
„Betrachten Sie, bitte, die Rückseite des Bildes, dort steht etwas geschrieben.“
Die Frau drehte das Foto um und las mit immer grösser werdenden Augen laut vor: „Konstanze von Hüldecken, geboren 1828, gestorben 1898 auf Schloss Hüldeck am Rhein.“
Sie stammelte vor sich hin: „Das kann einfach nicht stimmen! Das ist unmöglich! Ich habe die Frau doch mit meinen eigenen Augen gesehen und weiss, wie sie aussieht.“ Ihre Hände bebten stark. „Das verstehe ich nicht, das regt mich auf, weil es unheimlich und rätselhaft ist. Ich, ich —“
Sie schaute Karola an als könne ihr die eine Erklärung geben.
Die einzige Erklärung, die Karola ihr zu geben vermochte, gab sie ihr auch.
Sie zog ihr vor allem das Bildchen fort, das sie krampfig zwischen den Fingern hielt, meinte dann mit dem Anflug eines Lächelns: „Sie sind nervös, Frau Bauer, und es ist eine fixe Idee von Ihnen, dass Sie sich einreden, meine längst verstorbene Urgrossmutter wäre heute hier gewesen. Eine fremde Frau war hier, wegen irgendeiner belanglosen Angelegenheit. Urgrossmutter Konstanze starb schon viele, viele Jahre, bevor ich überhaupt auf die Welt kam. Mutter hat sie noch gekannt und mir von ihr erzählt. Und jetzt schlagen Sie sich die Idee mit dem Bild aus dem Kopf. Eine Ähnlichkeit mag ja vorhanden sein, die beirrt Sie.“
Die Frau versuchte das Lächeln Karolas zu erwidern, aber sie zog nur den Mund schief. Unheimliche, unklare Gedanken strudelten hinter ihrer Stirn durcheinander.
Karola sagte beruhigend: „Wenn die Frau wiederkommt, was ja anzunehmen ist, werden wir Bescheid wissen, und ich darf Sie dann ein bisschen auslachen, falls die Frau in Wirklichkeit ganz anders aussieht als meine Urgrossmutter vom Rhein. Urgrossmutter! Das klingt schon so verschollen.“
Frau Bauer seufzte tief.
„Nein, nein, ganz so einfach löst sich das Rätsel nun doch nicht. Ich kann mir nicht helfen, wenn ich das Bild ansehe, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.“
Karola wurde ungeduldig. Mit der sonst so netten Sabine Bauer konnte man jetzt kein vernünftiges Wort reden. Die Besucherin musste wirklich etwas Ähnlichkeit mit der toten Urgrossmutter haben. Sie äusserte es noch einmal. Frau Bauer erwiderte bockig: „Sie war es selbst.“
Karola zuckte die Achseln und neckte:
„Also, Frau Bauer, wenn Sie bei Ihrer Ansicht bleiben, schlage ich vor, wir nennen die geheimnisvolle Besucherin einfach: Die Frau, die aus dem Jenseits kam! Das dürfte, bis sie sich vorgestellt hat, die passendste Bezeichnung für sie sein.“
Sabine Bauer schüttelte sich, als ob man sie mit eiskaltem Wasser übergossen hätte. Sie wiederholte mit einer Stimme, die sich vor Entsetzen überschlug: „Die Frau, die aus dem Jenseits kam!“ und danach stiess sie hervor: „Jetzt fürch — te ich mich erst rich — tig vor der Frau. Hof — fent — lich kommt sie nicht wie — der. Ich könn — te ü — ber — haupt nicht mehr mit ihr re — den.“
Karola erwiderte verstimmt: „Wenn sie zu einer Zeit kommt, in der ich zu Hause bin, dürfte das auch wohl nicht nötig sein. Sie haben ihr ja erklärt, wann ich hier bin.“
Frau Bauer nahm sich nun doch etwas zusammen.
„Sie hätten das nicht sagen sollen, Fräulein Michael, ich meine das von der Frau, die aus dem Jenseits kam. Für mich klingt das schaurig, es passt nämlich. Es passt zu dem Aussehen der Frau.“
Frau Bauer musste gehen, denn ihr anderer Mieter rief auf dem Korridor nach ihr.
Karola atmete erleichtert auf. Sie schloss ihre Tür ab. Mochte Frau Bauer, falls sie Lust verspürte, das Gespräch nachher fortzusetzen, ruhig denken, sie wäre schon schlafen gegangen.
Sie knipste das Licht aus und trat hinaus auf den Balkon. Erfrischend umspülte sie die herbstlich kühle Abendluft, die über dem Häusergewirr der Riesenstadt hinzog, und die ihr wohl tat wie ein Bad in der See in sommerlichen Ferientagen.
„So ein Blödsinn!“ murmelte sie und dachte an das Gerede Sabine Bauers.
Aber auf den nächsten Besuch der Fremden war sie jetzt wirklich gespannt. Dann glitten ihre Gedanken wie über eine freischwebende goldene Brücke zu Günter Albus, und sie grüsste ihn im Geiste herzlich. Sie hatte ihn lieb, und er gehörte wie selbstverständlich in das Bild ihrer Zukunft, das sie sich manchmal ausmalte. Seine hohe Gestalt stand mitten darin und zeigte ihr den Weg, den sie gemeinsam gehen würden, verbunden in Liebe und guter Ehekameradschaft.
Wie habe ich Dich lieb! dachte sie so inbrünstig, als ob sie aus tiefstem Herzen betete.