Читать книгу Die Walzerkönigin - Anny von Panhuys - Страница 4
Erstes Kapitel.
ОглавлениеHilde Tomiczek und Marta Stiller flüsterten und kicherten eifrigst und gingen wie zierliche Schatten durch das Dunkel des Vorfrühlingsabends.
In der Grabenstrasse war es still, nur ab und zu huschte ein Pärchen, das der linde Abend zu einem Plauderstündchen zusammengeführt, beim Nahen der beiden Mädchen auseinander. In der Kleinstadt muss man sehr vorsichtig sein, sonst ist man bald in aller Mund; der Klatsch hat schon manches junge jubelnde Glück zu Fall gebracht, dass es sich nimmer wieder erheben konnte. Nimmermehr. Darum huschten die Pärchen bei näherkommenden Schritten so jäh auseinander.
Die Grabenstrasse war zu Ende, vor den beiden Mädchen breitete sich der Düppelplatz. Rings um den kleinen Platz standen Lindenbäume, doch streckten sich die Zweige noch kahl und leer gen Himmel.
Wenn man quer über den Platz ging, kam man in die Bahnstrasse, die Hauptverkehrsader des Städtchens. Die Mädchen sahen einen Moment wie unschlüssig nach der Richtung hinüber. In der Bahnstrasse brannten dreimal soviel Gaslaternen als in der Grabenstrasse, und Menschen gab es um diese Zeit dort auch. Aber man kam auch in Gefahr, Bekannte zu treffen, und in Schwärzestadt gehörte es noch weniger als sonstwo zum guten Ton, dass sechzehnjährige höhere Töchter um die neunte Stunde noch einen Strassenbummel machten.
Marta Stiller, mit dem langen dunkeln Zopf und der energischen Raubvogelnase, schob ihren Arm unter den der Freundin, und langsam schlenderten die beiden den Weg, den sie gekommen, wieder zurück. Das Kichern von vordem war zwischen ihnen verstummt, sie redeten von ernsten Dingen. Von Dingen, die ihre jungen empfänglichen Herzen stark bewegten.
„Weisst Du, Hilde,“ meinte Marta, „allzuweit darf ich meine Gedanken nicht spazieren führen, sonst wird mir bitterangst. Ach Gott, so viel ich mir schon Mühe gegeben habe, an Beredsamkeit fehlt es mir doch wahrlich nicht, es will und will mir nicht gelingen, Mutter den sondervaren Plan auszureden, mich Zahnärztin werden zu lassen. Weiss Gott, wie sie auf diese Idee kommt!“ — Mit festem Druck auf den Arm zwang sie die Freundin stehen zu bleiben. „Und ich tu’s und tu’s nicht,“ kurz und trotzig stampfte ein kleiner Mädchenfuss das holprige Pflaster. „So’ nen Beruf mag ich nicht, dazu hab ich kein Talent, nee. — Brr,“ sie schüttelte sich, dass ihr Zopf aufgeregt hin und her pendelte, „fremden Leuten im Mund herumfahren, das passt mir ganz und gar nicht, und für mich selbst brauch’ ich nicht Zahnärztin zu werden.“ Sie lachte plötzlich übermütig, so dass ihre kleinen gleichmässigen Zähnchen aufblitzten wie poliertes Elfenbein.
„Da hast Du recht, Marta, denn Du hast die schönsten Zähne, die ich bisher gesehen habe,“ sagte die blonde Hilde anerkennend und zog die Freundin weiter.
„Ja,“ nickte die andre, „meine Zähne sind schön, auch Haar und Augen sind nicht ohne, wenn nur die Nase nicht wäre,“ sie seufzte komisch, „Vater behauptet, als die Nasen verteilt wurden, da hätte ich nicht ein-oder zweimal, sondern mindestens ein dutzendmal ‚hier‘ gerufen.“
Nun lachten sie beide doch. Das ging ihnen immer so, ihren Ernst durchbrach meist rasch wieder ein übermütiges Wort. Dann plauderte Marta von ihrem Wunsch, Schauspielerin zu werden. Zu Hilde konnte sie davon sprechen, wenn sie es dagegen daheim einmal wagte, dann blickte man sie entsetzt an, als rede sie irre. — Mitten in das fröhliche Plänemachen tönte von der Peterskirche herüber tief und nachhallend ein Glockenschlag.
„Schon halb zehn,“ rief Marta Stiller erschreckt, „da ist’s Zeit, nach Hause zu gehen.“
Schneller schritten die beiden zu.
Vor einem schlichten zweistöckigen Hause machten sie Halt. Hilde öffnete von aussen den nur leicht angelehnten Flügel eines niedrigen Parterrefensters. Mit einer Bewegung, der man die lange Übung anmerkte, schwang sie sich dann durch das Fenster. Noch ein paar geflüsterte Worte, ein flüchtiger Händedruck, und Marta eilte davon.
Hilde sah, leicht aus dem Fenster gelehnt, der andern noch einige Augenblicke nach, bis das stumpfe Grauschwarz der öden Grabenstrasse die Freundin umfing und über ihr zusammenschlug.
Nun schloss das junge Mädchen das Fenster und tappte in ihrem finsteren Zimmerchen zum Tisch, wo Lampe und Zündhölzer standen. Eben wollte sie ein Hölzchen anstreichen, da liess sie die Rechte wieder sinken und hob lauschend den Kopf.
Feine getragene Geigentöne erhoben ihre Stimmen weich und kosend in langsamem Dreiachteltakt und schlangen sich zusammen zum Reigen, sangen süss und feierlich einen Walzer. Es war ein Walzer, der wenig gemeinsames hatte mit denen, die unsre modernen Operettenkomponisten der Bühne schenken. Ein Walzer rund und voll, und doch kam er daher wie wehe Klage, unendliches Leid. Lautes Schluchzen tönte daraus und überwindendes Lächeln. Über allem triumphierte aber eine hoheitsvolle Resignation, und ein befreites Sichlösen von allem Irdischen. Mit langgezogenem, sanft ersterbendem Mollakkord schloss der letzte Bogenstrich.
In Hildes dunkelm Zimmer zitterte der schwere weiche Akkord nach und hing machtvoll über dem kleinen Raum. Das Mädchen starrte mit grossen Augen in die Finsternis, und schwer atmend hob sich ihre junge Brust. Ihr war zumute, als hätte ihr einer ein Bekenntnis abgelegt — von Lust und Freude, vom Entsagen und siegreichen Überwinden.
Der so spielte, der hatte überwunden, der ersehnte nichts Grosses mehr von der Zukunft und sah allen kommenden Tagen ruhig entgegen. Und er, der so spielen konnte, war ihr Vater. Des Daseins Enttäuschungen lagen hinter ihm, weit, weit ...
Hilde erzitterte. Wenn er so spielte wie heute, dann fühlte sie ein Grauen vor der Zukunft, eine schreckliche, beklemmende Lebensfurcht umspann sie wie ein riesiges Netz, aus dem sie sich nicht mehr befreien konnte. In Gedanken erblickte sie die Freundin, wie sie vorhin in der Finsternis der stillen Strasse untertauchte. Und die abendliche Dunkelheit da draussen schien ihr plötzlich ein Symbol des Lebens, und ein Schauer machte ihren schlanken Körper frösteln.
Auch Hilde war auf ihren Wunsch seit Jahren von dem Vater im Geigenspiel unterrichtet worden, sie spielte Konzertstücke sauber und mit guter Technik. Auch hatte sie ein vorzügliches musikalisches Gehör; kaum vernommen, spielte sie des Vaters Walzerkompositionen nach. Aber das Seltsame, das Überwältigende, das seinen einfachen Walzern die Grösse gab, das war ihr nicht gegeben, davor stand sie machtlos.
Jetzt rieb sie schnell das Zündholz an, und nun flammte der Docht der Lampe auf und füllte mit beruhigendem Lichte den Raum.
Ein Lächeln huschte um den frischen Mädchenmund. Gott, welch ein Angsthase sie doch manchmal war. Wie konnte man sich vor dem Leben fürchten? Das musste doch bunt und farbenprächtig sein, stark und berauschend schön und voll von glücklichen Überraschungen.
Wieviel hatten Marta und sie schon über das Leben geplaudert. Alle ihre frohen Lebenshoffnungen hatten sie sich aufgebaut wie Weihnachtsgeschenke, die man sich selbst macht und dann trotzdem bestaunt. Und das Leben erschien ihnen wie ein köstliches Märchenbuch, in dem sie bald lesen durften nach Herzenslust. Marta schwärmte davon, eine grosse Schauspielerin zu werden, und zugleich eine grosse Dame mit seidenen Kleidern und seidenen Strümpfen, die sie wegwerfen würde, wenn auch nur das kleinste Loch darin war Gestopfte Strümpfe — oh, so etwas trägt „man“ doch nicht.
Hilde hatte dazu gutmütig gelacht, denn sie wusste genau: vorläufig trug Pastor Stillers Jüngste noch wollene Strümpfe, die ihr die Mutter strickte, und die gestopft wurden, solange es irgend ging. Aber auf den abendlichen Spaziergängen schwadronierte Marta gern ein wenig. Sie liebte überhaupt alles Besondere. So machten ihr diese abendlichen Spaziergänge, die sie mit Hilde unternahm, vielleicht nur Vergnügen, weil sie sich dazu heimlich aus dem Hause stehlen und wieder hineinschleichen musste. Das Gerade-ans-der-Haustür-gehen machte ihr keinen Spass, und darum gefiel es ihr, dass Hilde durchs Fenster ihren Weg nahm, obgleich dazu nicht der geringste Grund vorlag, denn Hildes Vater wusste von den kleinen harmlosen Ausgängen der Freundinnen. Darin waren sich nun beide Mädchen einig: das Selbstverständliche ihres Zusammenseins wurde anziehender, wenn es so einen kleinen Stich ins Ungewöhnliche erhielt.
Hilde fuhr sich mit der Bürste leicht über das vom Frühlingswinde verwehte Haar und blickte dabei in den Spiegel, der über ihrer Waschkommode hing. Matt und unsicher gab er ihr Bild zurück; das klare, sanfte Licht des Lämpchens hatte nicht Kraft genug, voll bis hierher zu dringen, doch zwei leuchtende blaue Augen guckten aus dem Spiegelglas, und über dem rötlich schimmernden Haar lag es wie Goldstaub, der schillernd aufblitzte. Und Hilde Tomiczek lächelte ihr Spiegelbild an.
Dann ging sie zum Vater.
Amtsrichter Tomiczek sass in einem tiefen Lehnstuhl. In der Linken hielt er nachlässig den Geigenbogen, und auf seinen Knien lag die braune Amati, die er einmal vor langen Jahren, da er noch ein junger Referendar gewesen, zufällig in einem Trödlerladen Berlins gekauft hatte. Wie sie dahin gekommen? Wer konnte es wissen. Not, Sorge und viel Verständnislosigkeit mussten das kleine Instrument an diese Stätte gebracht haben, denn wertvoll war die Geige, das hatte der junge Tomiczek damals beim ersten Blick herausgefunden. Manchmal meinte er, es müsse eine echte Amati sein, und wollte sie von Sachverständigen prüfen lassen, aber in letzter Minute scheute er immer wieder davor zurück — wenn die Sachverständigen entschieden, die Geige sei nicht echt, dann war er um eine geliebte Illusion ärmer. Also wozu? So blieb ihm der Glaube an seine Amati erhalten bis jetzt, da aus dem jungen Referendar ein alter Amtsrichter a. D. geworden war.
Als Hilde ins Zimmer trat, blickte der Vater auf.
„Nun, Mädel, zurück vom Spaziergang?“
Hilde nickte.
„Schon lange ... Ich habe zugehört ... als Du spieltest, Vater.“
Tomiczek erhob sich. Er war gross und schmal, und seine Figur neigte ein wenig nach vorn, wie ein hoher Baum, den anhaltender Sturm in der Jugend etwas gebogen.
Hilde liess sich auf einer kleinen Fussbank nieder und neigte sinnend und erwartungsvoll den feinen Kopf. Sie wusste, nun würde der Vater wieder spielen.
Leicht drückte er die Geige unters Kinn, und seine Linke umfasste zärtlich den Hals des Instrumentes, als sei es ein geliebtes, lebendes Wesen. Und der Bogen setzte an. Kurz, in tändelnd abgehacktem Staccato, neckisch im Dreiachteltakt flatterten die Klänge auf und jubelten ineinander, toll und aufreizend.
Wieder war es eine Walzermelodie. Allmählich ward der Bogenstrich länger, bedeutsamer, und in wiegenden Rhythmen, durch die zage, halbverschwommene Sehnsuchtsrufe brachen, zogen die Weisen hin.
Heisses unverstandenes Sehnen nach einem Etwas, für das sie keinen Namen wusste, quoll jäh in Hilde auf, und als der Alte Geige und Bogen sinken liess, da huschte sie zu ihm hin, legte ihre schmalen Arme um seinen Hals:
„Wie Du einem das Innerste zu rühren weisst, Vater, und wieder froh zu machen mit Deinen Walzern, das ist so wundersam und eigen. Wer Dich nicht gehört hat, der glaubt’s wohl niemals, dass ein Walzer so wirken kann.“
Und leise setzte sie hinzu: „Das ist sicher das böhmische Blut in Dir,“ und dann mit leisem Schelmenkichern: „Als Dein Vater sich damals naturalisieren liess, da vergass er, sein böhmisches Blut mit naturalisieren zu lassen. Und das Blut blieb böhmisch, Väterchen, das klingt und singt nun in Deinen Walzern.“
Sanft nahm sie dem Vater Geige und Bogen ab und zog ihn wieder in seinen Lehnstuhl nieder, schob sich die Fussbank herbei, und sass nun zu des Vaters Füssen.
„Ja, die Böhmen haben ihre Musik, die sitzt ihnen im Körper, im Herzen, und vibriert ihnen bis in die Fingerspitzen. Aus dem Herzen kommt ihr Spiel, und darum ergreift es so mächtig.“
Versonnen sagte es Hilde Tomiczek.
Der alte Mann neigte den scharfen Charakterkopf.
„Ja, Böhmens Königstraum ist wohl ausgeträumt für immer, aber in dem Spiel der Böhmen, da glüht es stolz und heimverlangend auf. — Du magst wohl recht haben, Kind, das böhmische Blut ist uns geblieben,“ und ihm fiel ein, durch wieviel Irrwege im Leben ihn dieses Blut gedrängt.
„Schade, Vater, dass so wenig von Deinen, Musiksinn in mir ist,“ klügelte Hilde, „es muss schön und erhebend sein, sich so wie Du in Tönen die Seele zu befreien.“
Da lächelte er bedächtig.
„Die Seele zu befreien! Kleine Hilde, noch beschwert ja nichts Deine Seele. Und dann,“ zögernd, überlegend, schob er die Worte nach, „hast vielleicht zudem auch eine Portion gut bedächtigen, märkischen Blutes von Deiner toten Mutter in den Adern.“
Er sah ins Leere und dachte an eine rundliche, blonde Frau, die gleichmütig einige Lebensjahre neben ihm hergelaufen war, und an die er sich manchmal erinnern musste, wie an einen braven, anständigen Weggesellen. Mehr war ihm seine Frau nie geworden.
„Noch beschwert ja nichts Deine Seele,“ wiederholte er sinnend noch einmal, „noch ist ja keine Lebenswoge bis zu Dir herangebraust. Höchstens ein winziges Wellchen hat Deine Füsse bespritzt. Wenn Grosses, Machtvolles fordernd zu Dir kommt, dann, Kind,“ er hob mit der Hand Hildes Kinn, „dann wird auch Dein Spiel mehr sein als nur eine Kette von Tönen — dann schwingt die Seele mit.“
Mit dem Ausdruck unendlicher Liebe und Güte legte er seine andre freie Hand auf das flimmernde dichte Haar der vor ihm Sitzenden.
„Tief und wahr wird Dein Spiel sein, aber eines gehört dazu, und das, das vergiss nicht. Es ist das Beste, was uns gehört — darauf gib acht, da lass den grauen Alltagsstaub nicht heran, das trage sorgfältig durch Dein Leben,“ ernst und bedeutungsvoll endete er, und seine Stimme ward fast feierlich: „Halt’ Dir die Seele rein, Mädchen!“