Читать книгу Die geheimnisvolle Besucherin - Anny von Panhuys - Страница 6
3.
ОглавлениеAm gleichen Abend, als Albin Albus entdeckt hatte, wie es um seinen Bruder und Karola Michael stand, beabsichtigte Günter, in ein Konzert zu gehen — in ein Konzert, das für echte Musikliebhaber ein ganz besonderer Genuss zu werden versprach. Professor Bauer aus Antwerpen, ein geborener Deutscher, dirigierte sein eigenes Orchester, das er aus Belgien mitgebracht hatte, und das ebenso wie er und durch ihn Weltruf besass.
Er war einer der berühmtesten Dirigenten der Gegenwart, und seine Konzertreisen mit und ohne Orchester hatten ihn um mehr als den halben Erdball geführt.
Günter war schon vor Wochen eifrig um einen Platz besorgt gewesen und stand nun in seinem hell erleuchteten Schlafzimmer und machte sich für den Besuch des Konzertes zurecht, das in einem der grössten Säle Berlins stattfinden sollte.
Nach kurzem Anklopfen trat Albin ein, sagte nach einem Blick auf den Bruder etwas enttäuscht: „Eben fällt mir ein, Du gehst heute in ein Konzert. Irgend so ’n Prominenter dirigiert allerlei schweres Zeug — Beethoven und ähnliches. Ach, was weiss ich! Ich hatte Dein Vorhaben ganz und gar vergessen und kam mit der Absicht, Dir einen gemeinsamen Ausgang vorzuschlagen.“
Er hatte nicht im entferntesten an das gedacht, was er vorbrachte, sondern es hatte ihm eine ruhige Aussprache mit dem jüngeren und von ihm noch abhängigen Bruder vorgeschwebt. Im Hintergrund der beabsichtigten Aussprache glaubte er eine kleine Hoffnung zu sehen, der Stand der Dinge könnte sich vielleicht derart regeln lassen, dass Günter bei Karola freiwillig zurückträte und er selbst versuchen durfte, sich dem blonden Mädchen zu nähern.
Er hatte sich überlegt und eingeredet, wenn Günter ihm entgegenkäme, müsste sich alles nach seinen Wünschen entwickeln, denn er ähnelte Günter und schnitt bei dieser Ähnlichkeit wahrscheinlich sogar vorteilhaft ab; zweitens vermochte er Karola eine sorglose Existenz zu bieten, während Günter vielleicht noch lange nicht an eine Heirat denken konnte. Drittens würde es Karola vielleicht locken, als Gattin des Firmeninhabers ganz unbehindert ihre Neuschöpfungen herausbringen zu können.
Leider musste seine „vernünftige“ Aussprache mit Günter verschoben werden.
Der Bruder lächelte ihn harmlos freundlich an.
„Ich stände gern zu Deiner Verfügung, aber das Konzert kann ich nicht aufgeben. Das nicht!“ betonte er noch einmal und drehte sich im feierlichen schwarzen Abendanzug langsam vor dem Spiegel um sich selbst. Als eleganter, hübscher Mann stand er vor dem hohen Türspiegel des geöffneten Kleiderschrankes. Seine hellen Augen strahlten sich selbst wohlgefällig im Glas an.
„Ich freue mich unbändig auf das Konzert“, machte er seinem Herzen Luft. „Ich habe noch nie das Glück gehabt, Bauer dirigieren zu sehen. Es soll ein ästhetischer Hochgenuss sein, das Vollendetste vom Vollendeten. Wirklich, ich freue mich wie ein Kind auf Weihnachten.“ Eine Glutwelle färbte seine schmalen, herben Züge. Seltsam leuchtend standen die hellen Augen in dem bräunlichen dunkel wirkenden Gesicht. „Ich möchte wissen, wie so einem Menschen, ich denke dabei an Bauer, zumute sein muss. Sicher ist er unvorstellbar glücklich. Er braucht nur die Hände zu heben, und die wertvollsten Werke, die allergrösste Meister uns gegeben, erwachen zu einem Leben, wie es ihnen kaum ihre Schöpfer selbst haben schenken können.“ Um seinen Mund grub sich ein Zug von Fanatismus ein. „Ach Du, so ein Grosser zu werden wie Bauer, das ist ein Ziel, für das ich gern und freudig auf vieles im Leben Verzicht leisten würde.“
Albin sah ihn ernst an. „Auch auf die Liebe, die nun einmal zu den Annehmlichkeiten des Lebens gehört?“
„Hunger und Kälte, Sorgen aller Art ertrüge ich gern, wenn ich wüsste, ich könnte mir dadurch den Ruhm verschaffen. Ich risse mir das Herz aus der Brust mitsamt der grössten Liebe, wenn mir möglich wäre, dafür den Ruhm einzutauschen.“
In Günters Blick flackerte wildes Verlangen, und seine Lippen waren ein wenig geöffnet. Er malte sich wohl den Ruhm aus, den er so brennend begehrte.
Albin riss ihn aus seiner Versunkenheit, stellte in trockenem Ton fest: „Vergiss nicht, dass es für Dich höchste Eisenbahn ist, sonst kommst Du zu spät ins Konzert.“
Es klang fast unfreundlich.
Günter sah ihn fragend an.
„Bist Du ärgerlich auf mich, weil Du gerade heute mit mir ausgehen wolltest?“
Albin riss sich zusammen. Es hatte ihn geärgert, dass der Bruder ihm vorhin erklärt hatte, wenn es ihm möglich wäre, dafür den Ruhm einzutauschen, risse er sich das Herz mitsamt der grössten Liebe aus der Brust.
Er antwortete: „Unsinn, ich bin nicht ärgerlich auf Dich. Wir können gelegentlich mal wieder zusammen ausgehen, es hat Zeit, es braucht nicht heute oder morgen zu sein!“
Er nickte Günter zu und verliess schnell das Zimmer.
Ein paar Minuten später rief Günter vor der Haustür eine gerade leer vorbeifahrende Taxe an. Er dachte schon nicht mehr an die Unterhaltung mit dem Bruder, er dachte nur an das Konzert Bauer.
Und an das Konzert Bauer dachte auch Karola Michael.
Ihre Wirtin, Frau Sabine Bauer, hatte sie heute wieder auf dem Korridor in Empfang genommen. Sie trug ihr Schwarzseidenes, was immer bedeutete, dass entweder irgendein Feiertag für sie war oder sie etwas Besonderes vorhatte. Sie überfiel Karola mit einer Neuigkeit, die zugleich die Erklärung für das Anlegen des Schwarzseidenen war.
„Hören Sie, Fräulein Michael, wollen Sie mit mir in ein Konzert kommen? Es reicht noch mit der Zeit, Sie können vorher sogar noch ein Brötchen essen und ’ne Tasse Kaffee trinken. Ich habe schon alles für Sie zurechtgestellt und Ihr Abendkleid aufs Bett gelegt. Bitte, kommen Sie mit. Mein Vetter Karl Bauer aus Antwerpen dirigiert das Konzert.“ Sie schlug lebhaft die Hände zusammen.
„Karl soll ein schrecklich berühmter Mann sein! Die Karten hat er mir nachmittags selbst gebracht, und seine Tochter war mit ihm hier. Ein Mädel ist das, ein Mädel sage ich Ihnen, wie aus einem spannenden Film oder Roman! Aber darüber wollen wir uns ein anderes Mal unterhalten. Bitte, kommen Sie mit, ich habe zwei Eintrittskarten, und es schadet uns beiden sicher nichts, wenn wir mal etwas ganz Grosses hören dürfen.“
Karola hielt sich nicht lange mit Erwägungen auf, ob sie die Einladung annehmen sollte oder nicht. Ihr war eingefallen, dass Günter ihr vor ungefähr einer Woche erzählt hatte, wie sehr er sich auf das Konzert des Dirigenten Bauer freue. Heute abend aber hatte er nichts mehr davon erwähnt, er mochte in den wenigen Minuten ihres heutigen Zusammenseins nicht einmal daran gedacht haben. Sie stellte sich vor, dass sie Günter vielleicht zufällig im Konzert sehen würde, und erklärte: „Ich will Sie herzlich gern begleiten, Frau Bauer. Unsereins kommt sonst doch nicht zu dergleichen.“
Sie wusste genau, sie war nicht besonders musikalisch, ein flotter Marsch, ein inniges Volkslied, ein süsser Schlager deckten ihren musikalischen Bedarf vollkommen. Jetzt reizte sie auch nicht das Konzert, sondern die Aussicht, möglicherweise den Geliebten, wenngleich nur von weitem, zu sehen. Sie wollte nicht vergessen, ihr Opernglas mitzunehmen.
Sie lief in ihr Zimmer, in dem die vorsorgliche Frau Sabine schon das Licht angedreht hatte, hob den Kaffeewärmer von der Kanne, schenkte sich eine Tasse ein, ass eine der bereits zurechtgemachten Schnitten und wechselte dann die Kleidung.
Ein weinrotes Abendkleid von stumpfer, taffetartiger Seide betonte vorteilhaft die schlanken und doch kräftigen Linien ihrer Gestalt, und die weisse Ansteckblume mit dem schimmernden Kelch aus Strass gab ihm eine schicke Note.
Das Haar brauchte nur ein paar Kamm- und Bürstenstriche, es war fast immer in Ordnung, weil die Natur selbst es in Dauerwellen gelegt hatte. Kein Regen, kein Nebel, kein Waschen konnte die zerstören. Sie zupfte ein Löckchen aus dem Scheitel in die Stirn, und es lag nun als kleines goldschimmerndes Fragezeichen zwischen den dunklen, schmalen Bögen der Brauen.
Wie gehetzt liefen die beiden Konzertbesucherinnen die Treppen hinunter. Frau Bauer spendierte eine Taxe. Im Wagen erklärte sie: „Mein Vetter, richtiger mein Vetter dritten oder vierten Grades, lässt höchstens um die Weihnachtszeit von sich hören, dann aber durch ein ansehnliches Geldgeschenk. Heute hat er mir beim Weggehen hundert Mark in die Hand gedrückt. Er war bloss eine gute Viertelstunde bei mir. Na ja, so ein Berühmter kommt kaum zu sich selbst, kann sich nicht stundenlang bei mir aufhalten. Ich bin schon froh, dass er überhaupt an mich denkt, und bilde mir eine Menge darauf ein.“
„Das dürfen Sie wohl auch, Frau Bauer“, gab Karola zu.
Sie hatte gar nicht gewusst, dass Frau Bauer mit dem berühmten Musiker verwandt war. Aber sie würde auch wahrscheinlich nichts von Professor Bauers Existenz gewusst haben, wenn Günter seiner nicht gelegentlich Erwähnung getan als eines Herrschers im weiten klingenden Land der Musik.