Читать книгу Die geheimnisvolle Besucherin - Anny von Panhuys - Страница 8
5.
ОглавлениеGünter Albus hatte im Konzert einen Platz in der dritten Reihe inne. Neben ihm sass eine junge Dame, die tiefbraunes Haar hatte mit wundervollem Goldschimmer.
Als ob goldener Puder über das dunkle Gelock hingestreut wäre, dachte Günter, der dem Beginn des Konzertes beinahe mit Herzklopfen entgegensah.
Die Musiker hatten schon ihre Plätze eingenommen. Das leise Nachstimmen der Instrumente schuf in Verbindung mit dem vom Publikum bereits gefüllten Saal, den Logen und Rängen die richtige Atmosphäre für das bevorstehende Konzert. Professor Bauer! Der Name hatte seine volle Zugkraft bewährt; es war kein einziger Platz leer geblieben.
Und dann war es so weit. Der berühmte Mann erschien, um seinen Platz vor den Musikern einzunehmen. Unter starkem Beifallklatschen hatte er seinen kurzen Weg bis dorthin zurückgelegt. Sich mehrmals dankend verneigend, blickte er plötzlich in der Richtung, wo Günter Albus sass, liess seinen Blick sekundenlang auf ihm ruhen, schien es Günter, der den Gedanken, Karl Bauer könne seiner Person Aufmerksamkeit schenken, natürlich lächerlich fand.
Der Berühmte leitete sein Orchester ohne Taktstock. Seine langfingerigen schmalen Hände hoben sich weich und beschwingt, das Orchester setzte ein.
„Uralte Legende“ hiess die neue, zum ersten Male gespielte Tonschöpfung Bauers. Die Musik hatte den Zauber all dessen eingefangen, was mit dem hellsten, seligsten Fest der Christenheit zusammenhing, mit dem Weihnachtsfest.
Die Geigen sangen vielstimmig denselben Ton, die Celli begleiteten in verhalten dunkler Zärtlichkeit das Wunder der Menschwerdung Christi. Ein Geigensolo jubelte vom Stern, der über dem Stalle stand, und von den drei Hirten, die ihn erblickten, als sie in der weiten Feldeinsamkeit ihre Schafe hüteten.
Die „Uralte Legende“ war wie in Klang verwandelte überwältigende Menschengüte und Menschenliebe, war wie segnende Hände, die sich den Erdgeborenen aus Wolken entgegenstreckten.
Günter Albus sass so still, dass ihn dünkte, er wäre erstarrt von der bezaubernden Tonflut, die durch den Saal rauschte und ihm das Herz im Leibe umdrehte.
Es kam eine Stelle, die war wie aller Inbegriff des schönen Wortes Heiligkeit selbst. So klar war sie wie der Himmel an auserlesen schönen Frühlingstagen, so rein wie das erste Lächeln der Kinder, so zart wie weisse Lilien, die man in katholischen Kirchen der Madonna in den Arm legt.
In Professor Bauers „Uralter Legende“ atmete die Seligkeit aller Menschen mit, die gläubigen Herzens waren.
Und diese hinreissende Stelle, diese Stelle in der „Uralten Legende“ erweckte in Günter Albus eine fast scheue Ehrfurcht vor dem Genie des körperlich kleinen Mannes, der mit schmalen, langfingerigen Händen das unirdische Klingen und Tönen wie aus der Luft holte. Jämmerlich nichtig und unbedeutend fand er sich selbst. Sein Streben und Hoffen sah mit einemmal keinen Weg mehr vor sich, und ihm war, als sei er damit bisher irre gegangen.
So einen Lehrer haben dürfen wie ihn! dachte er mit so tiefer schmerzhafter Innigkeit, dass es ihn erschütterte.
Er schloss halb die Augen und hatte die Vision, Engel, die auf Wolken sassen, spielten „Uralte Legende“. Er sah die schwarzgekleideten Herren nicht mehr, die mit Künstlerschaft den Bogen führten oder die Flöte mit spitzen Lippen berührten. Der gute alte Herrgott droben dirigierte eine Schar von Engeln und schenkte den Menschen diese hehre Weihestunde.
Neben ihm sass die fremde junge Dame, und ihr Blick hatte ihn schon mehrmals gestreift, ohne dass er es bemerkte. Er war viel zu versunken, nahm diese Musik hin wie eine allerhöchste Gnade. Seine Nachbarin fühlte wohl mit, wie inbrünstig sein Ohr die herrliche Musik des Werkes aufnahm, und dass in ihm jetzt für nichts anderes mehr Raum war.
Ein Lächeln der Zufriedenheit legte sich um ihren Mund, und sie träumte neben ihm und mit ihm alles, was die „Uralte Legende“ in Klängen malte, sie träumte — vielleicht war es eher ein Erleben — von dem süssesten Geschehen, das es je auf Erden gegeben, und das sich alljährlich erneuert, das Wunder von der Geburt Jesu, das Wunder jener tausendmal gesegneten Stunde, in der die uneigennützige reine Menschenliebe in die Welt gekommen ist.
Das Finale endete in vollen, breit ausklingenden Akkorden. Es war, als spiele eine mächtige Orgel, und in dem Aufrauschen versank und verklang die „Uralte Legende“ wie in ein Meer von Frömmigkeit.
Totenstille herrschte in dem grossen Haus, und in der Stille erwachte Günter, erwachte aus dem Bann, musste tief atmen, sich in die Wirklichkeit zurückatmen.
Die Stille hielt nicht an. Ein Beifallsturm riss sie fort. Wild und ungebändigt tobte glühende Begeisterung dem kleinen Mann entgegen, der die „Uralte Legende“, diese herrliche Heiligenerzählung, so herzstockend zum Tönen gebracht und sie in einer Weise hatte spielen lassen, dass man dabei über die Grenzen alles Irdischen hatte hinwegschreiten können in ein Land, das ewig rein und schön geblieben — in das Land unseres seligsten Kinderglaubens, in das Land unserer Sehnsucht.
Günter klatschte so heftig mit, dass er seine Nachbarin mit dem Ellbogen anstiess.
Er flüsterte erschrocken: „Verzeihung!“
Die Dame lächelte seltsam weich. Er erkannte, ihr Gesicht, das sich sehr nahe von dem seinen befand, war eigen reizvoll. Über kurzer, sehr gerader Nase standen Augen, die gross und dunkel waren und so stark glänzten, dass er meinte, noch niemals desgleichen gesehen zu haben.
Sie flüsterte zurück: „Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen. Ich freue mich, dass Sie die Tiefe dieser Musik voll verstanden haben. Denn das haben Sie, ich bin dessen sicher.“ Sie raunte: „Wollen wir uns nachher darüber unterhalten? Ich glaube, es wäre keine verlorene Zeit für Sie.“
Als er in die übergrossen leuchtenden Augen des Mädchens blickte — vielleicht war sie schon eine junge Frau — fand er, obwohl er gern gleich nach dem Konzert heimgegangen wäre, nur die Antwort: „Bestimmen Sie über meine Zeit nach dem Konzert.“
Sie nickte lächelnd, und er dachte, die Fremde mit den grossen Augen, den goldenen Lichtern über dunkelbraunem Gelock, gehört irgendwie hinein in die „Uralte Legende“ dieses Abends.
In der fünften Reihe lagen die Plätze von Frau Bauer und Karola, die Günter längst entdeckt hatte. Sie war glücklich, ihm so nahe zu sein, auch wenn er nichts davon ahnte.
Ganz anders als er hatte sie die Musik empfunden. Soviel allerdings hatte sie gefühlt, dass es etwas Grosses und Besonderes war, was sie eben gehört, aber sie stand ihm, dem Grossen und Besonderen, fast verständnislos gegenüber. Sie hatte den Weg nicht zu finden vermocht, den manche Menschen nachtwandlerisch sicher einschlagen, auf dem ihnen die Musik, Ton für Ton wie in hinreissende Bilder verwandelt, entgegenkommt.
Günter fand den Weg immer.
Karola sah ihn mit der Dame neben sich sprechen. Doch sie dachte sich nichts dabei; sie wurde erst stutzig, als sich die beiden nach dem Konzert gemeinsam erhoben, als ob sie zusammen gehörten und deshalb zusammen fortgingen. Ihr war nicht möglich, die beiden im Auge zu behalten. Es befanden sich zuviele Menschen im Saal, und man konnte sich nur langsam Schritt für Schritt hinausbegeben.
Während der ganzen Zeit, die das Programm beanspruchte, hatte sie nur an ihre Liebe zu Günter gedacht und an das Wiedersehen morgen abend in dem kleinen Café.
Auf der Strasse blickte sie sich aufmerksam nach allen Seiten um, ob sie Günter vielleicht noch erspähen könne, aber sie entdeckte ihn nirgends mehr. Und doch befand er sich noch in ihrer Nähe.
Günter war wie selbstverständlich der Fremden gefolgt, die, nachdem man die Garderobe in Empfang genommen, fragte: „Ich darf Sie also führen, wohin ich will?“
Er sah sie an. Zum ersten Male konnte er sie genau ansehen vom Kopf bis zu den Füssen. Sie war von überschlanker Gestalt, hatte ein schmales, leicht gepudertes bräunliches Gesicht und einen Mund von eigen reizvoller Form. Das über der Stirn zurückgenommene Haar lag nach neuester Mode in einem halbhohen Lockenknoten, und das Kinn war rund. Es sprang vielleicht ein klein wenig vor, was dem Gesicht einen Ausdruck von Willenskraft gab, der auch in den Augen lag, die geheimnisvoll schimmerten und gleissten.
Günter Albus antwortete: „Sie dürfen mich führen, wohin Sie wollen, meine Gnädigste. Ich freue mich darauf, mich mit Ihnen über das Gehörte zu unterhalten. Sie erboten sich dazu, Sie versprachen es mir.“
„Ich pflege Versprochenes zu halten“, lächelte sie und er glaubte um ihren Mund einen Zug von Schelmerei zu entdecken, der ihn flüchtig beirrte.
Sie traten gemeinsam ins Freie. Draussen, in der nahen, stillen Nebenstrasse, wartete ein elegantes grosses Privatauto, in das ihn die Dame einzusteigen bat.
Donnerwetter, also doch ein Abenteuer! Er zögerte, ihrer Einladung zu folgen.
Die Dame drängte: „Steigen Sie nur ein.“ Sie erinnerte ihn: „Sie haben mir erklärt, dass ich Sie führen darf, wohin ich will.“
Er musste unwillkürlich lächeln. Warum sollte er einem solchen Abenteuer aus dem Wege gehen? Er dachte: Mit dem Funkelglanz Deiner Augen kannst Du mich in die Hölle führen, ich wäre ein Narr, mich zu weigern!
Wozu überhaupt Nachdenken, ob es sich um ein Abenteuer handele oder nicht! Er stieg schnell ein. Sie blieb noch ein wenig draussen stehen, sprach mit dem Schofför, dann wandte sie sich zu ihm, der im Wagen auf ihr Einsteigen wartete, erklärte: „Ich bitte Sie, sich noch einige Minuten zu gedulden. Lange dürfte es kaum dauern. Mein Vater muss noch kommen. Ihn müssen wir mitnehmen; er war nämlich auch im Konzert.“
Jeder Gedanke, der Hintergrund von allem könne doch ein Abenteuer sein, schwand bei dieser Erklärung endgültig in Günter. Er fragte: „Warum haben Sie denn nicht mit Ihrem Herrn Vater zusammengesessen?“
Sie antwortete: „Es ging leider nicht.“
Er nickte verstehend. „Man kann zu so einem Konzertabend nicht immer nebeneinanderliegende Plätze bekommen und muss schon glücklich sein, überhaupt hinein zu dürfen.“
Sie drehte sich plötzlich um. Ein Herr, geleitet von einem jüngeren, den er unterfasste, kam auf das Auto zu. Gleich hinter den beiden schritten wohl zwanzig oder noch mehr Leute, wie eine Art Gefolge.
Der ältere Herr stieg ziemlich schnell ein, nachdem die Fremde etwas zu ihm gesagt, und nahm grusslos den Platz vor Günter ein. Neben diesen setzte sich der jüngere Herr.
Die Leute umdrängten das Auto, es wurden immer mehr. Wo sie nur mit einemmal herkommen mochten und was sie wohl wollten? Eine Stimme rief überlaut: „Hoch Karl Bauer!“
Ein Dutzend Stimmen nahm den Ruf auf.
„Dank für den Abend!“ jubelte eine Frau wie trunken vor Glückseligkeit.
Der kleine Herr vor ihm winkte mit der Rechten.
Er sagte laut, aber sehr ruhig und freundlich, als hätte er es schon viele tausend Male sagen müssen: „Auf Wiedersehen!“
Das Auto fuhr bereits an und Günter war es, als ob hinter seiner Stirn Weingeister eine tolle Wirtschaft führten, ihm jeden klaren Gedanken, noch ehe er ihn zu Ende gedacht, wie dürres Reisig zerbrachen.
Lieber Himmel, träumte er oder war es Wirklichkeit, dass er, der unbekannte Günter Albus, für den der Name des berühmten Dirigenten und Komponisten ein Etwas gewesen, vor dem er in scheuer Ehrfurcht erschauert, im selben Auto mit ihm sass, eingeladen von der Tochter Karl Bauers selbst?
War das glaubhaft? War das zu verstehen?
Der matte Duft eines ihm unbekannten Wohlgeruchs, der ihn an dunkle Rosen zur Hochsommerzeit erinnerte und den Kleidern der neben ihm Sitzenden entströmte, legte sich wie ein wohltuender Nebel um den Aufruhr seiner verwirrten Gedanken. Sprechen konnte er jetzt nicht, er hätte es auch nicht gewagt, weil niemand sprach.
Günter fühlte sein Herz wie mit knöchern hartem Finger gegen die Rippen schlagen; ihm war zumute wie einem Schuljungen, der sich auf einen Streich eingelassen, dem er nicht gewachsen war, und zugleich empfand er ein geradezu unsinnig tolles Glück. Er sass im selben Auto mit Karl Bauer, fuhr mit ihm dem gleichen Ziel zu, wohin ihn Karl Bauers Tochter mitnahm.
Die neben ihm Sitzende schien den harten, schmerzenden Schlag seines Herzens zu spüren, aber ebenso das überströmende Glücksgefühl, das ihn durchströmte. Ihre Hand legte sich leicht auf seine, und er wusste, das hiess: Sei still! Freue dich, dass du ihn kennenlernen darfst, meinen grossen Vater!
Gleich darauf war die Hand wieder fort; das Auto glitt durch die Strassen Berlins. Niemand sprach, Günter hörte seinen eigenen Atem. Und dann hielt der Wagen vor einem Haus in der Tiergartenstrasse und nicht, wie Günter Albus erwartet hatte, vor einem grossen Hotel Unter den Linden.
Der Schofför verliess zuerst seinen Platz, dann folgte der Begleiter Bauers, danach seine Tochter, und als der berühmte Mann sich erhob, war es, als ob die drei Menschen draussen sorglich auf ihn warteten, um achtzugeben, damit er keinen falschen Schritt tue.
Günter Albus hatte bis jetzt nicht gewagt, auszusteigen, nun folgte er den anderen. Zum Sprechen mit der Tochter Karl Bauers bot sich keine Gelegenheit mehr, die grosse Tür des villenähnlichen Hauses wurde von einem Diener geöffnet, der ihnen die Überkleider abnahm. Man betrat einen kleinen, hallenartigen Raum, in dem sich Günter Albus dann mit Karl Bauer und dessen Tochter allein sah.
Karl Bauer reichte ihm mit liebenswürdigem Lächeln die Rechte.
„So, Sie Mitbringsel meines etwas impulsiven Töchterchens, jetzt müssen wir uns vor allem erst einmal miteinander bekanntmachen. Mein Mädel hat Ihnen eine Freude und Überraschung bereiten wollen, weil Sie, wie sie sich ausdrückte, beim Anhören meiner ‚Legende’, das Atmen vergessen hätten. Sie hält grosse Stücke auf ihren Vater, und nach ihrer Ansicht kann man sich für mich gar nicht genug begeistern.“
Günter Albus erwiderte bebend vor Freude, dass er seine Hand in die des Meisters hatte legen dürfen: „Es ist auch meine Ansicht. Gar nicht genug kann man sich für Karl Bauer begeistern. Ich vergass, während die ‚Uralte Legende‘ gespielt wurde, die ganze Welt. Ich vergass sie allerdings auch, als Sie Beethoven und Wagner brachten. Es war das schönste Konzert meines Lebens, und ich habe schon sehr viele und bedeutende gehört.“
Jetzt erst gab Karl Bauer die Hand frei, die er mit leichter Wärme drückte.
„Sie sind danach ein grosser Musikfreund. Spielen Sie selbst irgendein Instrument?“
Günter verneigte sich tief.
„Es ist wohl an der Zeit, mich vorzustellen. Ich heisse Günter Albus und studiere Musik. Ich spiele natürlich verschiedene Instrumente. Ich möchte Dirigent werden. Ein grosses Orchester schwebt mir vor, die Oper lockt mich.“
Seine hellen Augen blickten offen in das Gesicht des vor ihm Stehenden.
Ein Schatten zog über die Züge Karl Bauers. Da hatte Gisa anscheinend eine Torheit begangen, indem sie ihren Platznachbar aus dem Konzert zu ihm brachte. Sicher war dieser Albus jemand, der mit dem Namen „Karl Bauer“ irgendwelche selbstsüchtigen Hoffnungen für die eigene Karriere verband, der Gisa gekannt und sich schlau an sie herangemacht hatte. Na, das half nichts, der Mensch war nun einmal da, mochten sich die beiden heute abend deshalb über ihn unterhalten, soviel sie Lust hatten. Damit war dann die Geschichte aber auch ein für allemal erledigt.
Die Tür öffnete sich. Ein Herr und eine Dame traten ein. Sie sahen vornehm aus und mussten wohl auch im Konzert gewesen sein. Der Herr trug einen Abendanzug, die Dame ein braunes Seidenkleid mit tiefem Ausschnitt.
Karl Bauer stellte vor: „Günter Albus, ein Bekannter von Gisa.“ Er wandte sich an Günter. „Das ist Herr Hartwig und seine Gattin, alte Freunde von mir, die mir Gastfreundschaft gewähren, wenn ich in Berlin bin.“
Gisa trat zu Günter Albus, dem peinlich war, als Gast eines Gastes hier zu sein.
Die Tür zum Nebenzimmer wurde weit geöffnet. Ein reichgedeckter Tisch lud zum Niedersetzen und zu behaglicher Mahlzeit ein.
Karl Bauer nahm zwischen dem Ehepaar Hartwig Platz, der Sekretär Karl Bauers, der vorhin neben dem Künstler im Auto gesessen, tauchte auch plötzlich auf. Er hiess Frans Hoven und war Holländer.
Während des Essens sprach man nur flüchtig über das Konzert, aber nachdem man vom Tisch aufgestanden und ins Wohnzimmer gegangen war, rief der Hausherr laut und strahlend: „Es war ein märchenhafter, ein wundervoller Abend. Die Berliner tobten förmlich vor Begeisterung. Ich bin unsagbar stolz, Dein Freund sein zu dürfen, Karl.“
Bauer lachte vergnügt: „Ach, ich weiss genau, dass ich was kann! Doch glaubt mir nur, wenn’s mal wieder vorüber ist, freue ich mich diebisch, dass alles gut gegangen ist. Jedesmal, wenn ein Konzert beginnt, habe ich richtiges Lampenfieber, und das ist geradezu eklig.“
Gisa Bauer sass mit Günter Albus in einer Zimmerecke. Sie sagte so leise, dass sie nur von Günter verstanden wurde: „Wir wollten über die Legende sprechen. Doch wir werden hier wohl nicht dazu kommen. Haben Sie vielleicht morgen abend Zeit? Wir sollten uns treffen, Vater arbeitet an freien Abenden.“
Günter Albus begriff noch immer nicht, dass ihm das Glück in den Schoss gefallen, Karl Bauer so ganz privat kennenzulernen, wie doch nur wenige den berühmten Mann kannten, und er begriff nicht, weshalb seine reizvolle Tochter sich so viele Mühe mit ihm, dem vorläufig noch lieben Niemand, gab.
Er antwortete: „Wohin befehlen Sie mich morgen abend, gnädiges Fräulein?“
Sie krauste die Stirn, und ihre Augen wurden schmal.
„Ich schlage vor, wir treffen uns um acht Uhr abends vor dem zweiten Haus von hier links an der Ecke. Merken Sie sich den Treffpunkt nur gleich, wenn Sie heute fortgehen. Man ist von mir gewöhnt, dass ich manchmal abends allein ein bisschen auf den Bummel gehe. Ich tue es sehr gern. Zuweilen lockt es mich, ein Kabarett oder Café ganz allein zu besuchen.“
Sie legte flüchtig, kaum wahrnehmbar und doch bedeutsam einen Finger auf die Lippen, rief laut: „Bitte, Vater, sagtest Du etwas zu mir?“
Karl Bauer nickte. „Ja, das tat ich. Mir fiel eben ein, Herr Albus ist doch Musiker und steuert auf meinen Beruf zu. Er hat meine ‚Uralte Legende‘ atemlos angehört, hast Du mir erzählt. Deshalb möchte ich gern wissen, ob er auch etwas davon behalten hat.“
Er dachte: Wart’ Bürschchen, Dich blamiere ich, weil Du Dich listig an mein Mädel herangepürscht hast, um Karl Bauers Bekanntschaft zu machen! Er musste sich blossstellen, der künftige Herr Kollege, wenn er ihn jetzt aufforderte, sich an den Flügel zu setzen und einige Stellen aus der „Uralten Legende“ zu wiederholen.
Er warf Günter Albus die Aufforderung wie einen Fehdehandschuh zu.
Der wildfremde junge Mensch, mit dem sich Gisa in eine trauliche Ecke zurückgezogen hatte, störte ihn, seit er wusste, dass er Musik studierte. Es war aufdringlich von diesem Herrn Albus, sich in das stille, feine Haus seines Freundes Hartwig hineinzudrängen.
Günter Albus erhob sich sofort. Seine hellen Augen waren jetzt die eines Träumers. Er schritt zum Flügel und setzte sich. Ihm war es, als höre er wieder die ersten Takte der „Uralten Legende“ im Konzertsaal aufklingen, meisterhaft gespielt von dem Orchester.
Günters Hände legten sich auf die Tasten, drückten sie nieder, spielten nach, was sich tief in seinem Herzen verankert hatte.
War es nicht, als sängen Geigen und Celli aufs neue die süsse Mär vom göttlichen Kinde?
Günter Albus spielte und vergass völlig seine Umgebung. Weil kein Laut ihn unterbrach, spielte er die „Uralte Legende“ immer weiter, so, wie sie ihm noch im Ohr lag, so, wie er sich mit seinem Herzen daran erinnerte.
Endlich aber ging sie zu Ende. Tiefe, volle Akkorde wurden zu Orgelklängen, die das Zimmer so über die Massen füllten, dass darin für nichts anderes mehr Raum zu sein schien.
Karl Bauer erhob sich und ging zu Günter Albus, gegen den kein misstrauischer Gedanke mehr in ihm war. Er legte ihm die Rechte auf die Schulter, und als Günter Albus den Kopf hob, sagte er ernst: „Das haben Sie gut gemacht, Sie können etwas, Sie haben mich sehr überrascht. Es war meine ‚Legende‘, doch Sie fügten noch etwas ein, Ihre eigenen Gedanken, die zu allem passten, als hätte ich sie miterdacht. Kommen Sie morgen vormittag um elf Uhr zu mir, bitte.“
Er sah ihn freundlich an, und in seinen dunklen Augen lag noch das Verwundern ob der Überraschung, die er keinem Menschen zugetraut.
Mit einemmal drehte sich alles um Günter Albus. Es war, als hätte der Meister ihm den Ritterschlag erteilt.
Herr Hartwig war sehr zuvorkommend; seine schicke grauhaarige Frau brachte ihm selbst ein Tässchen Mokka. Der Sekretär, von dem es vorhin wie eisige Kälte ausgegangen, gab sich freundschaftlich zuvorkommend, und Gisa Bauer suchte immer wieder seinen Blick, als hätten sie beide gemeinsam ein schönes Geheimnis.
Als Günter sich verabschiedete, legten sich ihre Finger fest um seine Hand und sie sagte lächelnd: „Auf Wiedersehen morgen!“
Er dachte verwirrt, es klang, als meine sie nicht morgen vormittag, wo ihr Vater ihn erwartete, sondern als dächte sie dabei an morgen abend.
Er blieb draussen ein paar Sekunden vor dem zweiten Hause zur Linken an der Strassenecke stehen. Hier würde Gisa Bauer ihn morgen abend erwarten.
Es war kühl, als er durch den Tiergarten ging, aber er spürte es nicht, ihm war warm von den lobenden Worten des Meisters und warm von den Blicken seiner schönen Tochter. Erst als er sich wieder zu Hause befand, fiel ihm die morgige Verabredung mit Karola ein. Er musste ihr sagen oder schreiben, dass er keine Zeit hätte.
Nebel schwebten über das Bild der blonden Karola Michael hin, ballten sich dicht und dichter zusammen. Er erkannte dahinter kaum noch ihre Züge; sie wurden undeutlich und fremd. Aber die dunklen Augen Gisas lebten und schauten ihn an von überall, wohin er sich auch wandte — von überall.
Sein Zimmer schien ihm verwandelt, seit er es verlassen; alles schien ihm verwandelt. Er lachte plötzlich laut auf vor Glück, irgendwie musste er seinem überströmenden Gefühl Luft machen. Ihm war zumute wie jemand vor der Entscheidung zu einem ganz grossen Vorwärtskommen im Leben. Die Klänge der „Uralten Legende“ umbrausten ihn mit einemmal so stark und gewaltig, dass ihn schwindelte vor lauter Singen und Klingen. Am liebsten aber hätte er die Musik, die doch nur in ihm war, übertönt, sich an den Flügel gesetzt und selbst gespielt. Aber es war mitten in der Nacht.
Sein Schlaf war sehr unruhig, der Konzertabend und das Erleben, das sich daraus ergeben hatte, hatte ihm zu viele freudige Erregung ins Blut gejagt, dass diese Nacht einer Fiebernacht ähnelte. Aber nur an sich dachten seine erregten Gedanken, nur an sich, kein einziger Gedanke verirrte sich zu Karola Michael.