Читать книгу Die Walzerkönigin - Anny von Panhuys - Страница 7

Viertes Kapitel.

Оглавление

Hilde waren nach des Vaters Tode nichts als einige hundert Mark geblieben, die Möbel und seine Geige, von der man ja nicht einmal wusste, ob es eine echte Amati war ...

Sie mietete sich eine kleine Wohnung, — und versuchte Geigenunterricht zu geben, doch es wollten sich keine Schüler finden. In Schwärzestadt hatte man kein Zutrauen zu einer so jungen Musiklehrerin. Da zog man Kantor Beeskow oder Stadtkapellmeister Jasmann vor.

Hildes Kasse schmolz immer mehr zusammen, und von weitem glaubte sie schon das graue Medusenantlitz der Not zu erblicken. Da entschloss sie sich, ihre Möbel zu verkaufen und nach Berlin zu ziehen, das von Schwärzestadt nur durch eine knappe Stunde Bahnfahrt getrennt war. In der Millionenstadt, hoffte sie, würde es ihr besser gelingen, Schüler zu erhalten.

Ein Versuch, vorher Martas Rat einzuholen, war missglückt. Sie hatte den Brief der Freundin lange unbeantwortet gelassen, und da sie nun schrieb, erhielt sie ihr Schreiben mit dem Postvermerk „Adressatin nicht aufzufinden“ zurück. Wer wusste, wie weit ins Land hinein Emmerich Gross seinen Thespiskarren inzwischen gerollt hatte ...

An einem eisigkalten Januarmorgen entstieg Hilde Tomiczek einem Abteil dritter Klasse, und wenige Minuten darauf stand sie, den Geigenkasten in der Linken, die Handtasche in der Rechten vor dem Hauptportal des Stettiner Bahnhofes. Vorgestern hatte sie sich bereits in der Mittelstrasse ein Zimmer gemietet. Ganz zufällig hatte sie die Annonce der Vermieterin in die Hände bekommen. — Ihr grosses Gepäck hatte Hilde direkt in die Wohnung abgesandt. Nun bestieg sie, da sie aus der Fahrtrichtung der vielen elektrischen Bahnen nicht klug zu werden vermochte, eine Droschke, die sie nach kurzer Fahrt ans Ziel brachte.

Vor einem hohen Hause, das sich äusserlich wenig von den Nachbarhäusern unterschied, hielt der Wagen. Hilde stieg zwei Treppen hinauf und läutete.

„Das wird die Neue sein,“ hörte sie eine scharfe Frauenstimme sagen, und ein Spalt in der Tür öffnete sich. Dann wurde Hilde eingelassen, und Frau Jädicke führte sie gleich in ihr Zimmer. Doch blieb sie bald wieder allein, da die Wirtin nach dem Essen sehen musste, wie sie erklärte.

Nun befand sich Hilde Tomiczek in ihrem neuen Heim. Was würde ihr hier die Zukunft bringen?

Ein kleines Hinterstübchen war es, das Hilde fortan bewohnen sollte. Billige Öldruckbilder hingen an den Wänden, und über die Tischlampe stülpte sich ein leuchtend grüner Papierschirm. Eine Girlande von künstlichen Schneeballen zog sich um den Spiegelrahmen. Dies alles war Hilde beim Mieten neulich nicht besonders aufgefallen, jetzt taten ihr diese Geschmacklosigkeiten förmlich weh.

Ich will Frau Jädicke bitten, diese hässlichen überflüssigen Dinge fortzunehmen, dachte Hilde, während sie langsam Hut und Jackett ablegte. Dann sah sie sich weiter um, ängstlich erwägend, wie sie das Zimmer ein wenig gemütlicher machen könne. Etwas Fremdes, Heimatloses lag über dem Raume, das machte sie frösteln.

Das ist das Ungewohnte, versuchte sie sich selbst Mut einzureden, und dabei rollten ihr die Tränen über die Wangen. —

Frau Jädickes dicke Figur schob sich nach energischem Anklopfen, ohne das „Herein“ abzuwarten, durch die Tür.

„Na nu, Jotteken, wo fehlt’s denn,“ rief sie, die Hände zusammenschlagend, „warum weinen Sie denn? Wenn man so hübsch und so jung is, sollte man noch jar nich wissen, wie so’n Salzwasser brennen kann.“

Täppisch gutmütig legte sie Hilde die Hand auf die Schulter.

„Aber Sie erzählten mir ja, dass Ihr Vater jestorben is, lieber Jott, das will durchjemacht sind, vor so wat bleiben wir alle nich verschont. Nu aber Kopf hoch, Fräulein, in Berlin ist noch jeder durchjekommen, der ehrlich un willig wat tun wollte. Passen Sie mal auf, wie schnell Sie hier Schüler finden. Die Hauptsache is, dass Sie vorläufig ’n Notjroschen haben. So für die erste Zeit.“ —

Zögernd sagte sie es, wie vorsichtiges tastendes Fragen war das, doch Hilde hörte nur das Mitgefühl aus der Frau sprechen, nicht die Angst, ob die neue Mieterin auch pünktlich ihre fünfundzwanzig Mark bezahlen konnte.

Sie nickte und ihre Tränen rieselten langsamer. Ja, einen Notgroschen habe sie. — Da neigte Frau Jädicke bedächtig ihren runden Kopf.

„Na also, denn man keine Bange nich, es wird schon werden. Übrigens kam ich nicht aus Neujier, ich wollte man bloss fragen, ob Sie heute bei uns mitessen möchten, ’s jibt Königsberger Klopse, die isst mein Mann fürs Leben jerne. Un Suppewürfel ha’ ich auch, da mach ich für Sie ’ne Tasse Brühe.“

Die Fürsorge der Frau tat Hilde gut, und sie erklärte sich einverstanden; da ihr das Essen schmeckte und Expedient Jädicke sich als ein freundlicher Mann entpuppte, mit dem man sich nett unterhalten konnte, nahm Hilde fortan ständig am Mittagstisch der Familie Jädicke teil. — —

Schüler meldeten sich nicht, trotz aller Bemühungen Hildes, welche zu bekommen. Sie übte fleissig, hoffte von einem Tag zum andern auf einen Erfolg, und dabei schmolz ihr Geld langsam zusammen. Sie hatte sich verschiedene Kleidungsstücke anschaffen müssen, auch Stiefel, und dazu gesellten sich allerlei unvorhergegesehene Ausgaben. Einige Male hatte sie auch Konzerte besucht, um gute Geiger zu hören. Da sie nicht allein gehen mochte, bat sie Frau Jädicke, sie zu begleiten. Das kostete alles Geld, und sie besass so wenig. Mit einer fürchterlichen Angst erwachte sie zuweilen des Nachts und malte sich in den krassesten Farben aus, was wohl geschehen würde, wenn das letzte Zwanzigmarkstück gewechselt war.

Und der Tag brach an, da es soweit war. Ein hässlicher, verregneter Tag war es. Hilde lag auf dem schmalen Sofa ihres Hinterzimmers und zermarterte sich den Kopf, was nun werden sollte.

Nebenan in dem grossen Eckzimmer mit dem Balkon rumorte es lebhaft. Dieses, sowie ein daneben befindliches Schlafzimmer, hatte der Filialleiter eines grösseren Geschäftes lange bewohnt, doch der war nach auswärts versetzt worden, nun standen die Zimmer schon einen halben Monat frei. Heute waren sie wieder bezogen worden.

„Eine pikfeine Dame,“ prahlte vorhin Frau Jädicke, „mit echtem Pelzmantel un riesije Brilljanten in die Ohren. Sie singt im Sommerjarten und verdient klotzijes Jeld. Die im Sommerjarten kriegen ja alle Jehälter — Jehälter sage ick Sie ... Schade, dass Sie so was nich können!“ klang ihre Rede bedauernd aus.

Hilde hatte darauf nichts erwidert, aber die Worte hatten sich in ihr Gehirn gebohrt. Nein, sie konnte so was nicht, sie konnte überhaupt gar nichts, ausser dem bisschen Geigenspiel, und das war zu nichts nütze, wie sie die Erfahrung gelehrt hatte.

„Wer wohnt denn ausser mir noch bei Ihnen?“ erklang jetzt nebenan eine volle Altstimme.

Hilde verstand nicht, was Frau Jädicke antwortete, sie fühlte aber, etwas Schmeichelhaftes für sie konnte es nicht sein, denn die Altstimme sagte: „O, mon dieu, das ist ja sehr traurig.“

Hilde Tomiczek steckte sich die Finger in die Ohren, sie wollte nichts hören, nichts ...

Am andern Vormittag begegnete sie ihrer neuen Zimmernachbarin, die, eben von einem Ausgang zurückgekommen, mit Frau Jädicke auf dem Flur plauderte.

Ein dunkles pikantes Gesicht wandte sich Hilde zu und die sympathische Altstimme beantwortete liebenswürdig ihren kurzen Gruss.

Hilde blieb, da sie das Gespräch nicht stören wollte, einen Augenblick unschlüssig stehen, dann sagte sie leise zu der Wirtin:

„Ich möchte Sie nachher gern etwas fragen, Frau Jädicke.“

Sie beabsichtigte, ihre Uhr und ein paar Ringe zu verpfänden, um sich Geld zu schaffen und wollte die Frau um Rat fragen, trotzdem ihr eine Ahnung zuraunte, dass sie nach solcher Frage wohl bald die Gunst der biederen Frau verscherzt haben dürfte.

Die Fremde mit dem rassigen Gesicht blickte Hilde forschend an und lächelte:

„Verzeihen Sie, Mademoiselle, wir wohnen so dicht nebeneinander, dass ich es daraufhin wage, Sie um eine Gefälligkeit zu bitten. Ich muss jetzt schleunigst auspacken, vite rasch. Demain soir, heisst morgen Abend, trete ich auf, da will ich heute mes robes, hm, meine Kleider ordnen und Madame Jädicke hat jetzt zu tun —“

„Sauerkraut un Bratwurst jibt’s,“ warf die Frau ein.

„Möchte ich Sie bitten,“ fuhr die Fremde einen Schritt näher tretend, fort, „mir beim Auspacken ein bisschen zu helfen, vorausgesetzt, Ihre Zeit gestattet es Ihnen.“

Ehe Hilde darauf eine Erwiderung gab, lachte Frau Jädicke: „Jewiss hat sie Zeit, mehr als ihr lieb is, wat, Fräulein?“

Hilde zuckte zusammen, der geringschätzende Unterton, der in der Bemerkung lag, empörte sie; die kluge Wirtin hatte wohl längst schon bemerkt, dass der Notgroschen ihrer Mieterin aus dem Hinterzimmer zu Ende ging. Nein, diese Frau konnte sie nicht um Rat angehen.

Die Sängerin musste begriffen haben, was in der andern vorging. Freundlicher noch als vordem sagte sie:

„Bitte, helfen Sie mir, wir alleinstehenden Frauen müssen uns doch gegenseitig unterstützen, n’est ce pas?“ Und sie öffnete die Tür ihres Zimmers und schob die zierliche Blondine sanft über die Schwelle.

So machte Hilde Tomiczek Bekanntschaft mit Marion de Clermont, die als französische Excentrique-Sängerin im Sommergarten auftrat.

Marion de Clermont war von Geburt Elsässerin, und stammte aus einer alten Artistenfamilie. Als kleines Ding tanzte Marion auch auf dem Seil, später wandelte sie zum Varieté hinüber, sang kleine Lieder in kurzen Tüllröckchen und tanzte ein paar kecke Pas dabei. Grazie und Charme waren ihr angeboren. Kaum erwachsen, zog sie denn eines Tages singend und tanzend in einem kleinen Vorstadtvarieté von Paris ein. Es gelang ihr, durch die frische, drollige Art, wie sie die gewagtesten Sachen vortrug, dem Publikum zu gefallen. Sie wurde für das Vorstadtvarieté so etwas wie ein Star. Irgend ein Berichterstatter brachte einen langen Artikel über sie in einer guten Zeitung, und nun interessierten sich die bedeutendsten Agenten mit einem Male für Marion de Clermont. Man riss sich bald um sie, und ihre Monatsgage erreichte längst eine vierstellige Zahl.

In gutem Deutsch, das ihr als Elsässerin ebenso geläufig wie französisch war, — nur einige französische Worte, die sie sofort in drolliger Weise wieder übersetzte, rankten sich graziös wie schillernde Blumen hindurch, — erzählte die Sängerin der lauschenden Nachbarin aus der Hinterstube ihren Lebenslauf. Mit staunenden Augen bewunderte Hilde jetzt die eleganten Kleider, die von der Marion vorsichtig den riesigen Koffern entnommen und vorläufig über Stühle und Sofa gelegt wurden.

Meine Bühnentoiletten sind bereits im Sommergarten,“ plauderte sie anmutig. „Schwer werd ich’s haben quelques jours, ja einige Tage, meine Zofe ist krank geworden in Hamburg, sie kommt erst nach, bientôt, bald hoffe ich. Sie lachte sorglos. „Ca, ne fait rien, aber das macht nichts. Autrefois, früher wusste ich ja gar nicht was eine Zofe war.“

Hilde versuchte, ein paar belanglose Worte zu erwidern, aber es wurde nur ein törichtes unbeholfenes Stammeln.

Was wollte die überhaupt von ihr? Ihr nur ihren Reichtum und ihr Glück zeigen. Denn das mit dem „Helfen beim Auspacken“ war nur eine Redensart gewesen, sie mit ins Zimmer zu locken. Was möchte die Wirtin vorhin über sie zu der Sängerin gesagt haben, dass die sich jetzt an ihrer Armut weiden wollte.

„Ach, s’il vous plaît, bitte, bitte, legen Sie diese Bluse dort über den Stuhl,“ bat Marion jetzt und hielt ihr ein reich besticktes flimmerndes Etwas aus zartestem Seidentüll hin.

Hilde tat mechanisch, wie ihr geheissen, aber Empörung wallte dabei in ihr auf, das konnte die Sängerin wahrlich allein tun, und schnell und kühl sagte sie: „Ich will nun gehen, viel zu helfen vermag ich doch nicht, ich stehe Ihnen nur im Wege,“ sie schritt zur Tür. Doch ehe sie diese erreichte, war Marion an ihrer Seite und gedämpft schlug es ihr ans Ohr:

„Bleiben Sie, bitte. Vous savez, Sie verstehen, ich sehe es Ihnen an, dass ich Sie nicht des Auspackens wegen gebeten habe. Mais, aber — man traut sich nicht recht an Sie heran, Sie haben so etwas unbändig Stolzes.“ Sie zog Hilde sanft ins Zimmer zurück, schob die kostbaren Kleider, die das Sofa bedeckten, achtlos beiseite und drückte Hilde auf die Polster nieder. Sie nahm neben ihr Platz, und ein feines unaufdringliches Parfüm schmeichelte sich um Hildes Sinne.

Was will sie nur von mir? dachte Hilde Tomiczek gequält.

Und neben ihr begann die warme, tiefe Frauenstimme wieder zu sprechen:

„Ich möchte nicht viele Worte machen, sondern Ihnen erklären, warum ich Interesse für Sie habe. Ich weiss von Frau Jädicke, dass Sie Sorgen haben, weil Sie keine Schüler bekommen und wieviele Zeit Sie schon warten. Mon dieu, mein Gott, so viele patience, will sagen Geduld, hält’ ich nicht gehabt. Und nun ist Ihr Geld zu Ende.“

Hilde wollte aufspringen, doch eine weiche Hand verhinderte sie daran, und die Stimme raunte weiter, ein bisschen Spott zitterte hindurch:

„Wirtinnen, die ihre Miete brauchen, haben scharfe Augen — ich kenne das von früher. Ah,“ ein leiser Seufzer stieg auf: „Je le sais, ich weiss, wie das tut, wenn man Sorgen hat, autrefois, früher habe ich viele gehabt, und weil ich das kenne, darum möchte ich Ihnen helfen. Sie sind so jung und so blond und so hübsch, Sie sollen keine sottises, ich meine Dummheiten machen mit sterben und so.“

Hilde senkte schuldbewusst die Wimpern.

„So!“ Ganz lang dehnte die Sängerin dieses „so“. „Also Sie haben schon daran gedacht, an das Letzte. Armes Ding,“ ihre Stimme bebte, „armes Ding, ja das Leben ist unbarmherzig, zu einem zu gut und zum andern zu schlecht. Das müssen wir Menschen ein bisschen ausgleichen.“ Sie legte einen Arm um Hildes Schulter: „Sehen Sie mich an, bitte, und sagen Sie sans gêne, bin ich Ihnen unsympathisch?“

Hilde blickte in ein Paar klare, dunkle Augen, die sich gütig und verstehend in die ihren senkten. Wie eine warme Welle köstlicher reiner Menschenliebe floss es von dieser fremden Frau zu ihr herüber, und leise schüttelte sie den Kopf.

„Ich bin Ihnen also nicht unsympathisch, nun dann ist alles in Ordnung. Ich gefalle Ihnen, und Sie gefallen mir,“ frohlockte die Sängerin, „da wollen wir fortan Freundinnen sein. Und nun ich Ihre Freundin bin, darf ich Ihnen auch raten und helfen, nicht wahr?“ Und ohne die andre zu Wort kommen zu lassen, sagte sie drollig: „Ja, nun sind wir gute Freundinnen, aber ich weiss nicht einmal, wie meine Freundin heisst.“

Hilde lachte laut auf, aber in ihren Augen schimmerte es verdächtig.

„Hilde Tomiczek heisse ich,“ sagte sie.

„Hart klingt der Name, fremd und apart,“ fand die Sängerin, „wenn Ihr Geigenspiel so fremd und apart wie Ihr Name ist, dann hätt’ ich einen herrlichen Plan, dann wär’s gleich mit den Sorgen aus,“ schloss Marion überlegend.

Hilde hatte keine Ahnung, was Marion meinte, doch das beglückende Gefühl, so plötzlich eine Freundin zu besitzen, einen Menschen auf der weiten, grossen Gotteserde, dem sie sich anvertrauen durfte, machte sie vorläufig schon glücklich.

„Holen Sie Ihre Geige, Hilde, und spielen Sie mir vor,“ bat Marion, und Hilde folgte dem Wunsche. Was sie von Konzertstücken auswendig konnte, spielte sie der neuen Freundin vor.

„Ich bin nicht musikalisch genug, Ihr Spiel richtig einzuschätzen,“ meinte die Sängerin, „nur so viel finde ich heraus, Sie waren sehr fleissig und haben viel gelernt.“

Sie sah sinnend vor sich hin. Es war, als wollte sie Hilde irgend einen bestimmten Vorschlag machen und wiederum, als könnte sie sich noch nicht recht dazu entschliessen.

„Jedenfalls hätten die Schüler, die nicht kommen, tüchtiges von Ihnen lernen können,“ sagte sie, und dann wünschte sie zum Schluss noch etwas Lustiges zu hören.

Hilde hätte ihr gern den Gefallen getan, aber was sollte sie ihr auf der Geige Lustiges spielen. Sie überlegte — und plötzlich, ohne klares Besinnen, setzte sie den Bogen an zu einem Walzer des toten Vaters. Und während sie spielte, vergass sie vollständig, wo sie sich befand.

Draussen klopfte laut und stark der kräftige Pulsschlag der Millionenstadt, Hilde hörte ihn nicht. Sie befand sich wieder in dem kleinen Häuschen der Grabenstrasse, und wildes Weinlaub lugte in die Fensterscheiben, übermütig schlenderte sie Arm in Arm mit Marta Stiller durch die abendfriedlichen Strassen des Heimatstädtchens, und Marta flüsterte heimlich von ihren Bühnenträumen. Durch alle ihre behüteten Jugendtage wanderte sie wieder und hockte zu den Füssen des Vaters und lauschte seinen Walzern. Prediger Stiller stand mager und dürr auf der Kanzel der Peterskirche, und Marta floh aus der engen bescheidenen Heimat, vielleicht einem Irrlichtschein nach, den sie mit Träumeraugen für einen Stern gehalten. Und Hilde sah den Vater im Sarge liegen, tot und kalt — und dann kamen die Sorgen ums tägliche Brot. Mit einem Ton, der wie ein Hilferuf klang, endete Hilde.

Verwundert schaute sie sich um. Wie weit war sie denn in die Vergangenheit zurückgeschritten, dass sie sich erst besinnen musste, wo sie war?

Rings um sie herum lagen Kleider, köstliche Wäsche, federgeschmückte Hüte, und da drüben auf einem Stuhl kauerte die elegante, lebenslustige Marion de Clermont und tupfte sich mit dem Spitzentaschentuch über die Lider. Eben erhob sie sich und stiess ein herabfallendes Stickereikleid mit dem Fusse fort.

„Plunder,“ sagte sie verächtlich, „gut genug für eine wie ich, aber Sie chérie, Teure, in was sollten Sie sich hüllen?! Sie sind ja keine gewöhnliche Sterbliche, Sie können einem ja das Herz in der Brust umwenden mit Ihrer Musik. C’est le plus beau, dies ist das Schönste, was ich in meinem ganzen Leben gehört habe!“

Und in Hilde stieg es jubelnd auf: nun hast Du dieselbe Macht wie der Vater, nun kannst Du seine Walzer spielen wie er. Durch Not und Sorge und schlaflose Nächte musstest Du gehen, ehe Dir’s gelang. Und Hilde Tomiczek segnete Not und Sorge und die bangen schlaflosen Nächte ...

Jetzt brachte Marion de Clermont ihren Vorschlag. Sie wollte dem Direktor das Sommergartens von Hildes Spiel erzählen und ihn bitten, sie Probe spielen zu lassen. Vielleicht — nein sicher, engagierte er sie, „und dann werden Sie ein berühmter Varietéstern,“ freute sich Marion.

„Nein, nein, dazu eigene ich mich nicht, vor vielen Menschen öffentlich spielen — ich könnte das nicht,“ wehrte Hilde ab. Ihrem soliden Kleinstadtsinn widerstand alles, was mit der grossen Öffentlichkeit zusammenhing.

„Das gibt sich schon,“ redete die Sängerin zu, „die Hauptsache ist, dass Sie der Direktor hört, da Sie zudem noch très jolie sind, ja, sehr hübsch, glaube ich sicher, er engagiert Sie, weil Sie eine aparte Nummer sind.“

„Was bin ich?“ fragte Hilde.

„Eine aparte Nummer, un numéro extraordinaire,“ lächelte Marion leichthin. „Im Varietéprogramm sind wir alle eine Nummer. Das, was wir dem Publikum bieten, ist unsre Arbeit, unsre Nummer.“

Sie fasste Hilde um die Taille und wirbelte mit ihr im Zimmer herum. „Hei donc, hopp, le numéro extraordinarie, die aparte Nummer soll leben!“

Hilde hatte Mühe Geige und Bogen festzuhalten bei diesem Herumschwenken. Atemlos fiel sie endlich auf einen Stuhl.

„Eh bein, als Exzentrique habe ich von Ihnen keine Konkurrenz zu befürchten,“ lachte Marion, „und nun will ich Ihnen etwas sagen. Der Plan, Sie dem Varieté zuzuführen, der erstand schon in mir, als ich mit Madame Jädicke von Ihnen sprach. Ihre Konzertstücke, die Sie mir vorhin spielten, konnten mich aber nicht befriedigen, oder sehr wenig. So was gibt’s en masse. Aber als Sie die Walzer spielten, die Walzer mit dem Lachen und Weinen, da wusst ich: solch Spiel gibt’s nicht en masse. Das ist rar, sehr rar. Maintenant, jetzt rede ich mit dem Direktor, er ist ein sehr liebenswürdiger Herr, den ich von Paris her gut kenne. Und dann war ich ja auch im vorigen Jahr schon einmal bei ihm im Sommergarten; er wird mir den Gefallen tun und Sie anhören. Dann aber, wenn es glückt und er sie auftreten lassen will, seien Sie nicht ängstlich, dann Courage, Courage! Wenn man was kann, braucht man keine Furcht zu haben. Und nun ziehen Sie sich schnell warm an, und seien Sie für heute mein Gast. Lassen Sie die Familie Jädicke ihren Sauerkohl und ihre Bratwurst selbst essen.“

Gehorsam wie ein Kind folgte Hilde der rasch gewonnenen Freundin, und bald sassen die beiden vergnügt in einer netten Ecke eines gemütlichen Weinlokals. Nach dem zweiten Gläschen Sekt erwachte in Hilde Tomiczek der Mut, wirklich „un numéro extraordinaire“ zu werden, wenn es der Direktor vom Sommergarten wollte. Und hoffentlich wollte er! Beim dritten Glas tranken Marion und Hilde auf Du und Du.

Hilde hätte es nie für möglich gehalten, dass sie sich so glücklich fühlen könnte. Nur, weil ein fremder Mensch so gut zu ihr war ...

Die Walzerkönigin

Подняться наверх