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1. Historisch-kritische Schriftauslegung

Die Bibelkommentare, die uns zur Verfügung stehen, orientieren sich meistens an der historisch-kritischen Methode. Es ist eine wissenschaftliche Herangehensweise an die Bibel. Die Bibelwissenschaft hatte vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts und dann das ganze 20. Jahrhundert hindurch ihre Hochzeit. Es wurde sehr viel über die Entstehungsgeschichte der Bibel geforscht, in welchem kulturellen Umfeld sie entstanden ist, welche Parallelen es in der jüdischen und außerchristlichen Tradition für manche Bibelstellen gibt und was die einzelnen Texte uns wirklich sagen wollen.

Die historisch-kritische Methode zeigt, dass wir mit unserer Vernunft die Bibel durchleuchten können und dass wir keine Angst haben müssen, diese Methodik auf die Texte anzuwenden, die vielen von uns heilig sind. Die historisch-kritische Methode vermittelt Wissen: einmal über die Entstehung der Bibel, über die einzelnen Bibelhandschriften und die Textvariante, die am wahrscheinlichsten dem Urtext entspricht. Zudem zeigt sie den geschichtlichen Hintergrund der Ereignisse, die uns in der Bibel erzählt werden. Dabei hat die Wissenschaft erkannt, dass die Bibel durchaus historisches Geschehen reflektiert. Aber wir dürfen keine objektive Geschichtsschreibung von ihr erwarten. Die Bibel deutet im Erzählen immer schon das Geschehene. Doch wir erfahren auch heute: Die reinen Fakten helfen uns nicht weiter. Von Fakten allein kann man nicht leben. Nur wenn ich sie deute, bekommen sie für mich eine Bedeutung. Dann erkenne ich den Sinn des Geschehens. Und nur dann kann der Sinn des vergangenen Geschehens auch meinem Leben heute Sinn verleihen.

Die historisch-kritische Schriftauslegung hat verschiedene Methoden entwickelt, um an die Texte der Bibel heranzugehen. Da gibt es einmal die formgeschichtliche Methode. Sie betrachtet die Texte unter dem Aspekt, um welche Art von Text es sich bei den verschiedenen Büchern handelt, ob es also ein Brief ist oder sich um eine Legende handelt oder eine Erzählung. Und jede Art von Texten muss auf ihre Weise ausgelegt werden. Da gibt es in der Bibel zum Beispiel mythische Texte. Die Schöpfungsgeschichte ist ein solcher. Dieser mythische Text hat seine eigene Wahrheit. Aber es ist eben keine naturwissenschaftliche Wahrheit. Die Schöpfungsgeschichte erzählt uns den Anfang der Schöpfung in wunderbaren Bildern. Diese Bilder haben alle eine Wahrheit in sich. Aber wir können daraus keine naturwissenschaftlichen Schlüsse ziehen. Das wäre eine Verkennung dessen, was die Bibel uns sagen möchte. Sie will uns sagen, dass Gott die Welt geschaffen hat und dass sie wunderbar geschaffen wurde. Und auch, dass der Mensch darin eine zentrale Rolle spielt. Es sind wunderbare Bilder, mit denen die Bibel die Erschaffung der Welt beschreibt. Allein schon der erste Satz: »Gott sprach: Es werde Licht« (Genesis 1,3). Josef Haydn war von diesem Wort so fasziniert, dass er in seinem Oratorium »Die Schöpfung« dieses Licht musikalisch erstrahlen lässt. Der Musiker hat genau verstanden, was die Bibel mit dem Schöpfungsbericht meint.

Dass wir diese Erzählung nicht naturwissenschaftlich deuten dürfen, zeigt schon die Tatsache, dass uns die Bibel zwei Schöpfungsgeschichten bietet:

Die erste (Genesis 1,1–2,4a) erzählt uns, wie Gott in sechs Tagen die Welt erschafft: Zunächst scheidet er das Licht von der Finsternis, den Tag von der Nacht, dann den Himmel von der Erde und die Erde vom Wasser. Dann schafft er die Pflanzen, die Tiere und schließlich den Menschen. Und er sieht, dass alles sehr gut und sehr schön ist. Am siebten Tag ruht er und gewährte auch den Menschen den siebten Tag als Ruhetag.

Die zweite Schöpfungsgeschichte (Genesis 2,4b–25) erzählt dagegen, dass Gott zuerst Himmel und Erde macht. Dann schafft er den Menschen aus dem Ackerboden und bläst ihm seinen Lebensatem ein. Er gibt ihm einen Namen: Adam, was so viel wie »Erde« heißt. Gott legt anschließend einen Garten in Eden an. Den sollte der Mensch bebauen und hegen und pflegen. Dann sieht Gott, dass es für den Menschen nicht gut ist, allein zu sein. Er gibt ihm Tiere und Vögel am Himmel, zeigt sie dem Menschen und will, dass er ihnen einen Namen gibt. Doch die Tiere sind nicht die Hilfe, die der Mensch sich wünscht. So lässt Gott ihn in einen Schlaf fallen und formt aus seiner Rippe eine Frau. Da sagt Adam: »Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch« (Genesis 2,23).

Man kann nicht sagen, welcher Schöpfungsbericht nun der Wahrheit entspricht. Beide sind wahr. Beide sagen etwas Wesentliches über Gott und die Schöpfung und über den Menschen aus. Aber der Mensch ist ein solches Geheimnis, dass man es von verschiedenen Seiten beleuchten kann und muss.

In der Bibel gibt es noch andere Textformen wie Gleichnisse, Heilungsgeschichten, Berufungsgeschichten, Märchen, Erzählungen, Novellen, Legenden und Wortüberlieferungen. Jede muss in ihrer Eigenart gesehen werden. Dann werden wir der Bibel gerecht. Die formgeschichtliche Methode befreit uns von einem Wahrheitsbegriff, der nur auf den Buchstaben sieht, alles buchstäblich – wörtlich – verstehen will. Jede Form hat ihre eigene Wahrheit. Fundamentalisten sagen oft: »Das steht so da. Das muss man wörtlich nehmen.« Natürlich muss ich die Bibel wörtlich nehmen, das heißt, Wort für Wort bedenken. Aber ich muss immer sehen, welche Form dieses Wort oder diese Erzählung hat. Nur dann werde ich der Bibel gerecht.

Fundamentalisten meinen, sie nähmen die Bibel beim Wort. Aber sie verfälschen ihren Sinn, indem sie sie einseitig auf eine geschichtliche oder naturwissenschaftliche Aussage reduzieren. Die Bibel spricht jedoch in Bildern zu uns. Und diese haben ihre eigene Wahrheit. Sie drücken das Geheimnis des Menschen viel klarer aus als die Reduzierung der Worte auf reine Fakten. Wir müssen den Geist in den Worten erkennen. Jesus selbst sagt zu den Jüngern, die seine Worte nicht verstehen und daher anzweifeln: »Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts. Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe, sind Geist und sind Leben« (Johannes 6,63). Damit zeigt uns Jesus selbst eine Methode, wie wir die Bibel lesen können. Wir sollen in den Worten den Geist und das Leben erkennen, die Jesus und Gott in sie hineingelegt haben. Daher braucht es immer auch die Bereitschaft, sie zu meditieren und in das eigene Herz fallen zu lassen. Nur dann verstehen wir die Worte, nicht, indem wir rechthaberisch über sie diskutieren.

Eine weitere Methode ist die religionsgeschichtliche Herangehensweise. Sie zeigt uns unter anderem Parallelen biblischer Motive mit Motiven anderer Religionen. Es gibt zum Beispiel auch in den babylonischen und griechischen Mythen Erzählungen von einer Art Sintflut, von der Vernichtung der »bösen Welt«. Ziel der religionsgeschichtlichen Methode ist nicht, herauszustellen, dass hier einer beim anderen »abgeschrieben« hat oder immer die gleichen Motive in derselben Absicht verwendet werden. Es geht nur darum, Parallelen aufzuzeigen, aber auch die Besonderheit der Bibel in den Fokus zu rücken. Sie weist uns Wege, wie wir im Dialog mit den Ergebnissen der Religionswissenschaft die eigentliche Aussageabsicht der Bibel erkennen können.

Eine dritte Herangehensweise ist die redaktionsgeschichtliche Methode. Sie untersucht, welcher Autor möglicherweise hinter den Texten der Bibel auszumachen ist und welche Theologie, welches Bild des Glaubens, welche Ansichten über den Glauben er mit seinem Schreiben vermitteln wollte. Die Bibel ist kein einheitliches Werk, also nicht von nur einem Menschen geschrieben. Es gibt schon im Alten Testament verschiedene Autoren. Und jeder hat seine eigene Aussageabsicht mit dem, was und wie er schreibt. Das wurde oben schon in den beiden Schöpfungserzählungen deutlich. Den ersten Schöpfungsbericht rechnet man der sogenannten Priesterschrift zu, den zweiten dem sogenannten Jahwisten. Damit bezeichnet die Exegese die beiden Autoren der Texte, wobei es sich dabei vielleicht sogar um mehrere Autoren handelt. Die Priesterschrift ist von einer etwas anderen Theologie gekennzeichnet als die Texte des Jahwisten. Doch beide Theologien sagen etwas über Gott und den Menschen aus, was uns heute noch angeht, wodurch Gott auch heute noch zu uns spricht.

Die redaktionsgeschichtliche Methode hat vor allem in der Erforschung der Evangelien eine wichtige Funktion und macht deutlich, dass jeder Evangelist eine eigene Theologie entfaltet. Alle vier Evangelien erzählen uns die Geschichte Jesu, seine Taten, seine Worte, seine Passion und seine Auferstehung. Aber jedes hat andere Leser und Leserinnen im Blick. Und so deutet der jeweilige Evangelist das Jesusgeschehen immer auf diese hin, versteht das Geheimnis Jesu jeweils auf seine Art und Weise. Das ist kein Gegensatz. Die Frage darf auch nicht lauten: Wer von den Evangelisten hat nun Recht? Jeder hat Recht. Aber jeder versteht Jesus anders. Genau das befreit uns auch von dem Zwang, eine einheitliche Dogmatik zu entwickeln. Wir können Jesus von verschiedenen Seiten aus anschauen und ihn verschieden deuten. Diese Methode werde ich noch einmal gesondert behandeln, wenn es um die theologische Auslegung der Bibel geht.

Der kleine Bibelcoach

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