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II.

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Als Therese Trautner zehn Jahre alt war, fragte sie zum ersten Male: „Sage, Mutti, weshalb heisse ich nicht Faber wie du, der Vater und wie Schwester Erna?“

Frau Doris nahm das Köpfchen der Fragerin sanft zwischen beide Hände. „Du bist nicht Vaters Kind, nicht das meine, wenn wir dich auch genau so lieb haben, als wärest du es.“

Thereses Augen wurden starr und dunkel. „Du und Vater, ihr seid nicht meine Eltern, aber weshalb bin ich denn bei euch, weshalb bin ich denn nicht da, wo ich geboren bin?“ Der kleine, schmale Körper zitterte, und das Mündchen stand leicht offen, fieberte der Antwort entgegen.

Doris Faber war längst auf solche Fragen gefasst gewesen und hatte längst die Antwort bereit. „Meine liebe Resi, du bist weit von hier geboren, auf einer Reise führte uns ein Zufall dorthin. Deine Eltern waren eben gestorben, und weil ich kurz zuvor mein Töchterchen verlor, nahm ich dich mit mir, so wurdest du unser Kind, ein Jahr vor Ernas Geburt.“

Resis Gesicht war wie von einer Wolke verhängt. „Ich kann kaum begreifen, dass ihr eigentlich nicht richtig zu mir gehört oder ich nicht zu euch.“

Doris Faber sagt ein bisschen streng: „Was ist dabei zu begreifen, du gehörst doch zu uns.“

Resi wagte an dem Tage keine weitere Frage mehr, so viele ihr plötzlich auch noch im Herzen brannten.

Ein paar Jahre später fragte sie, worüber sie schon Stunden und Tage gegrübelt: „Wer waren meine Eltern, und wie sahen sie aus, habt ihr kein Bild von ihnen?“

Doris kam ihrem Manne, der ausweichend antworten wollte, zuvor. „Deine Eltern waren Bauern im Schwarzwald, arme Bauern, die Haus und Hof verloren und jung starben. Bilder von ihnen fanden sich nicht vor.“

Gustav Faber begriff seine Frau nicht. Weshalb sollte Resi nicht die Wahrheit erfahren? Man konnte doch nie wissen, ob nicht der Zufall eines Tages die Wahrheit enthüllte. Aber vor den warnenden Augen seiner Frau schwieg er.

Er war bequem geworden und scheute jede unnütze Gemütserregung. Schliesslich war die Geschichte auch wohl lediglich Frauensache Er ging lieber in seinen Kegelklub.

Ein anderes Mal sagte Resi: „Seit ich weiss, ich bin nicht euer Kind, möchte ich gern die Gräber der Eltern sehen, dort beten, ihnen Blumen bringen.“

Frau Doris lächelte wie über eine Kinderei. „Sei froh, dass es dir gut geht, du gehörst zu uns, und wenn du uns deinen Dank beweisen willst, dann sprichst du nie mehr von den Toten und denkst auch nicht mehr daran. Da du sie nicht kanntest, müssen sie dir doch Fremde sein.“

Resi presste die Lippen fest aufeinander. Wie einfach und selbstverständlich die Mutter das sagte. Ihr aber war gar nicht so einfach und selbstverständlich zumute, sie hätte wer weiss was dafür gegeben, wenn sie gewusst hätte, wie ihre Eltern ausgesehen.

Sie wuchs zu einem ernsten, stillen Mädchen heran, und wenn die junge Schwester draussen umherflitzte, mit Mädeln und Buben tollte, sass sie über irgendein ernstes Buch gebeugt und las und lernte.

Gustav Faber war Oberingenieur der Maschinenfabrik geworden, und da er Tüchtiges leistete, erhielt er gutes Gehalt. Aber allmählich mit dem Heranwachsen der Töchter wurde der Hausstand immer teurer, denn Frau Doris war eitel wie die Jüngste, und Erna durfte nur das Schönste und Kleidsamste tragen. Sie war ein blondes, süsses Geschöpf, ward der Mutter immer ähnlicher, und wenn Gustav Faber auch zuweilen über die Verschwendung seiner Damen zankte, im Grunde zürnte er ihnen niemals ernstlich. Der kleine Hausstand wurde auf grossem Fusse geführt und Gäste waren stets willkommen.

Der Weltkrieg, der so vielen, so unzähligen Familien das heilige Kreuzeszeichen des Schmerzes in die Herzen gebrannt, bereitete in der kleinen Villa niemandem persönliches Weh. Oberingenieur Faber war unabkömmlich, und nahe Verwandte, die hinausgezogen waren in Not und Tod, besass weder er noch Doris. So floss die grosse Blutwelle, die beinahe ganz Europa überflutete, an ihrem Heim vorbei.

Gustav Faber hatte den alten Doktor einmal gebeten, niemals ein Wort an Resi über ihre Herkunft zu verlieren, und er hatte es gelobt. Resi war viel im Doktorhause. Die wissenschaftlichen ärztlichen Bücher lockten sie, und ihre Sehnsucht war es, Aerztin zu werden.

Frau Doris lachte, als sie davon hörte, laut hinaus. „Bist du verrückt, Therese, wie kommst du nur auf so eine ausgefallene Idee? Junge Mädchen sind zum Heiraten da und nicht zum Quacksalbern. Du wirst an dem neuen Tanzkursus von Fräulein Rettenhof teilnehmen mit Erna zusammen, damit dir schwerblütigen Grillen etwas vergehen. Der Krieg ist aus, die Jugend darf sich wieder ihrer Jugend freuen.“

„Therese schüttelte den Kopf. „Lass das, Mutter, ich mag nicht tanzen, es ist nicht die Zeit dazu.“

Frau Doris erwiderte unmutig: „Du bist bereits neunzehn Jahre, und es ist nötig, dass du ein anderes Wesen annimmst, sonst würdest du ein Altjüngferchen werden. Erna ist nicht so schwerfällig wie du, um die braucht mir nicht bange sein.“

Mutterstolz leuchtete in ihren Augen.

Therese schwieg und dachte, dass Mutterliebe doch fast immer blind ist, sonst hätte es der Mutter nicht verborgen bleiben können, dass Erna tausend kleine Heimlichkeiten trieb und immer neue Ausreden ersann, um von Haus wegzuwitschen. Verstohlene Rendezvous, postlagernde Briefchen gehörten zu Ernas Lebensbedarf. Einmal fand sie so einen Brief bei Erna und sagte ernst: „Auf solche Korrespondenz darfst du dich nicht einlassen, das schadet deiner Ehre!“

Da schalt die Jüngere die Aeltere: „Aufpasserin, Spionin, Scheinheilige,“ und fing an sie zu quälen und bösartig zu necken, denn in Erna war etwas Böses, das manchmal durchdrang und sich Luft machen musste.

Therese aber blieb gleich freundlich und lieb zu der Schwester, mit der sie keine Blutsbande verknüpften, und die sie dennoch liebte und bewunderte, weil sie so feingliedrig und sonnig zart war, während ihr früher blondes Haar längst dunkelbraun geworden war und ihre tiefblauen Augen jetzt fast schwärzlich schienen. Auch besass sie nicht Ernas lichte Haut, ihr schmales, etwas scharfes Gesicht war wie aus nachgedunkeltem Elfenbein.

Frau Doris lachte manchmal, wenn sie nicht immer und immer Resi um sich gehabt hätte, würde sie glauben, das Kind sei ihr vertauscht worden. Wie eine Südländerin sah Resi aus, und ihr Name passte schlecht zu ihr.

„Dolores müsstest du heissen, Kind,“ sagte Dr. Ernstmann, der nun seit langem Witwer war und schon Mitte der Achtzig stand. Seine Söhne waren ausserhalb verheiratet, der jüngste verwitwet wie er. Er lebte ein stilles Einsiedlerleben und kurierte zuweilen noch ein bisschen an den Menschen herum, wenn er gerade gewünscht wurde. Er nannte Resi, wenn er mit ihr allein war, ‚Dolores‘, und sie hörte sich gern so nennen. Es klang sanft und dennoch voll. Dolores, die Schmerzenreiche. Sie musste lächeln. Schmerzen, wirkliche, grosse Schmerzen, nein, die kannte sie nicht, die waren ihr bisher fremd geblieben. Dass sie ihre wahren Eltern nie gekannt, war wohl der einzige Schmerz in ihrem Leben.

Als Kind hatte sie darunter gelitten, heute war sie darüber hinweg, nur zuweilen in stillen Nächten, wenn sie plötzlich erwachte und die Stille wie ein heimliches Raunen und Atmen war, dann sann sie: wie wohl die Mutter gewesen, und ein leises Sehnen zog über ihr Herz, dass es erbebte, und ihr war, als höre sie fernes, verlorenes Weinen.

Resi Trautners Lebensroman

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