Читать книгу Lakota Moon - Antje Babendererde - Страница 8
Оглавление2. Kapitel
Unser Flieger landete kurz vor Mitternacht auf dem Flughafen von Rapid City in South Dakota und Rodney nahm Mom und mich am Gepäckband in Empfang. Irgendwie hatte ich ihn kleiner und schmächtiger in Erinnerung gehabt. Aber jetzt stand er da wie ein aufgerichteter Bär, mit langem, kräftigem Oberkörper und einem breiten Grinsen auf dem dunklen Gesicht.
Er und meine Mutter drückten und küssten sich lange. Ich sah weg, weil ich es kaum ertragen konnte, die beiden so glücklich zu sehen, während ich todmüde und zutiefst deprimiert war. Das wird ihnen schon noch vergehen, dachte ich griesgrämig.
Dann kam Rodney auf mich zu und boxte mich freundschaftlich vor die Schulter. »Hi, Oliver«, sagte er. »Willkommen in South Dakota.«
»Hmm«, antwortete ich.
Rodney übernahm einen der beiden Rollwagen, auf die wir unsere vielen Gepäckstücke verladen hatten, und schob ihn in Richtung Glastür. Meine Mutter lief neben ihm, eine Hand auf seinem Arm. Ich schob den anderen Gepäckwagen hinterher. Rodney trug dunkelblaue Jeanskluft, ein weißes T-Shirt und Cowboystiefel. Sein glänzender Pferdeschwanz war so lang wie seine Arme. Meine Haare waren auch mal lang gewesen. Aber einen Tag vor unserer Abreise war ich zum Frisör gegangen und hatte sie mir abschneiden lassen. Millimeterkurz. Ich sah aus wie ein GI, es fehlte nur noch die Tarnuniform. Es sollte hier nur ja keiner denken, ich hätte was übrig für Indianer und wollte versuchen wie einer auszusehen. Jeder sollte wissen, dass ich mein Leben von nun an in einer Art Verbannung verbrachte. Ich musste drei Jahre lang durchhalten, dann konnte ich wieder heimkehren. Zurück zu meinen Freunden, zurück zu Nina. Drei Jahre und ich würde frei sein.
Es würden drei harte Jahre werden, da machte ich mir nichts vor. In den letzten Wochen hatte ich mich im Internet eingehend darüber informiert, was mich im PineRidge-Indianerreservat erwarten würde. Und was ich herausgefunden hatte, war nicht nur deprimierend, es war bedrohlich. Ich würde die meiste Zeit damit zu tun haben, mich am Leben zu erhalten. Viele Lakota im Reservat waren arbeitslos und hatten nichts zu tun, außer sich jede Woche ihren Scheck von der Wohlfahrt abzuholen. Weil sie das Nichtstun verrückt machte, kauften sie sich Alkohol von ihrem Geld und betranken sich sinnlos. Und wenn sie erst betrunken waren, dann fuhren sie ihre Autos zu Schrott, ballerten mit ihren Jagdgewehren wild in der Gegend herum und waren auf solche wie mich vermutlich nicht gut zu sprechen.
Aber was sollte ich machen? Ich konnte nur versuchen mich so unauffällig wie möglich zu bewegen und die meiste Zeit unsichtbar zu bleiben. Vielleicht schaffte ich es, die nächsten drei Jahre ohne Schaden zu überstehen. Im Nachhinein muss ich allerdings zugeben: Ein Großteil dessen, was mir hier im Reservat passieren konnte, kam mir damals nicht mal in den Sinn.
Aber da waren auch noch ein paar andere Dinge, die mir Sorgen machten. Meine Mutter und ich würden vollkommen von Rodney abhängig sein und niemand wusste, ob er ein großzügiger Mensch war oder ein Geizkragen. Ich nahm mal an, er war nicht so arm, dass wir Gefahr liefen, verhungern zu müssen, sonst hätte meine Mutter sicher nicht eingewilligt bei ihm zu leben. Aber würde ich auch ein ausreichendes Taschengeld bekommen?
Na ja, der silbergraue Van, in dem jetzt unser Gepäck verschwand, sah ja ganz passabel aus. Ich quetschte mich auf die Rückbank neben eine große Kiste und Rodney sagte, dass ich mich anschnallen solle. Ich tat, was er sagte, und kurze Zeit später flogen wir durch die Nacht. Tatsächlich hatte ich das Gefühl, wir würden jeden Moment abheben, so schnell fuhr der Indianer. Vermutlich hielt er nicht das Geringste von Geschwindigkeitsbegrenzungen und ich fragte mich, was er von anderen Regeln hielt.
Aber um diese Zeit waren die Straßen leer, in den nächsten anderthalb Stunden begegneten uns nur zwei oder drei Fahrzeuge. Es war stockdunkel draußen und ich sah nichts als schwarze Nacht, wenn ich aus dem Fenster blickte. Die Dunkelheit hatte die Landschaft völlig ausgelöscht.
Irgendwann drosselte Rodney das Tempo, denn die Fahrbahn wurde holprig und er musste Schlaglöchern ausweichen. Ich ahnte, dass wir uns nun auf Indianerland befanden und bald unser Ziel erreicht haben würden. Wir fuhren aber dann doch noch eine ganze Weile und ich sah im Dunkel vereinzelte Lichter auftauchen, wie verirrte Glühwürmchen. Bis Rodney nach rechts abbog.
Kurz darauf hielten wir vor einem Haus, das einsam auf einer Wiese stand, umgeben von ein paar Bäumen und einigen Sträuchern. Ich löste den Gurt, stieg aus und streckte mich. Durch ein Loch in der Wolkendecke schien auf einmal der Mond. Sein fahles Licht erhellte den Hügel, auf dem Rodneys Haus stand, und ließ die Blätter der Bäume wie Silbertaler aufleuchten. Immerhin, es war keine Hütte, wie ich es befürchtet hatte, sondern ein großes Haus. Es hatte eine eigenwillige Architektur, soweit ich das bei dieser Beleuchtung erkennen konnte. In der Mitte gab es ein oberes Stockwerk mit einem Satteldach und der untere Teil des Hauses hatte Dachflächen, die im gleichen Winkel abfielen. Das sah eigentlich ganz nett aus, aber etwas daran irritierte mich. Das Haus schien nagelneu zu sein und machte einen unfertigen Eindruck. Als ich ein paar Schritte lief, kam neben dem Gebäude ein großer Bretterhaufen zum Vorschein.
Wir zogen auf eine Baustelle, das war der Hammer.
Rodney hantierte mit einer Taschenlampe und schloss die Haustür auf. Er knipste drinnen das Licht an und machte eine einladende Handbewegung. Nichts Gutes ahnend, trat ich ein und fand meine Befürchtungen bestätigt. Auch drinnen war nichts fertig. Überall kahle, ungestrichene Wände, leere Zimmer, manche noch ohne Fußböden. Trotzdem zeigte uns Rodney ganz stolz jeden Raum. Nur die Küche und das Bad waren fertig und benutzbar. Ich konnte mich nicht darüber freuen, so wie meine Mutter es tat. Ich war sauer auf Rodney, weil er ihr und mir zumutete auf einer Baustelle zu leben. Als ob alles andere nicht schon genug wäre.
Was sollte das werden? Dachte er etwa, er hätte jetzt in mir und Mom billige Arbeitskräfte? Da hatte er sich gehörig verrechnet. Keinen Handgriff würde ich tun, nicht einen. Das ging mich alles nichts an, ich wollte überhaupt nicht hier sein.
»Ich bin müde«, brummte ich.
»Rede englisch!«, sagte meine Mutter. »Gewöhne dich daran, auch mit mir englisch zu reden. Auf diese Weise lerne ich es am schnellsten.«
Die Sprache war bei all dem, was mich hier erwartete, das kleinste meiner Probleme. Ich war bisher auf ein neusprachliches Gymnasium gegangen und hatte immer eine Eins in Englisch gehabt. In den letzten Wochen hatte meine Mutter mich ständig als Wörterbuch benutzt, weil sie einen riesigen Haufen Papierkram zu erledigen hatte, bevor wir auswandern konnten.
Ich schwieg trotzig, aber Rodney schien mich auch so verstanden zu haben. »Hilfst du mir noch ausladen, Oliver? Dann zeige ich dir dein Zimmer.«
Wir luden Kisten, Koffer und Reisetaschen aus dem Van und brachten sie ins Haus. Dann nickte Rodney und machte eine Handbewegung, dass ich ihm die Treppe hinauf folgen sollte. Ich schnappte meine beiden Taschen, und als er sah, wie ich mich abschleppte, nahm er mir eine ab und trug sie nach oben.
Der obere Flur sah auch nicht besser aus als der untere, aber als Rodney die Tür zu einem großen Zimmer am Ende des Ganges öffnete und das Licht anschaltete, da verschlug es mir für einen Augenblick die Sprache. Ich war dabei, den gemütlichsten Raum des ganzen Hauses zu betreten.
»Das ist dein Zimmer, Oliver«, sagte Rodney und lachte breit, als er mein Staunen bemerkte.
Die schräge Decke war mit hellem Holz verkleidet, die Wände in einem warmen Rot-Ton gestrichen. Ein halbhohes Regal aus dicken Holzbohlen nahm eine ganze Wand ein, an der anderen stand ein Kleiderschrank. Ich hatte einen eigenen kleinen Fernseher und unter dem Fenster stand ein großer, ebenfalls selbst gezimmerter Schreibtisch. Passend dazu das Bett, an einer Wand, die mit einem bunten Webteppich bespannt war. Über dem Bett hing ein Traumfänger, so ein rundes Ding mit nachgebildeten Spinnweben und Perlen in der Mitte.
Meine Mutter hatte mir mal erklärt, was so ein Traumfänger bedeutet. Der lederumwickelte Ring aus Weiden-holz symbolisiert den Kreis des Lebens. Das Netz, gewebt von der Perlenspinne, fängt die guten Träume auf und über die Federn werden sie in den Kopf des Träumers geleitet. Die schlechten Träume fallen durch das Loch in der Mitte. Natürlich glaubte ich nicht an solche Sachen, ich war da mehr der bodenständige Typ. Außerdem fragte ich mich, welche Überlegungen Rodney dazu veranlasst haben könnten, mir einen Traumfänger übers Bett zu hängen. Rechnete er etwa damit, dass ich Alpträume haben würde? Verdammt, auch diesen Gefallen würde ich ihm nicht tun.
»Ich habe alles selbst gebaut«, sagte er stolz. »Und beinahe hätte ich es nicht geschafft. Du kannst dir das Zimmer natürlich so gestalten, wie du es willst. Deine Mutter hat gesagt, du magst Rot. Es ist eine machtvolle Farbe.«
Ich brachte nur ein krächzendes »Danke« hervor.
Rodney zeigte mir dann noch ein kleines Badezimmer mit einer Dusche, das ich für mich alleine haben würde. Dann wünschte er mir eine gute Nacht und ging wieder nach unten.
Ich war zwar müde, aber schlafen konnte ich nicht, dafür war ich viel zu aufgekratzt. Dieses Zimmer war ganz in Ordnung. Nichts Besonderes eigentlich, aber im Gegensatz zu den übrigen Räumen ein richtiges Paradies. Es hatte keine feuchte Ecke wie mein Zimmer zu Hause und es gehörte mir. Das Wichtigste war: Ich konnte es abschließen. Mit diesem Zimmer hatte Rodney mich wirklich überrascht. Nach dem, was ich über die Lakota gelesen hatte, war ich davon ausgegangen, dass alle Indianer arm waren und in baufälligen Hütten hausten.
Mom musste von dem neuen Haus gewusst haben, hatte mir jedoch nichts erzählt. Ich knipste das Licht aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Die Matratze war okay und das Bettzeug schien neu zu sein, jedenfalls roch es so. Rodney wusste wahrscheinlich nicht, dass man neue Bettwäsche erst einmal in die Waschmaschine steckt, bevor man sie benutzt, aber das konnte man von einer Rothaut wohl nicht erwarten.
Doch auch wenn ich froh war über all diese Dinge, die mir das Leben hier erträglich machen sollten, würde ich mich nicht so einfach kaufen lassen. Rodney war schuld, dass ich jetzt hier sein musste, herausgerissen aus meinem schönen Leben, mit Problemen, die mir auf einmal winzig klein erschienen. Hier würde ich andere haben. Schwerwiegendere. Kaum auszudenken, was in der nächsten Zeit alles auf mich zukommen würde. Vor allem in zwei Monaten, Anfang September, wenn aus mir ein Senior der Little Wound High-School in Kyle werden würde. Mir wurde schon übel, wenn ich nur daran dachte.
Ich stand noch einmal auf, weil ich pinkeln musste, und als ich aus dem Bad kam, hörte ich Rodney und meine Mutter unten in der Küche sitzen und reden. Rodneys Stimme war tief und klang heiser. Er nannte meine Mutter »Susan« und »Darling«. Auch etwas, an das ich mich erst gewöhnen musste. Es hörte sich seltsam an, als wäre sie gar nicht meine Mutter, sondern eine fremde Frau. Und irgendwie war sie das auf einmal auch.
Noch war Mom zwar nicht mit Rodney verheiratet, aber ich wusste, die Hochzeit würde die erste schwierige Hürde werden, die ich hier zu meistern hatte.
Ich konnte nicht gut verstehen, was die beiden da unten redeten, also ging ich wieder ins Zimmer zurück und kroch in mein Bett. Ich löschte das Licht und lauschte auf das leise Zirpen der Grillen, dem einzigen Geräusch der Nacht. Diese Stille war ich nicht gewohnt. Mein Zimmer zu Hause hatte an einer viel befahrenen Straße gelegen, auf der eine Straßenbahnlinie entlangführte. Es war nie still gewesen, auch nachts nicht. Ich hatte mich an das Quietschen der Straßenbahn gewöhnt und nun würde ich mich an die Stille gewöhnen müssen.
Während ich noch darüber nachdachte, was ich verloren hatte und was mich hier erwarten würde, war ich auch schon eingeschlafen. Ich träumte von Nina, aber da wusste ich natürlich nicht, dass ich nur träumte. Die Sonne schien warm und wir liefen Arm in Arm über eine grüne Wiese. Ich machte mir keine Gedanken, wo diese Wiese war, Hauptsache, Nina war bei mir. Sie küsste mich und ich hörte die Glocken läuten. Aber dieses selige Bimbam wandelte sich plötzlich in Geheule, das mich an Kriegsgeschrei aus Indianerfilmen erinnerte. Ich öffnete meine Augen und blinzelte über Ninas Schulter. Da kamen sie auch schon auf ihren Pferden, bunt gekleidet, mit Kriegsbemalung im Gesicht, die Tomahawks über dem Kopf schwingend.
Weit und breit war kein Baum, kein Strauch, hinter dem wir uns verstecken konnten. Die Rothäute kreisten uns ein, ihr Geheul wurde immer wilder und drohender und der Kreis um uns immer enger. Ich machte mir vor Angst bald in die Hosen. Nina presste sich an mich und ich wusste: Sie erwartete von mir, dass ich etwas unternahm.
Auf einmal streckte der Wildeste von allen, ein Krieger mit schwarzen Augen und einem siegessicheren Grinsen im bemalten Gesicht, seinen muskelbepackten Arm nach Nina aus, entriss sie mir und hob sie zu sich aufs Pferd.
»Neiiiin«, schrie ich und schreckte schweißgebadet aus meinem Traum.
Ich war wach, saß in meinem Bett, aber das Geheule hörte nicht auf. War ich jetzt verrückt geworden? Waren sie tatsächlich da draußen unterwegs? Der Traumfänger hing zwar über meinem Bett, aber gewirkt hatte er nicht.
Ich stand auf und ging zum Fenster. Draußen heulte es inbrünstig und vielstimmig. Wölfe, dachte ich. Mom hatte nicht mit einer Silbe erwähnt, dass es im Reservat Wölfe gab. Ich ahnte, dass sie mir überhaupt eine Menge verschwiegen hatte. Mit einem unbehaglichen Gefühl legte ich mich wieder ins Bett und wartete auf den Morgen.
Ein leises Klopfen weckte mich aus dem Schlaf. Ich schreckte hoch und zuerst wusste ich nicht, wo ich überhaupt war. Dann stand meine Mutter im Zimmer. Der Stoff ihrer roten Bluse leuchtete mich an wie ein Warnsignal. »Was ist los?«, fragte ich erschrocken.
»Es ist schon Mittag«, sagte sie und lächelte. »Ich habe uns was zu essen gemacht.«
Ich ließ mich aufs Kissen zurückfallen und stöhnte. Die Sonne schien hell in mein Zimmer und durch das große, offene Fenster kam warme Luft herein. Meine Mutter sah sich um und sagte: »Du hast ein schönes Zimmer, Olli. Rodney hat in den letzten Tagen nichts anderes getan, als es für dich herzurichten.«
Anstatt ihr zu sagen, wie froh ich über das Zimmer war und dass ich sogar einen winzigen Funken Dankbarkeit gegenüber Rodney empfand, fragte ich: »Warum müssen wir auf einer Baustelle wohnen? Warum konntet ihr nicht wenigstens warten, bis das Haus fertig ist?«
Meine Mutter setzte sich zu mir aufs Bett und streckte die Hand nach meinem Kopf aus, aber ich zog ihn weg.
»Weil das noch lange dauern wird«, erwiderte sie schließlich. »Rodney arbeitet hart, aber er ist auch viel unterwegs und manchmal sind andere Dinge wichtiger. Nach und nach werden wir das Haus fertig bauen und es gemütlich einrichten. Mach dir da mal keine Sorgen.« Sie stand auf und ging zum Fenster. »Hast du schon mal rausgesehen?«, fragte sie. »Es ist wunderschön hier.«
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass es im Reservat Wölfe gibt?«, brummte ich verdrießlich.
»Wölfe?« Mom sah mich stirnrunzelnd an.
»Hast du sie nicht gehört – in der Nacht?«
Auf einmal lachte meine Mutter. »Das waren Kojoten, Olli, keine Wölfe. Hier gibt es keine Wölfe, Kojoten dafür eine ganze Menge.«
»Worin liegt der Unterschied?«
»Da fragst du am besten Rodney, Schatz.«
Ich konnte es nicht leiden, wenn sie Schatz zu mir sagte, und schwieg. Schließlich ging sie. Ein bisschen tat sie mir Leid, weil sie es so schwer hatte mit mir, aber sie machte es mir auch nicht gerade leicht. Sie hatte meine ganze Lebensplanung über den Haufen geworfen und erwartete nun auch noch von mir, dass ich hier alles toll fand. Aber das war nicht der Fall, nicht mal annähernd. Ich sehnte mich jetzt schon zurück nach Hause, obwohl ich noch keinen einzigen Tag im Reservat verbracht hatte.
Es nützte nichts. Ich musste aufstehen, denn meine Lage würde sich nicht ändern, nur weil ich versuchte sie zu ignorieren. Ich tappte zum Fenster und sah hinaus. Die Sonne blendete mich und ich musste die Hand über die Augen halten, damit ich etwas sehen konnte.
Rodneys Haus stand auf einer kleinen Anhöhe und war umgeben von mehreren Hügeln, die mit Sträuchern und Kieferngruppen bestanden waren. Mit Sicherheit hatte es wochenlang nicht geregnet, denn das Gras war gelb bis zum Horizont. Alles sah vertrocknet aus, wie tot.
Einige Schritte entfernt vom Haus, sah ich ein längliches rotes Gebäude mit hellem Blechdach und großem Tor. Das war vermutlich die Scheune, denn Rodney züchtete Pferde, so viel wusste ich zumindest schon. Und dann sah ich sie auch, die Tiere, ein Stück weiter unten in einem kleinen Tal, wo ein paar grüne Büsche wuchsen und sie Wasser und Schatten fanden.
Was ich weit und breit nicht finden konnte, war ein anderes Haus, obwohl ich gestern Nacht Lichter gesehen hatte, bevor wir abgebogen waren. Sollten wir tatsächlich völlig allein hier draußen wohnen? Meine Mutter war zwar nicht von der ängstlichen Sorte, aber diese Einsamkeit war eine Herausforderung. Für uns beide. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand. War die nächste Ortschaft 10, 20 oder 50 Meilen entfernt? Wo lag der Ort Kyle und wie kam ich dorthin, wenn ich im September zur Schule gehen musste?
Zu Rodney Bad Hands Haus führte nur ein Feldweg. Was würde im Winter werden, wenn Schnee lag und Stürme tobten? Wo war das nächste Krankenhaus, wenn ich plötzlich eine Blinddarmentzündung bekommen sollte? Auf einmal wurde mir ganz schlecht bei all den vielen Fragen, deren Antworten sich so direkt auf mein Leben auswirken würden. Ich merkte, dass es eine Menge Dinge gab, über die ich mir bisher nie Gedanken gemacht hatte. Vieles war selbstverständlich für mich gewesen und jetzt war es das auf einmal nicht mehr. Ich war wütend, aber da war auch noch etwas anderes, das mich plötzlich beherrschte: Ich hatte Angst. Angst davor, dass Dinge mit mir geschehen würden, die ich nicht voraussehen und die ich nicht beeinflussen konnte.
Ganz plötzlich überfiel mich heftige Sehnsucht nach Nina. Der Gedanke an sie trieb mir Tränen in die Augen und ich bekam Bauchschmerzen. Mit Nina hätte ich über alles reden können. Sie hätte mich verstanden und mit ihrer Hilfe hätte ich vielleicht eine Richtung gefunden, in die ich gehen konnte. Aber Nina war immer noch in Frankreich mit ihren Eltern und ich konnte sie nicht einmal anrufen. Mir würde nichts anderes übrig bleiben, als ihr einen langen Klagebrief zu schreiben.
Der Abschied von Nina war schrecklich gewesen. Wir hatten einander gegenübergestanden wie Fremde. Keine Ahnung, wieso. Es war unser letzter Abend und in Ninas Zimmer stand ihre Reisetasche, fertig zur Abfahrt. Ihr Vater wollte nachts fahren, denn der Weg war weit bis ans Mittelmeer und die Hitze tagsüber unerträglich. Dabei hatten sie doch eine Klimaanlage in ihrem nagelneuen BMW.
Nina fuhr nach Frankreich und der Flieger, der meine Mutter und mich nach Amerika bringen sollte, ging zwei Wochen später. Nina und ich, wir würden beide auf eine Reise gehen. Mit dem Unterschied, dass sie wiederkommen würde und ich nicht. Jedenfalls für eine sehr lange Zeit nicht.
»Ich vermisse dich jetzt schon«, hatte ich gesagt. Nina war in Tränen ausgebrochen.
Am Ende hatte ich ihr einen langen, verzweifelten Kuss gegeben und war wortlos gegangen.
Die Erinnerung an diesen Abschied schmerzte, als würde jemand mein Inneres mit Sandpapier bearbeiten. Ich war innen wund und es tat verflucht weh. Es war ein tiefer, pochender Schmerz, der vielleicht niemals aufhören würde. Seit Nina und ich zusammen waren, hatte es keinen Tag gegeben, an dem wir uns nicht gesehen hatten. Und nun musste ich schon 16 Tage ohne sie auskommen. Von den Wochen und Monaten, die vor mir lagen, ganz zu schweigen.
Ich ging duschen und zog meine alte Jeans und ein frisches T-Shirt an. Nachdem ich einen Blick in den kleinen Raum auf der anderen Seite des Flures geworfen hatte, der vollkommen leer war und noch keinen Fußboden hatte, tappte ich missmutig nach unten. Rodney saß in der Küche an einem großen hellen Holztisch und blätterte in seinem Terminkalender. Als ich kam, tat meine Mutter das Essen auf. Spaghetti mit Tomatensoße. Wahrscheinlich hatte Rodney nichts anderes im Haus.
»Morgen«, brummelte ich und Rodney lachte mir freundlich zu. Langsam ging mir sein Grinsen mächtig auf die Nerven. Als ob sich was ändern würde, wenn er mich nur lange genug anlachte. Auf jeden Fall hatte ich keinen Appetit und stocherte lustlos in den Nudeln auf meinem Teller herum.
»Hast du keinen Hunger?«, fragte meine Mutter.
Nicht auf Spaghetti, wollte ich sagen, aber ich schüttelte nur den Kopf. Rodney redete was von Jetlag und dass ich spätestens morgen wieder normalen Appetit haben würde. Tja, dachte ich, vielleicht hat er Recht, aber was, wenn nichts da ist, worauf ich Appetit habe. Mann, war ich vielleicht beschissen dran. Ich sollte von nun an hier zu Hause sein, würde aber garantiert ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn ich auch nur die Kühlschranktür öffnete.
»Magst du Toast?«, fragte Rodney. »Oder vielleicht Cornflakes?«
Ich nickte überrascht. Konnte er etwa Gedanken lesen? Ich sah ihn an und zum ersten Mal sah ich ihn wirklich. Er hatte eine große Nase und narbige Wangen. Seine Augen waren dunkelbraun, fast schwarz und ich wette, das gefiel Mom. Die langen schwarzen Haare auch. Rodney war schon 44, also fast zehn Jahre älter als meine Mutter, hatte aber noch kein einziges graues Haar auf dem Kopf. Zugegeben, er war eine beeindruckende Erscheinung und vermutlich genau das, wonach meine Mom immer Ausschau gehalten hatte. Der Mann ihrer Träume sozusagen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie einander begegneten, hatte schätzungsweise eins zu einer Million gestanden. Aber es war passiert. Das Schicksal hatte die beiden zusammengeführt und mir einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Rodney war mit einer kleinen Delegation Lakota-Indianer nach Deutschland gekommen, um sich über die Möglichkeiten der Verarbeitung von Nutzhanf zu informieren. Dabei war er ausgerechnet in dem ökologischen Baustoffbetrieb gelandet, in dem Mom damals arbeitete. Zwischen den beiden hatte es sofort gefunkt. Meine Mutter hatte ihn einmal mit nach Hause gebracht und für ihn gekocht. Ich hatte das als nette Geste gesehen und nicht als Bedrohung für mein zukünftiges Leben.
Rodney stand auf, öffnete sämtliche Küchenschränke, die hell und neu waren, und zeigte mir, wo sich was befand. Es war eine Menge da, auch der Kühlschrank war gut gefüllt. »Du kannst dir natürlich alles nehmen, Oliver, du bist jetzt hier zu Hause«, sagte er. »Wenn du was aufbrauchst, dann schreib es auf einen Zettel. Damit der, der einkaufen fährt, Bescheid weiß. Okay?«
»Okay«, sagte ich und füllte mir eine Schüssel mit Cornflakes. Meine Mutter sah mich mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an. Vielleicht dachte sie, dass ich krank war, denn Cornflakes hatte ich das letzte Mal zu mir genommen, als mein Vater noch bei uns lebte. Aber was sollte ich machen, mir war nun mal danach.
Als Rodney mit seinen Spaghetti fertig war, wandte er sich an mich und sagte: »Ich habe ein paar Dinge zu erledigen und würde gern Susan und dir dabei ein Stück vom Reservat zeigen. Wie sieht’s aus, Kumpel, hast du Lust?«
Ich war nicht sein Kumpel und nach berauschenden Abenteuern klang das auch nicht. Aber wenn ich allein hier blieb, würde es noch langweiliger werden. Vielleicht verschaffte mir die Fahrt eine Vorstellung davon, wo ich hingeraten war. Ich nickte also.
»Hoka hey«, Rodney schlug mit beiden Handflächen auf die Tischplatte. »Auf geht’s!«
Ich half meiner Mutter das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen. Dass Rodney eine Spülmaschine hatte, fand ich ganz okay. Zu Hause war ich nämlich oft mit dem Abwasch dran gewesen. Außerdem fand ich es beruhigend, zu wissen, dass Rodney ein fortschrittlicher Indianer war. Hätte ja auch sein können, er stand auf Traditionen und all diesen Kram und wir hätten jeden Tag das Wasser aus einem Brunnen heranschleppen müssen. Nein, ich war froh, dass es dieses Haus gab, obwohl es noch nicht fertig war. Und die Spülmaschine war auch okay. Aber das war dann auch schon alles. Der Rest war einfach vollkommen daneben.