Читать книгу Lakota Moon - Antje Babendererde - Страница 7

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1. Kapitel

Ich rannte durch die Nacht. Es regnete und die Straßen der Stadt waren beinahe menschenleer. Niemand beachtete mich und das war auch gut so. Ich heulte vor Wut und Verzweiflung. Ich wollte laufen, nur noch laufen, so weit weg von zu Hause wie möglich.

Nicht dass irgendetwas schlecht war an meinem Zuhause. Im Gegenteil, auf einmal schien es für mich nichts Schöneres zu geben als die kleine Zweizimmerwohnung im dritten Stock des alten Mietshauses, wo ich mit meiner Mutter wohnte. Auf einmal erschien mir sogar unsere Stadt attraktiv, obwohl an ihr eigentlich nichts Umwerfendes dran war.

Ich rannte weg, weil ich bleiben wollte.

Das klingt verrückt, aber genau so war es. Ich rannte, bis ich vollkommen durchnässt war und die kühle Luft in meine Lungen biss. Aber die Wut ließ nicht nach und der Schmerz auch nicht. Beides pochte in mir und nahm mir den Atem. Ich konnte einfach nicht fassen, was meine Mutter mir antun wollte: einen waschechten Indianer heiraten und nach Amerika auswandern.

Ich lachte laut in die Nacht. Es klang ein bisschen irre und tatsächlich hatte ich das Gefühl, jeden Augenblick verrückt zu werden. Es war nämlich kein Spaß und ich war auch nicht im falschen Film. Meine Mutter war tatsächlich fest entschlossen diesen Rodney Bad Hand zu heiraten und mit ihm in sein Reservat nach South Dakota zu ziehen. In ein Indianerreservat!

Und ich musste natürlich mit. Wo sollte ich denn auch hin? Ich war erst fünfzehn und meine Mutter durfte über mich bestimmen, als wäre ich ihr Eigentum. »Oliver«, hat sie gesagt, »jeder andere Junge wäre begeistert, wenn ihm ein solches Abenteuer bevorstünde.« Abenteuer! Dass ich nicht lache. Es war ein Alptraum. Ich würde irgendwo in einer klapprigen Indianerhütte ohne Wasser und Strom im Grasland hausen müssen, mit Indianern zur Schule gehen, meine Sprache nicht mehr sprechen können, meine Freunde niemals wieder sehen und Nina . . .

. . . ach verdammt, Nina war mein Traum, meine große Liebe, der Mittelpunkt meiner Gedanken und Gefühle und nun war sie mein größtes Problem. Weil ich sie verlassen musste. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so schrecklich gefühlt wie nach dieser Offenbarung meiner Mutter.

Was sollte ich bloß tun? Mein Herz flimmerte vor Liebe. Nina war für mich das aufregendste Mädchen der ganzen Schule, mit den längsten Beinen und den schönsten grünen Augen, die ich je gesehen hatte. Sie war der Grund, warum ich überhaupt geboren wurde. Ich hatte mich schon vor einer Ewigkeit in Nina verliebt und sie wochenlang angehimmelt, bis ich mir endlich einen Ruck gegeben und sie angesprochen hatte. Und ich hatte unglaubliches Glück: Nina mochte mich auch. Ich meine, ich war nicht gerade der Typ, auf den die Mädchen flogen. Ich konnte ganz gut zeichnen und ein bisschen Gitarre spielen. Aber ich war nicht besonders sportlich. Körperlichen Rangeleien hielt ich mich fern, soweit dies möglich war, denn ständig eine neue Brille kaufen, das konnten wir uns nicht leisten.

Also, meine Kondition war nicht die beste. Ich war zu schnell gewachsen und machte im Augenblick einen etwas klapprigen Eindruck. Ich war ein langer Schlaks, eine Bohnenstange, wie meine Mutter zu sagen pflegte. Mir fehlte einfach der Mumm in den Knochen. Zu Hause, in meinem Zimmer, hatte ich heimlich begonnen Gewichte zu stemmen. Vielleicht brachte das ja was, wenn ich Nina mal verteidigen musste. Unsere Stadt war zwar klein, aber trotzdem ein ziemlich heißes Pflaster, jedenfalls bei Nacht.

Aber eigentlich war ich nicht erpicht darauf, meine Fäuste zu gebrauchen. Ich war mehr der sanftmütige Typ und hasste jede Art von Gewalt. Wahrscheinlich war es genau das, was Nina an mir gefiel. Dass ich von anderen Jungs hin und wieder als Weichei betitelt wurde, schien sie jedenfalls nicht zu stören.

Nina, meine Traumfrau. Wir gingen jetzt seit vier Monaten miteinander und meine Mutter hatte natürlich keine Ahnung, wie weit unsere Beziehung inzwischen fortgeschritten war. Kaum zu glauben, aber ich hatte Kondome gekauft. Was ich damit sagen will: Ich stand kurz davor, meine Unschuld zu verlieren, und da sollte ich nach Amerika auswandern. Das war einfach absurd, unmöglich. Ich würde mich nicht zum Indianer machen lassen – ich nicht. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als wegzulaufen.

Aber wohin? Zu meinem Vater konnte ich nicht, ich wusste nicht einmal, an welchem Punkt der Erde er sich gerade aufhielt. Die letzte Postkarte von ihm war aus Brasilien gekommen, aber das war jetzt auch schon wieder drei Monate her. Es gab Momente im Leben, da konnte ein Vater ganz nützlich sein, aber in solchen Momenten war meiner nie da gewesen. Nein, mein Vater konnte mir nicht helfen.

Er ging von uns weg, als ich neun war. Aber schon vorher, als er noch bei uns lebte, hatte ich begriffen, dass ich mich nicht auf ihn verlassen konnte. Hatte er den Auftrag, mich vom Kindergarten abzuholen, war ich meist der Letzte und manchmal vergaß er mich ganz. Das war dann immer richtig schlimm. Ich war unglücklich und heulte nach meiner Mutter. Waren wir beide allerdings allein zu Hause, lief meistens alles ganz prima. Ich durfte fernsehen bis zum Umfallen, wir aßen Pizza und Eis und er erzählte mir von seinen Rucksackreisen, die er als Student gemacht hatte. Das war mächtig interessant und damals wollte ich genauso werden wie er. Wir waren eine ganz normale Familie, bis er auszog und einen Neunjährigen zurückließ, der nichts begriff.

»Papa will frei sein«, hatte meine Mutter zu mir gesagt. »Er ist ein rastloser Mensch und wir sind ihm nur ein Klotz am Bein.«

Dieses Bild verfolgte mich lange. Meine Mutter und ich, geschnitzt aus schwerem Holz, wie wir als Gewichte an den Beinen meines Vaters hingen. Das war ein ganz schöner Brocken für einen Jungen von neun Jahren. Und dann, später, als mein Vater uns das erste Mal nach langer Zeit wieder besuchte und er mir in der Stadt ein Eis spendierte, erzählte er, dass meine Mutter ihn rausgeworfen hatte. Ich weiß bis heute nicht, wer von beiden nun im Recht gewesen war, aber ich denke, jeder von beiden ein bisschen.

Ich liebte meinen Vater. Obwohl ich ihn vor einem Jahr das letzte Mal gesehen hatte, liebte ich ihn. Wenn wir zusammen waren, hatten wir meistens eine Menge Spaß miteinander. Aber um zur Sache zu kommen: Ich hatte einen Vater, auch wenn der mir im Augenblick nicht helfen konnte. Was ich auf keinen Fall brauchte, war noch ein Vater. Und schon gar keinen, der Rodney Bad Hand hieß. »Schlimme Hand«, das konnte alles Mögliche bedeuten. Ich kannte den Mann überhaupt nicht, der mein neuer Vater werden sollte. Ich hatte ihn erst einmal kurz gesehen. Meine Mutter hatte ihn zweimal gesehen, aber ich hielt auch das für unzureichend. Sie musste von allen guten Geistern verlassen sein einen Mann heiraten zu wollen, den sie nur zweimal gesehen hatte.

Als ich meiner Mutter heute sagte, dass ich nicht mit nach Amerika kommen würde, fing sie an zu heulen. »Warum gönnst du mir nicht, dass ich glücklich bin?«, fragte sie mich. So ein Unsinn. Natürlich wollte ich, dass sie glücklich ist. Aber sie konnte ja schließlich auch hier glücklich werden. Warum musste es unbedingt Amerika sein? Und noch dazu ein Indianerreservat. Keine Ahnung, ob sie überhaupt begriff, was sie uns da einbrockte. Wenn dieser Rodney sie wirklich so sehr liebte, wie sie es behauptete, dann konnte er doch auch zu uns ziehen. Wir würden uns eine größere Wohnung mieten und alles wäre in Butter. Ich könnte Nina haben und meine Mutter Rodney. Ich meine, ich habe doch genauso das Recht, glücklich zu sein, wie meine Mom, oder?

Ich liebe Nina schon so lange. Wir kennen uns besser als meine Mutter diesen Indianer kennt. Sie haben sich Briefe geschrieben. Briefe! Als ob das was bringt. Da kann man den anderen überhaupt nicht richtig kennen lernen. Sie schreibt ihm nur Gutes über sich und er ihr nur das Beste über seine Person und sein Leben. Klar, dass jeder den anderen für einen tollen Typen hält. Aber so läuft das nicht. Das sind doch alles nur Hirngespinste.

Auf jeden Fall: Ich werde nicht mitkommen nach Amerika, niemals. Ich haue ab. Ich bleibe hier.

»Mein Gott Oliver«, rief meine Mutter erleichtert, als mich der Polizist um vier Uhr morgens an unserer Haustür ablieferte. Ich war sogar zu dämlich zum Abhauen. Als die Streifenpolizisten mich am Stadtrand aufgriffen, bin ich nicht mal weggerannt. Ich konnte einfach nicht mehr. Meine Kondition war eben nicht die beste.

Nachdem wir eine Weile im Streifenwagen umhergefahren waren, hatte ich dem Polizisten schließlich gesagt, wo ich wohne. Ich war müde, todmüde, und wollte nur noch in mein Bett. Und außerdem war er ein ganz netter Kerl. Er hat mir erzählt, dass er einen Sohn in meinem Alter hat, der auch schon mal abgehauen ist. Er sagte, von da an hätten sie immer über alles geredet.

Wahrscheinlich war er ein guter Vater. Ich ließ mich von ihm zu Hause abliefern, weil er dann mit einem besseren Gefühl seinen Nachtdienst beenden konnte.

Meine Mutter umarmte mich immer wieder. Sie sah verheult aus und auf einmal tat sie mir Leid. »Ich bin ja wieder hier, Mom«, sagte ich. »Und heute Nacht haue ich auch nicht mehr ab.«

Sie schluchzte wild auf und ich gab ihr einen Kuss auf die nassen Wangen. »Nun hör schon auf!«, sagte ich, weil mir ihre Tränen peinlich waren.

»Ich hätte nie gedacht, dass du so sehr dagegen sein würdest«, sagte sie. »Ich dachte immer, du würdest nach deinem Vater kommen und wärst froh mal was anderes zu sehen als Deutschland.«

»Ich hab ja auch nichts dagegen, mir Amerika anzusehen. Aber deswegen muss ich doch nicht gleich dort leben«, erwiderte ich. »Wenn du Schlimme Hand schon unbedingt heiraten musst, warum kann er dann nicht bei uns wohnen? Hier würde es ihm doch bestimmt besser gehen als in seinem Reservat.«

»Sprich nicht so über Rodney«, sagte sie leise, weil sie Angst hatte, dass unsere Nachbarn wach werden würden von meinem Geschrei. »Wir haben natürlich darüber geredet, wo wir leben werden, und uns die Entscheidung nicht leicht gemacht.«

»Aber du hast nachgegeben«, sagte ich und wurde gleich wieder wütend. »Indianermänner sind Machos, hast du das gewusst? Sie trinken und verhauen ihre Kinder und ihre Frauen.«

Das war dann wohl doch ein bisschen daneben gewesen, denn meine Mutter sah mich nur traurig an und sagte: »Reden wir morgen darüber, Oliver. Ich hatte einen harten Arbeitstag und bin vor Sorge um dich bald verrückt geworden. Ich muss jetzt schlafen.«

Mom ging in ihr Zimmer, schloss die Tür vor meiner Nase und ließ mich mit meiner Wut und meiner Verzweiflung allein zurück.

Am nächsten Tag war ich mit Nina verabredet, und bevor ich ihr von der ganzen Sache erzählen konnte, musste ich sie irgendwie geklärt haben. Wenn ich jetzt also verschwand, bevor meine Mutter aufgestanden war, legte ich mich nur selber rein.

Ich machte Frühstück, das würde sie mir gegenüber gnädig stimmen. Gegen zehn kam sie aus dem Bett und setzte sich zu mir in die Küche. Ich goss ihr einen Kaffee ein und sah sie an. Nicht aus dem Blickwinkel, aus dem ein Sohn seine Mutter sieht. Ich versuchte sie mit Rodney Bad Hands Augen zu sehen. Meine Mom – sie heißt Susanne – trug einen taubenblauen Samtbademantel und das Haar fiel ihr in schweren Locken auf die Schultern. Es hatte die Farbe von reifem Stroh und ich mochte es.

Über Nacht hatte sich meine Mutter von ihrer Furcht um mich erholt und sah jetzt wie ein junges Mädchen aus, obwohl sie schon 35 war. Also kein Wunder, dass Rodney sie heiraten wollte. Für jemanden, der nicht dazu verdammt war, von ihr erzogen zu werden, war sie wirklich eine tolle Frau. Ich meine, sie sah richtig klasse aus. Ein bisschen wie Sharon Stone, die Figur inbegriffen. Außerdem roch sie immer gut. Meine Mutter hätte wirklich jeden haben können, wieso musste es dann ausgerechnet Rodney sein?

»Warum muss es Rodney sein?«, fragte ich.

»Weil ich ihn liebe, Olli«, antwortete sie, »auch wenn du dir das vielleicht nicht vorstellen kannst. Rodney gibt mir das Gefühl, einzigartig zu sein.«

Oh ja, einzigartig, das war meine Mom wirklich. Besonders, was ihre Zukunftspläne betraf, die mich leider einschlossen. »Aber du kennst ihn doch überhaupt nicht«, wandte ich ein. »Wäre es nicht besser, mit der Hochzeit noch ein wenig zu warten? Du könntest deinen Urlaub bei ihm verbringen, sein Land kennen lernen, das Leben dort.« Mein Gott, ich hörte mich verdammt noch mal an wie ein Vater, der sich um seine minderjährige Tochter sorgt. Ich hätte mich eher darum kümmern sollen, was meine Mutter in ihrer Freizeit so treibt. Vermutlich hatte ich sie vernachlässigt, und das waren nun die Folgen.

Ihre blauen Augen wurden dunkelgrau. »Wahrscheinlich hast du mir nie zugehört, wenn ich dir von den Dingen erzählt habe, die mich interessieren. Ich beschäftige mich seit Jahren mit dem Leben der Lakota-Indianer. Ich weiß, was uns im Pine Ridge erwartet. Rodney ist ein wichtiger Mann im Reservat, ein Hoffnungsträger für sein Volk. Er kann nicht einfach wegziehen und seine Leute im Stich lassen.«

Ich stöhnte leise. Tatsächlich war meine Mutter schon immer von der Idee besessen gewesen, eines Tages dorthin überzusiedeln, wo sie ihre spirituellen Wurzeln vermutete. In unserer Wohnung sah es aus wie in einem Tipi. Überall hingen diverse indianische Gegenstände, die alle irgendeine tiefere Bedeutung hatten. Ich fand das Zeug ja ganz dekorativ, aber interessiert hatte es mich nie. Meine Kumpel dagegen waren jedes Mal hellauf begeistert, wenn sie in unsere Wohnung kamen. Besonders mein Freund Markus interessierte sich für all die Bilder, Holzschnitzereien, Leder-und Perlenarbeiten. Mom musste ihm dann immer etwas über das Leben der Indianer erzählen, was sie auch gerne tat. Sie war der Meinung, in dieser Hinsicht hätten wir Deutschen mächtige Bildungslücken und sowieso vollkommen falsche Vorstellungen.

Bis jetzt hatte ich den ganzen Hokuspokus einfach ignoriert, aber wenn meine Mutter es ernst meinte, dann würde ich das bald nicht mehr können. Dann würde es auf einmal mein Leben sein. Etwas, das ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte.

»Ich komme nicht mit«, sagte ich. »Gewöhne dich an den Gedanken.«

»Du wirst es dort toll finden«, meinte sie, als hätte sie nicht gehört, was ich gerade gesagt hatte.

»Ich bleibe hier«, wiederholte ich mich. »Ich will mit Nina zusammen sein, genau so, wie du mit Rodney zusammen sein willst. Ich werde deinem Glück nicht im Wege stehen, aber du solltest es meinem auch nicht. Ich liebe Nina«, sagte ich und hoffte, meine ungewöhnlich klare Ausdrucksweise würde ihr die Augen öffnen.

Stattdessen sagte sie: »Du weißt doch noch gar nicht, was Liebe ist.«

Mir blieb die Luft weg. Das war ja wohl der Hammer. Ihre Worte hallten in meiner Magengrube wieder. Meine Mom hatte mich nie geschlagen, auch als ich klein war nicht. Aber nun hatte sie mich ungeheuer verletzt. Und verdammt, es tat weh. Wie konnte sie nur so etwas sagen? Sie wollte einen Typen von einem anderen Planeten heiraten und erzählte mir, ich wüsste nicht, was Liebe ist.

Ich stand wortlos auf und ging aus der Küche. Bevor ich die Haustür ins Schloss fallen ließ, rief ich noch: »Warte nicht auf mich, ich komme heute Nacht nicht nach Hause.«

Wie betäubt lief ich durch die Straßen und die Worte meiner Mutter hämmerten in meinem Kopf. »Du weißt doch gar nicht, was Liebe ist.« Und ob ich das wusste. Ich liebte Nina, mit allem was dazugehört. Seit ich sie hatte, interessierte mich kein anderes Mädchen mehr. Ich dachte unaufhörlich an sie und dabei war mir innerlich warm. Wenn sie redete, hörte ich ihr gerne zu, egal, was sie erzählte, und wenn es dabei um irgendwelche Klamotten ging. Mir gefiel ihr Stil. Sie sah immer perfekt aus, was sie auch anhatte. Ich sah Nina gerne an und am liebsten lachte ich mit ihr. Und natürlich wollte ich mit ihr schlafen. Wir hatten in diese Richtung schon einige Versuche unternommen, aber für den letzten Schritt hatte uns der Mut gefehlt. Es funktionierte einfach nicht, wenn jeden Moment die Türklinke heruntergehen konnte und sich draußen jemand darüber wundern würde, warum das Kinderzimmer abgeschlossen ist.

Aber wie auch immer, es war auch so schon aufregend genug und letztendlich hatten wir ja alle Zeit der Welt. Das hatten wir jedenfalls geglaubt. Und nun? Was würde Nina sagen, wenn ich ihr von den Plänen meiner Mutter erzählte? Ob sie einen Rat wusste oder eine rettende Idee hatte?

Vielleicht konnte ich bei ihr bleiben. Nina und ihre Eltern bewohnten ein großes Haus mit Garten am Stadtrand und es gab darin noch mindestens drei leere Zimmer, seit ihre Oma letztes Jahr gestorben war. Vielleicht konnte ich eines davon haben. Oder vielleicht konnte Nina mich im Keller verstecken, bis alles vorbei war.

Aber es würde nie vorbei sein. Nein, da brauchte ich mir keine Illusionen zu machen: Ohne mich würde Mom nicht nach Amerika gehen. Aber gehen würde sie, da kannte ich sie viel zu gut. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, tat sie es auch. Ihre Entschlossenheit war beängstigend und raubte mir die letzte Hoffnung.

Als ich endlich vor Ninas Haustür stand, fühlte ich mich immer noch, als hätte ich einen Schlag mit dem Holzhammer bekommen. Nina öffnete mir und strahlte mich an. Sie trug Jeans mit weitem Schlag und ein kurzes dunkelbraunes T-Shirt, das ihren Bauchnabel frei ließ. Ihre Haare waren frisch gewaschen und noch feucht und dunkel. Der Duft nach Sommerwiese ließ mich aufwachen aus meiner Benommenheit.

»Komm rein!«, sagte sie. »Meine Haare sind noch nass, ich erkälte mich sonst.«

Sie hatte vielleicht Sorgen.

»Stimmt was nicht mit dir?«, fragte sie.

Das war auch etwas, das ich so an ihr mochte. Nina merkte gleich, wenn irgendetwas nicht stimmte. Sie konnte in meinem Gesicht lesen wie in einem Buch. Sie umarmte mich und gab mir einen Kuss. Es war so ein Kuss, der einem die Knie weich werden ließ. Dann nahm sie meine Hand und zog mich hinter sich her ins Wohnzimmer. Ihre Eltern waren übers Wochenende verreist und niemand würde uns stören. Wir setzten uns auf die gemütliche Ledercouch.

»Was ist los mit dir, Olli?«, fragte Nina erneut, während sie meine Hand immer noch hielt.

Am liebsten hätte ich angefangen zu heulen, aber das verkniff ich mir. »Meine Mutter will Rodney heiraten«, brachte ich hervor.

Nina überlegte eine Weile, dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte. »Ach Olli, bist du etwa eifersüchtig? Warum sollte sie nicht wieder heiraten? Deine Mutter ist eine schöne Frau und viel zu jung, um alleine zu bleiben.«

»Du verstehst nicht . . .«, hob ich an, da setzte sich Nina auf meinen Schoß. Ihre feuchten Haare streiften mein Gesicht. Mein Körper reagierte sofort und ich seufzte leise.

»Was verstehe ich nicht?«, flüsterte sie, ihre Lippen dicht an meinem Mund. Sie strich mir das Haar hinter die Ohren, das tat sie immer, bevor sie mich küsste.

Ihr Kuss war ein Sommerwiesenwindstoß, der all die furchtbaren Gedanken aus meinem Hirn pustete. Da war nur noch Nina und ihr warmer Körper, die festen, kleinen Brüste unter ihrem kurzen Hemd. Es hatte Wochen gedauert, bis ich mit meinen Händen zu ihnen vordringen durfte, und jetzt genoss ich dieses Privileg in vollen Zügen. Ich schwebte irgendwo im Raum. In Windeseile waren wir dort, wo wir das letzte Mal aufgehört hatten. Wo hatte ich eigentlich die Kondome gelassen?

Aber dann zog Nina meine Hand unter ihrem T-Shirt hervor, warf ihre Haare über die Schultern und fragte: »Und was wird aus dir, wenn deine Mutter Rodney heiratet?«

Ich stöhnte und sagte: »Aus mir wird Oliver Schlimme Hand und ich werde nachts heulen wie ein Wolf, weil ich vor Sehnsucht nach dir nicht schlafen kann.«

Mit einem Ruck setzte Nina sich auf. Ihre grünen Katzenaugen blickten mich erschrocken an. »Heißt das etwa...?« Sie sprach es nicht aus, aber nun hatte sie endlich begriffen.

»Ja«, erwiderte ich. »Genau das heißt es: Meine Mutter wird zu Rodney nach South Dakota ziehen und ich muss mit.«

»Amerika?«, fragte sie.

»Amerika«, antwortete ich.

Nina zupfte ihr T-Shirt zurecht und zog ihre Jeans wieder an. Ihr Traumkörper verschwand unter den Kleidungsstücken und ich wusste, ich würde Nina nicht haben können. Nun nicht mehr. Ich würde nie wieder solche herrlichen Brüste berühren.

Ein bisschen war es wie sterben.

Ich zog mich auch an, setzte meine Brille wieder auf und dann saßen wir schweigend nebeneinander auf der Couch und starrten auf den Teppich zu unseren Füßen. Die orientalischen Muster verschwammen zu eigenartigen Gebilden, die plötzlich wie Ungeheuer aussahen.

»Ich kann nichts machen, Nina«, sagte ich. »Ich habe nicht mal eine Oma, bei der ich bleiben könnte.«

»Scheiße!«, sagte Nina.

Schimpfwörter passten gar nicht zu ihr, Nina drückte sich immer sehr gepflegt aus. Verwundert sah ich sie an. Sie weinte und die Tränen tropften auf ihre Hände, die auf ihren Knien lagen.

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte sie leise.

Ich zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ich dachte, du hast vielleicht eine Idee.« Sie sah mich mit großen Augen an und ich kam mir unendlich einfallslos vor. »Wir könnten zusammen abhauen«, sagte ich schließlich.

An Ninas Blick erkannte ich, dass sie von meinem Vorschlag wenig begeistert war. Einen besseren hatte sie allerdings auch nicht. Ich glaube, schon damals fing ich an sie zu verlieren.

Lakota Moon

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