Читать книгу Die Walzerkönigin - Anny von Panhuys - Страница 5

Zweites Kapitel.

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Ein paar Wochen später stand Hilde Tomiczek an Marta Stillers Seite vor dem Altar der Peterskirche, um das Taufgelübde zu erneuern. Als Unterlage zur Konfirmationspredigt hatte der magere kleine Prediger Stiller den Spruch gewählt: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen!“ Hilde Tomiczek dachte an des Vaters Worte: „Halt’ Dir die Seele rein!“ Eigentlich bedeutete das beinahe dasselbe.

Der kleine schmächtige Pfarrer redete, und seine schmalen, langen, behaarten Hände griffen dabei ab und zu nervös in die Luft. An diese Bewegungen war seine Gemeinde gewöhnt. Hilde aber musste immerfort auf diese suchenden, zuckenden Hände sehen, es zerstreute sie, so dass sie von der Predigt wenig hörte. Nur der Spruch schwang ihr nach: „Selig sind, die reinen Herzens sind,“ und die sechs Worte tauchten, sich wiederholend, stets wieder in ihrem Geiste auf. Immer von neuem, sie konnte sich nicht mehr dagegen wehren.

Ein neugieriger, kosender Frühlingssonnenstrahl lugte scheu durch die hohen mit Heiligenbildern geschmückten Kirchenfenster, zwängte sich dann eifrig an all’ den blau und rot und golden gemalten Heiligen vorbei, wurde breiter und belichtete die Kanzel, auf der Prediger Stiller stand. Eine leuchtende Helle umgab den plötzlich. Hilde blickte mit jäh emporgerecktem Kopf auf den kleinen Mann mit den lebhaften Händen. In seinen Augen war eine fiebernde Unruhe. Und jetzt fanden seine Worte auch den Weg zu Hilde Tomiczeks Ohr.

Stark und befehlend klang die sonst nicht allzu kräftige Stimme Johannes Stillers, da er schloss:

„Darum, meine lieben Konfirmanden, wie auch die Schicksalspfade sein mögen, durch die Euch Gott im Leben führt — Kummer und Sorge bleiben ja keinem Irdischen erspart — Euer Herz, das haltet rein und klar, dass Gottes Auge sich darin spiegeln kann. Segnend mag er Euch immerdar führen, der Spruch, den uns der Sohn des Höchsten in seiner herrlichen, überwältigenden Bergpredigt gab: „Selig sind, die reinen Herzens sind,“ er schrie es beinahe, und wie zögernd und abgehackt glitt es hinterher: „denn sie werden Gott schauen.“

Wie unter einem Bann hatten alle gesessen, die Alten und die Jungen. Ein hörbares Aufatmen ging durch die dichtbesetzten Bänke.

Marta raunte der Freundin zu: „So habe ich den Vater niemals reden hören, hab’ nicht einmal geahnt, dass er das kann.“

Und gerade wie ihre Worte verklangen, schwand der Sonnenstrahl auf der Kanzel; sich stützend über die Brüstung geneigt, lehnte ein mageres grauhaariges Männchen mit müdem Gesicht und stumpfen Augen ...

Am andern Tag hat sich Johannes Stiller ertränkt im kleinen Teich, tief drinnen im Eichenwald. Im schlammigen Wasser, das immer wie mit grüner Patina überzogen aussah, hat er Ruhe gesucht. Ruhe gesucht, weil er nicht reinen Herzens gewesen.

Er hatte die Kirchenkasse angegriffen.

Die grosse Familie war schuld daran. Drei Söhne studierten, das kostete viel Geld, und wenn man im Predigerhaus auch Pensionäre hielt, die das Gymnasium in Schwärzestadt besuchten, es reichte nie so recht So mag es gekommen sein, dass Johannes Stiller sein reines Herz verlor und es sich in dem ecklen schlammigen Teich wieder rein spülen wollte ...

Niemals schwand aus Hilde Tomiczeks Gedächtnis das Bild des kleinen Mannes, wie er auf der Kanzel stand und mit seinen nervösen Händen ins Leere griff. — — —

Marta Stiller ging in schwarzen Trauerkleidern und kam oft in das kleine Haus, das Amtsrichter Tomiczek mit seiner Tochter bewohnte. Hilde versuchte mit aller Kraft, die Freundin auf andre Gedanken zu bringen. Doch die vermochte über das tragische Ende des Vaters nicht hinwegzukommen, ihr junges Gesicht war starr und undurchdringlich, und ihre Augen fanden keine Tränen.

„Wenn ich nur wüsste, wie ich Dich einmal zum Weinen brächte,“ sagte Hilde, „das würde Dir gut tun und Dich befreien,“ — aber wie sie es auch anfing, Martas schwarze Augen blieben trocken, und um ihre Mundwinkel lag ein verbitterter Zug.

„Mich bringt so leicht nichts zum Weinen,“ hatte sie erwidert, „überhaupt kannst Du es Dir merken, dass ich das Wort „Gefühl“ aus meinem Zukunstswörterbuch ausgeschaltet habe.“ Und in auflodernder Leidenschaft zuckte es ihr vom Munde: „Warum soll ich einem nachweinen, der so an Frau und Kindern gehandelt hat. Und wenn’s tausendmal mein Vater gewesen ist — das durfte er nicht tun, das nicht. Nun hat er uns allein gelassen, feige geflüchtet ist er aus dem Leben, und uns ist die Verachtung der Menschen geblieben.“

Dicht trat sie vor Hilde hin, und ihre Fäuste ballten sich, als müsse sie einem ins Gesicht schlagen.

„Verachtung! Weisst Du, wie das weh tut? Hast Du eine Ahnung, wie das erbittern kann, wie das an einem wurmt und frisst, wenn man über die Strasse geht und in aller Vorübergehenden Blicke Verachtung liest? Verachtung — für die Tochter des Diebes Johannes Stiller.“

Wutverzerrt war das schmale blasse Gesicht, und Hilde wusste nicht, wie sie diesem Ausbruch begegnen sollte.

„Niemand verachtet Dich, Liebste, niemand. Herzliches Mitleid haben alle mit Dir und den Deinen,“ versuchte sie zu trösten.

Da lachte Marta kurz und hässlich. Voll Hohn war dieses Lachen.

Im Nebenzimmer zitterte ein langer Bogenstrich auf und zog in wiegendem Gleichmass schwere dämmersüsse Doppelklänge nach. Auf und nieder wegten die Töne, beschwörend hoben sie ihre Stimmen gleich düsteren Anklagen. Ein schriller unvermittelter Aufschrei der Quinte — dann rauschten liebliche Dreiklänge selig beruhigend auf. Dazwischen gellte, ein paarmal noch, doch immer leiser, wie ersterbend, der heisse Aufschrei, bis er endlich erlosch, sich verlor in einem freundlich sanften Pizzicato.

Marta stand noch immer vor der blonden Hilde, doch die geballten Fäuste hatten sich geöffnet, das erst so blasse Antlitz war gerötet, und aus den Augen lösten sich langsam zwei grosse, leuchtende Tränen. Dann weinte Marta Stiller; ein tiefes, heilig tiefes Weinen um den Vater war es.

Was der Mutter verhärmte Züge, aus denen eine stumme Bitte sprach, nicht vermochte, was den gütigen Reden der Freundin nicht gelungen war, das erreichte der alte Amtsrichter Tomiczek mit einem seiner seltsamen, selbstkomponierten Walzer. Marta hatte die Tränen wiedergefunden, und Johannes Stiller konnte ruhig schlafen unter seinem Hügel — seine Jüngste, sein Liebling hatte ihm vergeben.

Hilde Tomiczeks Herz schlug höher vor Stolz über des Vaters Macht. Traurig nur stimmte es sie, dass ihr diese Macht nicht gegeben war. Wie oft sie es auch versuchte; des Vaters Kompositionen wurden unter ihren Fingern nette liebe Walzer, die sich wohl ein wenig schmeichlerisch ins Ohr stahlen; das, was der alte Tomiczek daraus zu machen wusste, das lag für Hilde weltenfern.

„Unerreichbar!“ meinte sie. —

Hilde hatte recht gehabt, man zeigte in Schwärzestadt das innigste Mitgefühl mit dem Schicksal der Familie Stiller. Die angesehensten Bürger des Städtchens führten Frau Stiller Pensionäre zu; Söhne von ausserhalb wohnenden Freunden und Bekannten. Marta musste nun tüchtig im Haushalt zur Hand gehen, und die beiden Frauen brachten sich ganz gut durch, ohne besondere Freuden allerdings, aber auch ohne besondere Sorgen.

Frau Stiller gab sich, als der erste Schmerz um den Gatten abgeklungen war, damit zufrieden, doch in Martas Feuerkopf brodelten immer neue Gedanken auf, wie sie dem tödlichen Einerlei entrinnen könne. Bis zum achtzehnten Jahre sollte sie zu Hause bleiben und sich dann in Berlin zur Dentistin ausbilden. Von dieser Idee war Frau Stiller, trotz aller Bemühungen ihrer Tochter, nicht abzubringen.

„Das ist ein Beruf, der wirklich lohnend ist,“ meinte sie, „denn eine tüchtige Dentistin kommt überall durch. Hier in Schwärzestadt würdest Du sicher bald viele bekannte Damen zu Klienten haben, und bedenke, Marta, mit den Kindern käme man sicher zu Dir. Die Frau versteht es doch viel besser, Kinder zutraulich zu machen, nicht wahr? Und wie schön wäre das, wenn Du Dich hier niederliessest; Du hast Deine gute Praxis, ich sorge für den Haushalt, und wir leben ruhig und friedlich zusammen.“ Ein stilles Leuchten verklärte ihr Gesicht bei solchen Zukunftsträumen.

„Dann möchte ich schon lieber Lehrerin werden,“ warf Marta ein.

„Du lieber Gott, da hast Du nicht viel Aussicht, Lehrerinnen gibt’s so viele, und Dich studieren zu lassen, dazu hab’ ich nicht die Mittel. Und nun gar Deine verrückte Grille Schauspielerin zu werden — da gebe ich nicht nach, Marta, das kannst Du von mir nicht verlangen! Dein Vater war Prediger,“ setzte sie vorwurfsvoll hinzu, und während sie das letzte sagte, trat die Erinnerung vor sie hin und schielte mit falschen bösen Augen die bleiche Witwe an.

Und siedendheiss stieg die Scham in ihr auf. Sie schlug die arbeitsharte Hand vors Gesicht, und ein lautloses Schluchzen durchrüttelte die gebrechliche Gestalt wie Fieberfrost. Der Prediger Johannes Stiller, der ihr Mann gewesen, war ja zum Dieb geworden — er hat das Kleid, das er getragen, entweiht. —

Warmes Mitgefühl ergriff Marta; sie vermochte nicht, die hilflose Mutter ungetröstet leiden zu sehen. Da versprach sie alles, was sie von ihr forderte.

Gut, sie würde Dentistin werden. — Noch waren es ja ein paar Jahre bis dahin! Die Beweglichkeit und Schwungkraft ihrer sechzehn Jahre erfüllte sie mit allerlei vagen Hoffnungen, sie malte sich aus, wie vieles sich noch ereignen könne, bis es soweit war.

Und die Zeit ging hin, ein Tag reihte sich an den andern zu gleichmässiger Kette. Die formte sich zu Monaten und hängte sich zusammen zu Jahren. Martas achtzehnter Geburtstag stand bevor.

Am Tage neckte sich Marta mit den Pensionären und tollte mit ihnen herum gleich einem ausgelassenen Buben. Des Abends aber, wenn die Lichter im Stillerschen Hause erloschen waren, sass sie über die Klassiker gebeugt und las mit glühenden Wangen Goethes und Schillers Dramen. Kleist und Grillparzer wurden ihr lebendig, und ihr kleines Zimmer füllte sich mit bunten Gestalten — grüssend zogen sie an ihr vorüber, die sie gerufen mit seliger, banger Sehnsucht.

So spann die dunkelhaarige, überschlanke Marta Stiller nächtens in ihrem Stübchen wonnige Ruhmesträume, und während Schwärzestadts brave Philister längst in tiefem Schlafe lagen, schimmerte blitzend, wie ein funkelndes kleines Sternchen, ein einsames Licht durch die Rolljalousien von Prediger Stillers Häuschen. Und Schwärzestadts Nachtwächter, der mit seinem Karo vorüberwanderte, schüttelte zuweilen sinnend sein weisses Haupt, wenn das Lichtsternchen gar so aufdringlich durch die Spalten der Jalousien leuchtete ...

Manchmal schwärmte Marta der Freundin vor, und dann legte sie die blassen Hände zusammen wie zum Gebet; ein glückliches Lächeln trat um ihren Mund, als höre sie schon das Beifallsrufen einer freudigen Menge, die ihr zujubelte, ihr, der berühmten Schauspielerin Marta Stiller.

Zuweilen erschien sie des abends bei Hilde und bat den alten Tomiczek etwas zu spielen. Bach und Haydn spielte er den Mädchen oder ein feuriges Stücklein von dem Geigerkönig Sarasate, aber das wunderlichste blieben doch des Spielers eigene Walzer.

Einmal fragte Marta, warum man denn in der Öffentlichkeit nichts von seinen Kompositionen wisse.

Scheu und erschreckt wich der Alte dieser Frage aus, denn sie rührte an eine alte Wunde, die längst nicht mehr blutete, längst vernarbt war, an die er aber dennoch nicht gern erinnert wurde, weil mit der Erinnerung so vieles mit herauf kam, das am besten hinter der Tür der Vergangenheit blieb. Aber den wiederholten Bitten der Mädchen konnte er auf die Dauer nicht widerstehen, und so erzählte er an einem stillen Abend doch, warum es für die grosse Welt da draussen niemals einen Tonkünstler Tomiczek gegeben.

„Ich muss weit ausholen,“ begann der alte Mann, — „bis zu meiner frühesten Jugend. Meine Vorfahren waren tschechischen Ursprungs und wohnten in Prag. Durch Verheiratung mit einer Deutsch-Böhmin siedelte sich einer von ihnen, mein Grossvater, in ihrer Heimat, dem Dorfe Tyssa, an, das in der Nähe der sächsischen Grenze liegt. Sein einziger Sohn, mein späterer Vater, ein blutjunger Architekt, desertierte, da er seiner Soldatenpflicht genügen sollte, nach Preussen, und machte sich hier in Schwärzestadt, wo ihn der Zufall landen liess, sesshaft. Er war tüchtig in seinem Berufe. Nachdem er einige Zeit bei einem Bauunternehmer gearbeitet hatte, fing er an, selbständig Bauten zu übernehmen. Das Glück war ihm günstig, — viel Konkurrenz gab’s in jener Zeit hier nicht, — und so schaffte er sich mit seinem Fleiss und seiner Energie bald ein kleines solides Vermögen. Indes hatte Österreich die Spur des Deserteurs gefunden. Mehrere Briefe flogen zwischen Österreichs Militärverwaltung und Schwärzestadts Bürgermeisterei hin und her, doch löste sich die Sache friedlich, mein Vater wurde nicht ausgeliefert. Er verheiratete sich hier und wurde auch naturalisiert. Ich besuchte hier das Gymnasium, machte mein Abiturientenexamen und sollte Jura studieren. Ich liebte damals schon die Musik mit jeder Fiber, aber alle Mühe, die ich mir gab, den starrköpfigen Vater zu bewegen, mich der Musik ganz widmen zu dürfen, war nutzlos. Bisher hatte er nichts dagegen gehabt, dass ich Geigenunterricht nahm, nun aber erklärte er mein Üben für Zeitverschwendung und mein Spiel für elende Fiedelei.

„Willst wohl ein Bierfiedler werden, so ein armseliger Stadtmusikant,“ höhnte er, und einmal, da wir wieder deshalb in Streit gerieten, schlug er meine Geige in Trümmer. Mein Vater war heftigen Temperaments, und wenn er auch äusserlich gut preussisch war, innerlich ging ihm das Tschechenblut heiss durch die Adern. — Endlich gab ich nach, der Mutter Bitten hatten mich bezwungen, und ich bezog die Universität. Alles wickelte sich glatt ab, ich machte meine Examen, ging den vorgeschriebenen Weg bis zum Amtsrichter. Ein hervorragender Richter ward ich nicht, nur einer in der Menge, die man zum Durchschnitt zählt. — In vielen kleinen märkischen Städtchen habe ich ein paar Lebensjahre liegen. Gleichgültige, arme Jahre.“

Der alte Mann blickte sinnend vor sich nieder, dann blitzten seine Augen auf im Glanze einer stolzen Erinnerung.

„Einmal aber war mir doch etwas Schönes beschieden,“ sagte er bewegt, „etwas Schönes und zugleich Trauriges. Das war, als ich Martin Wollenstedt, einen unsrer besten Komponisten, kennen lernte und ihm meine Walzer vorspielte. Ganz zufällig gab sich das so. Wir wohnten beide vorübergehend in Berlin in derselben Pension. Ja,“ ein leichter Flor legte sich über seine Augen, „das war meine schönste und schwerste Stunde damals. Denn der Mann, der als einer der Ersten im Reich der Musik galt, sagte mir, dass meine Walzer ihm eine Offenbarung gewesen, wie die echte melodienreiche und doch gehaltvolle Operettenmusik beschaffen sein müsse. Er versuchte mich zu überreben, dass ich meine Walzer herausgebe, alles Nötige wollte er veranlassen. Ruhm und Ehre prophezeite er mir, — doch ich konnte seinem Wunsche nicht nachgeben. Nun nicht mehr. Ich war zu alt dazu geworden, zu schwerfällig. Das, was das Glück meiner Jugend hätte werden können, würde mir altem Manne nur unnötige Sorgen geschaffen haben. Vielleicht wär’s eine Enttäuschung geworden — und ich fühlte mich nicht mehr stark genug, solche Enttäuschungen zu ertragen. Meinen Frieden, den ich in all den langen Jahren gewonnen, den wollte ich nicht auf’s Spiel setzen. So blieb denn der Walzerkomponist Vincenz Tomiczek der Welt ebenso unbekannt wie seine Weisen,“ schloss der alte Amtsrichter und fügte leise hinzu: „Vielleicht war es die Geschichte eines verlornen Lebens, mit der ich eben Eure Jugend beschwert habe, vielleicht aber war es gut, dass alles für mich so gekommen ist.“ — — — —

Die Vergangenheit wirkte in die Gegenwart hinein, des Amtsrichters Erzählung trug eine merkwürdige Frucht.

Am andern Tag nämlich war Marta Stiller spurlos aus Schwärzestadt verschwunden.

Die Walzerkönigin

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